Vor über einem Jahr soll Stefan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke niedergestreckt haben. Ab heute wird ihm der Prozess gemacht. Ob er Licht ins Dunkel bringt, bleibt zweifelhaft. Denn viele offene Fragen und Kuriositäten drehen sich noch immer um diesen Fall. Beispielsweise, welche Rolle der Verfassungsschützer Andreas Temme spielte.

    Im Zusammenhang mit als rechtsextrem eingestuften Morden taucht immer wieder dieser Name auf. Bei den NSU-Ermittlungen geriet er gar selbst unter Verdacht. Alles nur Zufälle? In dem Auszug aus COMPACT-Spezial „Tiefer Staat. Geheimdienste und Verfassungsschutz gegen die Demokratie“ wurde dieser Frage Nachdruck verliehen.

    _ von Mario Alexander Müller

    Wolfshagen-Istha, 2. Juni 2019: Auf der Terrasse seines Hauses, das an Felder und Wiesen grenzt, zündet sich Walter Lübcke eine Zigarette an. Der Kasseler Regierungspräsident ahnt nicht, dass er aus dem Dunkeln beobachtet wird – es wird die letzte Zigarette seines Lebens sein. Keine 200 Meter entfernt wird auf dem Dorfplatz, unter dem großen Maibaum, ausgelassen Kirmes gefeiert. Durch die laue Sommernacht klingt Gelächter herüber. Dann fällt der tödliche Schuss.

    Bald schon ist ein Verdächtiger ausgemacht: Stephan Ernst, Ehemann, Familienvater, nun mutmaßlicher Mörder. Sein Strafregister ist lang, früher war er in der rechtsextremen Szene aktiv, bis er sich 2009 zunehmend ins Privatleben zurückzog. «Ein Familienmensch», sagen alte Weggefährten. Aus nächster Nähe soll der 45-Jährige Walter Lübcke getötet haben, angeblich aus Ärger über dessen provokative Aussagen zur Asylpolitik. 2015 hatte der CDU-Politiker bei einer Bürgerversammlung im nahe gelegenen Lohfelden um Unterstützung für 400 neu untergebrachte Migranten geworben und dabei an die christliche Nächstenliebe appelliert. Wer «diese Werte» nicht teile, könne «dieses Land jederzeit verlassen», so der Unionsmann an die Adresse der Bürger. Die buhten ihn aus. Ernst soll damals in der aufgebrachten Menge gewesen sein.

     Spuren in die Vergangenheit

     Knapp vier Jahre später liegt Lübcke tot auf der Terrasse, neben seinem Kopf eine Blutlache. Eine Hautschuppe führt zur Verhaftung des mutmaßlichen Mörders. Der schweigt zunächst, gesteht dann alles und führt die Ermittler zur Tatwaffe. Kurz darauf widerruft er sein Geständnis. Schnell sind sich Medien und Politik einig: Ein Fall von Rechtsterrorismus, der an den NSU-Komplex erinnere. Doch es bleiben Fragen: Wieso tötet jemand so eiskalt einen Lokalpolitiker, der kurz vor der Pensionierung stand, wegen vier Jahre alter Aussagen zur Flüchtlingspolitik? Warum hat der als erstes herbeigeeilte Sanitäter – ein gebürtiger Bosnier und Bekannter der Familie, der zunächst unter Tatverdacht geriet – die Blutspuren vor dem Eintreffen der Polizei mit ätzendem Felgenreiniger beseitigt? Und vor allem: Was hat es damit auf sich, dass der Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme, der schon im NSU-Fall eine dubiose Rolle spielte, zuletzt für Lübckes Regierungspräsidium arbeitete?

    Geheimdienste und Verfassungsschutz gegen die Demokratie Diese Spezialausgabe von COMPACT legt sich mit der gefährlichsten Macht in unserem Land an: dem Tiefen Staat, der Hintergrundstruktur aus Geheimdiensten und Verfassungsschutz. Mit dem Sturz von Hans-Georg Maaßen als VS-Präsident hat der Tiefe Staat gezeigt, dass es den Sicherheitsstrukturen nicht mehr um den Schutz unserer freiheitlichen Grundordnung etwa gegenüber dem Islam geht. Vielmehr gilt: Der Feind steht rechts – was immer das heißen mag. Jetzt werden die AfD und andere patriotischen Kräfte gejagt. Wer ein kluges Wort sagt, gerät ins Visier des Tiefen Staates: Er wird beobachtet, denunziert, sozial geächtet, denunziert, angeklagt, verurteilt, verhaftet, weggesperrt.

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    Tatsächlich scheint es eine Verbindung zwischen dem Fall Lübcke und zumindest einer dem NSU zugerechneten Bluttat zu geben: Der regelrechten Hinrichtung von Halit Yozgat, neuntes und letztes Opfer der Ceska-Mordserie, der 2006 in einem Kasseler Internetcafé starb. Diese Verbindung läuft über den ehemaligen Verfassungsschutzagenten Andreas Temme aus dem hessischen Hofgeismar. Denn wie kurz nach dem Mord an Walter Lübcke bekannt wird, ist der Beamte im Regierungspräsidium Kassel tätig – und kannte dessen Leiter so gut, dass er der Bild-Zeitung über das Opfer sagte: «Ich hätte mir keinen besseren Chef vorstellen können.» Stephan Ernst will er nicht gekannt haben. Doch nur wenige Monate nach dem Mord rüttelt eine brisante Information den Innenausschuss des Hessischen Landtags auf: Entgegen bisheriger Aussagen war der frühere Geheimdienstmitarbeiter mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder «dienstlich befasst», wie der Innenminister des Landes, Peter Beuth (CDU), im Oktober 2019 einräumen musste. 

    Im Dunkeln blieb dabei, inwiefern der langjährige V-Mann-Führer Temme mit Ernst beruflich zu tun hatte – und ob auch ein persönlicher Kontakt bestand. Fest steht bisher nur, dass sein Name als Bearbeiter auf mindestens zwei Berichten über Ernst aus dem Jahr 2000 auftaucht. Der Ex-Agent selbst hatte bislang immer bestritten, Stephan Ernst überhaupt zu kennen – nun war klar, dass er gelogen hatte.

     Erotik-Chat im Internetcafé

    Doch wer ist Andreas Temme? Der frühere V-Mann-Führer hatte sich 2006 verdächtig gemacht, als er noch beim Inlandsgeheimdienst arbeitete. «Hat ein Verfassungsschützer einen der NSU-Morde begangen?», untertitelte Die Zeit am 5. Juli 2012 eine Recherche über den Tod von Halit Yozgat. «Wenn die Zeit-Autoren Recht haben, wenn nicht Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Mörder Halit Yozgats sind, sondern Andreas Temme, dann müsste die Geschichte des NSU ganz neu geschrieben werden», schlussfolgerte die linke Tageszeitung Junge Welt.

    Fest steht: Temme war an jenem 6. April 2006 am Tatort gewesen – strittig ist nur, ob er das Internetcafé ein paar Sekunden, maximal zwei Minuten, vor den Schüssen verlassen hat oder zu diesem Zeitpunkt noch da war. Dass er überhaupt vor Ort war, hatte sich erst durch polizeiliche Ermittlungen ergeben; Temme selbst hatte sich den Ermittlern nicht mitgeteilt. Im Verhör behauptete er, er habe – womöglich, während Yozgat im durch eine offene Tür verbundenen Nebenraum erschossen wurde – auf einem Erotik-Portal geflirtet. Der Ex-Geheimdienstler will weder die Schüsse noch das sterbende Opfer wahrgenommen haben. Der Verdacht gegen den Beamten schien sich weiter zu erhärten, als sich herausstellte, dass er auch mit weiteren NSU-Bluttaten in Verbindung stehen könnte. «Nach Bild-Informationen ergab ein Bewegungsprofil der Polizei: Der Agent war bei sechs der neun Morde in der Nähe des Tatortes», meldete das Boulevardblatt Mitte November 2011.

    Schon im April 2006 wurde gegen Temme ermittelt und mit der Überwachung seines Telefons begonnen. Am 9. Mai 2006, gut einen Monat nach dem Yozgat-Mord, wurde aufgezeichnet, was der Geheimschutzbeauftragte des Landesamts für Verfassungsschutz, der damalige Regierungsdirektor Gerold-Hasso Hess, zu Temme sagte: «Wenn ich weiß, dass irgendwo so was passiert, bitte nicht vorbeifahren.» Der reagierte darauf nicht etwa mit Empörung («Woher hätte ich denn wissen sollen, dass dort etwas passiert?»), sondern nur mit einem «Hm». Und was vielleicht noch interessanter ist: Der Satz von Hess war ursprünglich nicht in den Lauschabschriften enthalten, die die Polizei angefertigt hatte. Erst als die Opferanwälte Alexander Kienzle und Thomas Bliwier die Bänder nochmals bei der Polizei abhörten, flog der Skandal auf. Als der mittlerweile pensionierte Hess am 11. Mai 2015 vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags Rede und Antwort stehen musste, versuchte er, sich herauszureden: Der fragliche Satz sei «ironisch gemeint» gewesen. Allerdings war selbst der CDU-Obmann Holger Bellino zeitweise konsterniert und sprach von der «ungeheuerlichen Vermutung, der hessische Verfassungsschutz habe von dem geplanten Mord an Halit Yozgat gewusst und die Täter gedeckt».

     

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