Auf den Tag genau vor 80 Jahren stellte Konrad Zuse der Welt den ersten Computer vor. Was viele nicht wissen: Der Berliner Ingenieur veröffentlichte auch philosophische Schriften, die auf technisch-naturwissenschaftlicher Basis eine Weltsicht vermitteln, die sich später in Filmen wie Matrix wiederfand. Dieser Beitrag erschien zuerst in COMPACT 08/2020. Die großen Meilensteine unserer Geschichte beleuchtet unsere Sonderausgabe Schicksalstage der Deutschen: Von Karl dem Großen bis zum Fall der Mauer. Hier mehr erfahren.

    Man sieht einen weiten, grenzenlosen Raum, in dem Farben und Linien zu verschwimmen scheinen. Überall sind gleichmäßig Knotenpunkte eines Rasters verteilt, dazwischen zucken rote Informationsblitze. Sie transportieren Daten kreuz und quer durch die unendlich wirkenden Weiten, unaufhörlich, ruhelos. Der Blick geht von oben herab in die Tiefe, auch dort leuchtet alles hell, ist alles in Bewegung. Das System, das man hier vor Augen hat, produziert eine endlose Rechnung, es hält die Welt am Laufen. Die Realität, derer wir gewahr werden, ist letztendlich eine virtuelle.

    Zuse arbeitete daheim in seiner Erfinderwerkstatt am Z3.

    Was nach einer Szene aus dem Science-Fiction-Film Tron oder einem Video von Kraftwerk klingt, ist in Wirklichkeit ein Ölgemälde mit dem vielsagenden Titel Rechnender Raum. Dessen Schöpfer ist heute allerdings nicht unbedingt als Künstler bekannt, sondern vor allem als Vater des Computers. Den ersten funktionsfähigen digitalen Rechner dieser Art, den Z3, stellte er vor genau 80 Jahren, am 12. Mai 1941, in Berlin vor. Sein Bild Rechnender Raum entstand 1967 – und illustrierte seine philosophische Idee von der Wirklichkeit.

    Genialer Tüftler

    Zuse arbeitete anfangs nicht im Bereich der Elektronik, sondern in der Luftfahrt. Die Malerei war eine seiner frühen Leidenschaften – inspiriert wurde er dabei hauptsächlich vom italienischen Futurismus. Außerdem war er zeitweise als Reklamezeichner tätig. Seine Bilder verkaufte er, um sein Studium zu finanzieren, das er 1935 in Berlin mit Diplom abschloss. Danach kam er als Statiker bei den Henschel-Flugzeugwerken in Schönefeld unter. Nach Dienstschluss tüftelte er daheim in seiner Erfinderwerkstatt.

    Der Erfinder des ersten Computers war ein Deutscher: Konrad Zuse (1910–1995). Foto: picture-alliance / dpa | DB

    An seinem Broterwerb störte ihm vor allem eines: Er musste immer und immer wieder ein und dieselben Rechnungen durchführen. Konnte dies nicht auch eine Maschine erledigen?

    Wie der britische Mathematiker Charles Babbage (1791–1871), der Erfinder der sogenannten Analytical Engine, dachte Zuse dabei zunächst an ein mechanisches Gerät, doch das erwies sich schon bald als unpraktikabel. Der Z1, den er 1938 fertigstellen konnte, las die Programme von gelochten Kinofilmstreifen ab, arbeitete aber unzuverlässig und hakte oft. Erst die Verbindung von Elektronik und Mechanik führte zum Erfolg: 1941 realisierte er, inzwischen selbständig, mit dem Z3 seine bekannteste Erfindung.

    Im Gegensatz zu heutigen Computern stellte der Z3 fundamentale Logikfunktionen nicht mithilfe von Widerständen dar, sondern per elektrisch steuerbaren Schaltern. Durch diese Art der Konstruktion war er zwar langsamer als der 1942 im Auftrag des US-Militärs entwickelte ENIAC, aber weitaus leichter zu bedienen.

    Zuses Rechner erfüllte als Erster das Merkmal der Turing-Vollständigkeit. Dieser liegt das hypothetische Modell einer sogenannten Turingmaschine (benannt nach dem britischen Logiker Alan Turing) zugrunde: Eine fiktive Apparatur, die ein Band nach links und rechts bewegen, die aktuelle Stelle auslesen und in Abhängigkeit vom Inhalt Programmcodes ausführen und das Band neu beschreiben kann. Somit war der Z3 in der Lage, jede mathematische Funktion zu berechnen.

    Während der ENIAC zum Neuprogrammieren jedes Mal auseinander- und wieder zusammengebaut werden musste, besaß Zuses Rechner – wie heutige Computer – einen Befehls- und Datenspeicher sowie ein Rechenwerk. Mit Plankalkül hatte sein Erfinder dazu eigens eine Programmiersprache entwickelt. Der Z3 nahm damit vieles vorweg, was erst mit dem 1946 fertiggestellten EDVAC, dem Nachfolger des ENIAC, Standard werden sollte.

    Im letzten Kriegsmonat 1945 verschlug es Zuse zunächst ins Allgäu. Im beschaulichen Hopferau entwickelte er den Z3 zum Z4 weiter. 1948 konnte er seinen neuen Rechner erstmals in Betrieb nehmen und damit die Milchgeldrechnungen der örtlichen Sennerei Lehern erstellen. Deren Inhaber wollte zunächst nicht glauben, dass der Ingenieur aus Berlin mit seiner Apparatur die Milchpreise schneller berechnen könne als seine eigenen Fachleute.

    Das Matrix-Paradoxon: Können Kugeln in einer imaginären Welt reale Menschen töten? Foto: Warner Bros.

    Ein Jahr später gründete der Erfinder in Neukirchen bei Fulda die Zuse KG und vertrieb seine Computer in Zusammenarbeit mit Heinz Nixdorf. Das Unternehmen wurde 1964 von der Schweizer Firma Brown Boveri & Cie. übernommen, 1971 sicherte sich Siemens 70 Prozent der Anteile. Zuse hatte sich inzwischen aus der Firma zurückgezogen, widmete sich wieder der Malerei – und entwickelte überaus bemerkenswerte philosophische Ideen auf naturwissenschaftlicher Basis, die die Welt, wie sie uns als Gewissheit erscheint, radikal infrage stellt.

    Universale Turingmaschine

    Im Jahr 1970 veröffentlichte er ein Buch, das den gleichen Namen trägt wie sein eingangs erwähntes Gemälde: Rechnender Raum. «Es geschah bei dem Gedanken der Kausalität, dass mir plötzlich der Gedanke auftauchte, den Kosmos als eine gigantische Rechenmaschine aufzufassen», so Zuse.

    Seine These: Die materielle Welt, wie sie sich uns offenbart, ist nicht real, sondern eine Simulation, die mit einer gigantischen Rechenmaschine erzeugt wird. Wir leben also buchstäblich in einer Matrix, wie sie viele Jahre später von Hollywood in der gleichnamigen Filmtrilogie dargestellt wurde.

    Grundlage für Zuses Annahme ist seine Beobachtung, dass die Expansion von elektromagnetischen Feldern, Gravitationsvektoren und Gasen erstaunlich gut mit der sogenannten Automatentheorie erklärt werden kann. Einer der simpelsten Automaten ist ein Lichtschalter, der durch Tastendruck vom Zustand «Licht aus» in den Zustand «Licht an» übergeht.

    Mit dem Ölgemälde «Rechnender Raum» (1967) illustrierte Konrad Zuse seine Theorie des Universums als Computersimulation. Foto: Konrad Zuse

    Die ausgefeiltesten, allerdings speicherbegrenzten Automaten sind jene, die sozusagen Turing-vollständig sind, also unsere heutigen Computer, Smartphones oder Tablets – und der perfekteste Automat wäre demnach jener, der einer universalen Turingmaschine mit unendlichem Speicher entspräche. Wenn nun ein Automat einen anderen simulieren könnte (und umgekehrt), gälten beide als Äquivalent.

    Zuses These setzt genau hier an: Da sehr viele Teile der theoretischen Physik mithilfe von Computern simulierbar sind, könne man anhand der Automatentheorie daraus ableiten, dass die vermeintlich wirkliche Welt eine Computersimulation sei. Je besser diese Simulation funktioniere, desto wahrscheinlicher sei es, dass es sich bei der Wirklichkeit auch nur um eine Fülle von Rechenvorgängen auf einem Computer handle.


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    Damit befindet sich Zuse in Übereinstimmung mit wesentlich älteren philosophischen Theorien, die davon ausgehen, dass die materielle Welt nur Abbild von Informationen sei – und diese Informationen die eigentliche Wahrheit wären. Man findet diese Vorstellung schon bei Platon und Pythagoras, aber auch in der Kabbala, im christlichen Gnostizismus und im Buddhismus. Und in der hermetischen Alchemie ist das, was mit dem Begriff Azoth (auf Deutsch in etwa mit «Weltgeist» zu übersetzen) beschrieben wird, nichts anderes als ein Informations-Urstoff, der die Grundlage alles Bestehenden bildet. Zuses Rechnender Raum untermauert solche Konzepte wissenschaftlich.

    «Es geschah …, dass mir plötzlich der Gedanke auftauchte, den Kosmos als eine gigantische Rechenmaschine aufzufassen.» Konrad Zuse

    Zuses philosophische Ideen wurden unter anderem von Stephen Wolfram weiterentwickelt. In seinem 2002 erschienenen Buch A New Kind of Science (Eine neue Form der Wissenschaft) beschrieb der britische Physiker und Informatiker das Universum als ein digitales Wesen, das auf «simple programs» (einfachen Programmen) basiert.

    Andere Autoren hingegen meinten, das Universum entspräche weniger einem zellulären Automaten als eher einem riesigen artifiziellen neuronalen Netz. Damit wäre es eine gigantische Künstliche Intelligenz, die sich sogar auf das Verhalten der Menschen einstellen könnte. Eine Vorstellung, die bei dem einen oder anderen für gewisse Paranoia sorgen dürfte.

    Konrad Zuses Z1: Vorläufer des Z3, der als erster funktionsfähiger Digitalrechner in die Geschichte einging. Foto: kkzyk, CC BY-NC 2.0, flickr.com

    In der Populärkultur tauchen Zuses Ideen zum Beispiel bei dem US-amerikanischen Science-Fiction-Autor Philip K. Dick (The Man in the High Castle) auf. Dieser wies darauf hin, dass so gut wie jede Religion davon ausgehe, dass sich der Mensch in einer Scheinwelt befände und die Ursünde des Menschen darin bestehe, vergessen zu haben, dass das irdische Leben nur eine Art Simulation sei. Und natürlich spielen Filme wie Tron, Matrix oder auch das Anime Digimon mit solchen Vorstellungen.

    Abschied vom Materialismus

    Man kann Zuses Ansatz als typische Ausprägung des aufgeklärten Westens kritisieren, der die Welt als ein perfektes Uhrwerk (oder eben als Computer) betrachtet. Unter dieser Prämisse kann der Mensch an Macht gewinnen, wenn er die Regeln des Systems (oder den Code) erlernt und für sich nutzt.

    Man kann durch den Rechnenden Raum aber auch zu einem anderen Schluss gelangen: Wenn materieller Erfolg und das Streben nach materiellen Gütern sinnlos ist, weil sich alles nur in einer großen Computersimulation abspielt, ist das Anhäufen von Reichtümern ungefähr genauso relevant wie das Sammeln von Goldmünzen bei Super Mario.

    _ Michael Kumpmann (*1987) arbeitet als Informatiker und Programmierer. Er befasst sich darüber hinaus eingehend mit philosophischen Themen sowie Kulturphänomenen und ist Autor von zahlreichen Artikeln in verschiedenen Publikationen und Online-Magazinen wie «eigentümlich frei», «Arcadi» oder «Blaue Narzisse». In der aktuellen Ausgabe von COMPACT-Magazin schreibt er über das Darknet.

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