Norbert Blüm ist tot. Er starb im Alter von 84 Jahren, wie die Familie heute bekanntgab. Seit 2019 litt er an den Folgen einer Blutvergiftung und war gelähmt.

    Die COMPACT-Redaktion trauert um den Politiker. Natürlich hatten wir viele Meinungsverschiedenheiten, aber das soll an diesem Tag nicht thematisiert werden. Trotzdem war er ein Politiker von Format, wie es heute kaum noch einen gibt. Er steht für die gute alte Bundesrepublik – für einen Sozialstaat, den er mitgeprägt hat. Als Mensch war er herzlich und fröhlich – ein guter Mensch, ein guter Christ. Ruhe in Frieden, lieber Norbert Blüm! Seinen Beitrag, den er für COMPACT-Spezial „Feindbild Familie – Politische Kriegführung gegen Eltern und Kinder“ zur Verfügung gestellt hat, können Sie unten lesen.

    Der geborene Rüsselsheimer (*21. Juli 1935) war fast zwei Jahrzehnte eine feste Größe in der Bundespolitik. Zwischen 1972 und 1981, erneut zwischen 1983 und 2002, gehörte er dem Bundestag an. Von 1983 bis 1998 war Blüm Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. In seine Amtszeit fällt unter anderem die Einführung der Pflegeversicherung. Blüm bezog sich politisch insbesondere auf die Christliche Soziallehre und wurde – teils belächelt, teils anerkennend – als Herz- Jesu-Marxist bezeichnet. Nach 1998 kritisierte er die CDU unter anderem für ihre seiner Meinung nach fehlende soziale Ausrichtung, lehnte etwa Pläne für eine Kopfpauschale in der Krankenversicherung ab. Blüm war seit 1964 mit der Kunstmalerin Marita Blüm verheiratet. Er lernte seine spätere Frau bei einer Vorlesung Joseph Ratzingers kennen.

     

    Hier sein Beitrag aus COMPACT-Spezial „Feindbild Familie“.

    FAMILIE TUT GUT

    _ von Norbert Blüm

    Die «moderne» Familie löst sich auf in der scheinbaren Freiheit des Konsumenten. Übrig bleibt die Unterordnung unter den Beruf. Am Ende steht eine Gesellschaft der Solisten.

    Zu Recht wehrt sich die moderne Frauenbewe- gung gegen die Zuweisung «häuslicher Pflichten» an Ehefrau und Mutter. Der alte Patriarch fand es bereits unter seiner männlichen Würde, den Kin- derwagen zu schieben, Windeln zu wickeln und den Brei zu rühren. Der neue Mann schafft alles. Fast alles. Denn es gibt noch ein paar Nebensäch- lichkeiten, die möglicherweise Hauptsachen kind- licher Entwicklung sind: Schwangerschaft und Stil- len bleiben natürlicherweise weibliche Monopole.

    Manche würden selbst das gerne abschaf- fen. Es ist einfach schrecklich ungerecht, dass diese Quellen des Glücks Vätern unzugänglich sind. Die Abschaffung von Schwangerschaft und Stillzeit wäre außerdem der Durchbruch zur un- eingeschränkten Eingliederung der Frauen in die Erwerbsgesellschaft. Die Voraussetzungen dafür werden gerade geschaffen: Durch die Übernahme der Kleinkinder in eine elternfreie frühkindliche Erziehung. Es gilt inzwischen als erstrebenswert, wenn Neugeborene schon kurz nach der Geburt in Kinder- krippen «überführt» werden. Später stehen Kitas Tag und Nacht zur Verfügung. Die Ganztagsschule bietet mancherorts sogar Ferienbetreuung an. «Er- ziehung» wird von Erziehungsexperten übernom- men. Mama und Papa sind nur ersatz- und über- gangsweise im Spiel. Denn die Erziehungsprofis sollen für die Kindheit wichtiger werden als die Amateureltern. Wie altmodisch wirkt da das Grund- gesetz, wenn es in Artikel 6 festlegt, Erziehung sei «zuvörderst» das Recht und die Pflicht der Eltern.

    Neoliberale Wahlfreiheit

    Arbeitgeber und die ihnen in dieser Sache treu dienenden Gewerkschaften jubeln. Sie sind am Ziel. Die uneingeschränkte Eingliederung der Frauen in das Erwerbsleben gibt dem Sozialpro- dukt einen kräftigen Schub. Mutterschutz entfällt mangels Schwangerschaft. Wachstumsfördernd und kostensparend ist das Programm. Obendrein kann die Wirtschaft den an Tisch und Bett, Kind und Kirche geketteten Frauen einreden, sie wür- den endlich von ihrer Knechtschaft erlöst.

    Die angeblich freie Wahl zwischen Familien- und Berufsarbeit ist zugunsten der Berufsarbeit entschieden. Erwerbsarbeit zählt. Familienarbeit gibt es in diesem «modernen» Weltbild gar nicht. So mündet die Wahlfreiheit zwischen Familien- und Berufsarbeit in die faktische Unterordnung der Familie unter die Ratio der Wirtschaft. Diese Entwicklung ist schon im Konzept der Wahlfreiheit selbst angelegt.

    Die Wahlfreiheit, welche Maß an der Konsu- mentenfreiheit nimmt – man kauft was man will, erscheint im neoliberalen Denken als höchste Form der Freiheit. Optionen optimieren, darauf kommt es an. Kinder passen nur schwer in das Konzept dieser schrankenlosen Freiheit. Denn wie man es auch wendet: Kinder sind eine Einschränkung der Wahlfreiheit ihrer Eltern.

    Ist aber die Maximierung der Wahlfreiheit, in der jeder nur sich und keine Bindung kennt, ein Glückskonzept? Wohl kaum, denn sonst wäre der rücksichtsloseste Mensch der glücklichste. Wenn die sogenannte Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf in Wirklichkeit die Unterordnung der Familie unter den Beruf bedeutet, ist sie gar keine Freiheit, sondern ihre Beendigung, nämlich Unterwerfung. Die Verfechter der uneingeschränkten Wahlfrei- heit zwischen Familien- und Berufsarbeit verhed- dern sich in den Fallstricken ihres Vorhabens.

    Niemand will zurück in alte Verhältnisse, in de- nen der Mann «Herr und Meister» und der Chef der Familie war, also ihr Alleinbestimmer. Die Erleich- terung der Hausarbeit ermöglicht neue Formen der Beteiligung von Mann und Frau an der innerhäusli- chen Familien- und der außerhäuslichen Erwerbs- arbeit. Ein partnerschaftliches Verständnis der Ehe verlangt eine andere familiäre Pflichtenverteilung zwischen Mann und Frau in der Ehe als dies in frü- heren Zeiten üblich war.

    Und doch ist die Behauptung falsch, dass zwi- schen Familien- und Berufsarbeit eine deckungs- gleiche, symmetrische Wahlfreiheit möglich sei. Trotz flexibler Arbeitszeiten, mobiler Arbeitsverhältnisse, Teilzeit- und Telearbeit, rund um die Uhr geöffneter Geschäfte, permanenter schulischer Betreuung und reichlich staatlichen Erziehungsgel- des: Mütterliche Zuwendung steht jedem Kind zu, und weder Vater noch Staat können sie erbringen.

    Der Vater hat seine Chance und seine Zeit

    Die Spätfolgen einer Totalisierung der Erwerbs- wirtschaft zeigen sich im neuen Scheidungsrecht. Das Scheidungsrecht bringt die Paradoxien eines Fortschrittes zutage, der im Namen der Frauen auf den Weg gebracht wurde und sie am Ende auf der Strecke liegen lässt. Frauen, die zugunsten der Familienarbeit auf Erwerbsbeteiligung verzichtet oder sie reduziert haben, werden in der Scheidung bestraft. Ihre Familienarbeit zählt für die Unter- haltspflichten des Mannes nur vorübergehend und dann so gut wie nicht. Arbeit ist nur Arbeit, wenn sie Erwerbsarbeit ist – so borniert ist man nie zu- vor gewesen.

    Der Mann, der mit Hilfe häuslicher Arbeit sei- ner Frau ungestört «sein» Geld verdienen konnte, nimmt sein Geld mit. Zurück bleibt die «dumme» Mutter, die nicht für «ihr» Geld, sondern für die Familie gearbeitet hat. Das neue Scheidungsrecht ist das «Trojanische Pferd» einer Solisten-Gesell- schaft. Der Triumph der Solisten ist der Tod der Familie.

    Die Abschaffung des Ehegattensplittings wird ein weiterer Sargnagel für die Idee sein, dass die Ehe kein marktwirtschaftliches Tauschverhältnis auf Gegenseitigkeit ist, sondern ein Bündnis, das von eigentümlichen «Einseitigkeiten» zusammen- gehalten wird. In der Ehe gibt mal der eine, mal der andere mehr als er erhält, ohne dass beide ständig nachrechnen, wer im Vorteil oder Nach- teil ist. Die Abschaffung des Ehegattensplittings degradiert die Ehepartner hingegen zu selbstän- digen Steuerzahlern, die nichts miteinander zu tun haben. Ein solches Steuerrecht behandelt die Partner wie Fremde, die sich vorübergehend zur Maximierung ihrer Freizeitnutzung zusammenge- schlossen haben. 

    Das Erwerbseinkommen der Ehe «alter Bauart» ist hingegen vergemeinschaftetes Einkommen, egal wer es verdient hat und zu welchem Anteil. Nie in meinem Leben bin ich auf die Idee gekom- men, dass das Geld, das ich in der Ehezeit «nach Hause» brachte, «mein Geld» sei. Auch mein Vater dachte nie so; weder meine Mutter noch meine Frau hatten jemals das Gefühl, sie seien ihren Ehe- männern etwas schuldig, weil die das Geld her- beischafften. Mit einem homo oeconomicus lässt sich eben keine Ehe gründen. Dass Teilen reicher macht, geht nicht in sein kleines Hirn.

    Der nächste Schritt nach dem Wegfall des Ehegattensplittings wird konsequenterweise der Wegfall der beitragsfreien Mitversicherung von Ehefrau und Kindern in der Sozialversicherung sein. Auch die Witwenrente wird folgerichtig ge- strichen werden. Es geht nach dem Motto: Jeder sorgt für sich selber, dann ist für alle gesorgt.

    Doch diese Logik des Egoismus begründet nicht wirklich Freiheit, sondern bloß deren Illusion. Tat- sächlich ist die von Familie befreite Gesellschaft widerstandslos der Macht und dem Markt ausge- liefert. In ihr kann «durchregiert» werden.

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