Richard Wagner wollte aus Opernhäusern religiöse Weihestätten des Volkes machen. Auch wenn dies nicht gelang, ist der Ansatz nicht falsch. Ein tieferes Verständnis von Religion böte nicht nur einen Wertekompass, sondern könnte sogar dazu beitragen, Schuldkomplexe zu überwinden und neues Selbstvertrauen zu erlangen. Ein Beitrag zum Karfreitag.

    _ von Thierry Baudet

    „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ – Mit diesem sonderbaren Satz beginnt eines der berühmtesten Werke der Weltliteratur, nämlich der 1925 erschienene Roman Der Prozess von Franz Kafka. In diesem Buch wird ein junger Mann mit einer Anklage konfrontiert – es bleibt unklar, wofür er angeklagt wird und welche Strafe er möglicherweise zu erwarten hätte. Aber irgendetwas in Josef K. fühlt sich durch die Anschuldigung getroffen. Seine Versuche, sich zu widersetzen, scheitern an seiner eigenen Zwiespältigkeit – er kann an nichts anderes mehr denken als an seine Verurteilung. Er fühlt sich schuldig.

    Franz Kafka. Foto: Julie Mayfeng, Shutterstock.com

    Kafkas Werk hat Generationen von Lesern auf der ganzen Welt bewegt. Das Gefühl, „schuldig zu sein“, ist universell. Als Erwachsener entwickelt der Mensch im Lauf seines Lebens das Bewusstsein, irgendwo zu versagen – und dass ihm eine angeborene Sünde anhaftet. Das Christentum liefert für dieses vage Schuldgefühl des Menschen eine Erklärung: Die Schuld entsteht aus dem Sündenfall. Im Paradies konnte der Mensch seinen Hunger nach Wissen, nach Macht, nach sexueller Befriedigung nicht beherrschen. Daher wurde er aus ihm verstoßen – so wie wir alle aus dem Paradies der Kindheit verstoßen werden, sobald die Pubertät einsetzt.

    Aber neben einer Erklärung bietet das Christentum auch die Wandlung des Schuldgefühls durch den Opfertod Jesu. Selbst frei von Sünde (und ohne sexuelles Verlangen), stirbt Jesus in der Überlieferung am Kreuz für unsere Sünden. So macht die christliche Tradition ihren Frieden mit dem menschlichen Schuldgefühl: Es wird aufgehoben, es ist nicht mehr nötig. Im Tausch dafür hält die Idee Einzug, Jesus verpflichtet zu sein – und in seinem Gefolge der (christlichen) Gemeinschaft, seinen Nächsten und der Welt insgesamt.


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    Aber was ist zu tun, wenn diese Geschichte ihre Glaubwürdigkeit verliert? Wenn wir die Idee vom Sündenfall nicht mehr für eine brauchbare Metapher halten, um die menschliche Konstitution zu überdenken, und wenn wir die Symbolik des Opfertods Jesu nicht mehr begreifen? Wenn die Glaubensdogmen zu unwahrscheinlich für den modernen Menschen werden und damit die gesamte Religion verworfen wird?

    Das ist die Frage, die Richard Wagner beim Schreiben seiner Oper Parsifal inspirierte, die an einem Karfreitag spielt. Die Oper ist ein großartiger Versuch, ein säkulares Evangelium zu begründen, zu dem nicht in der Kirche, sondern im Opernhaus ein Bekenntnis abgelegt wird. Eine ritterliche Priestergemeinschaft ist im Bann der begangenen Sünden. Das Land ist grau geworden, die Rittergemeinschaft betrübt.

    Immer wieder werden die Rituale der Prozession wiederholt, aber ohne Ergebnis. Dann kommt der Erlöser, Parsifal, der sein eigenes Verlangen opfert und sich in den Dienst eines größeren Ganzen stellt. Der Funke schlägt wieder über. Das Land wird fruchtbar – die Natur „frei von Sünden“. Der „Karfreitagszauber“ im Schlussakt der Oper gehört zur schönsten Musik, die je geschrieben wurde. Aber ohne Zweifel rührt sie auch deshalb so an, weil sie an das Urgefühl der Sünde, der Schuld, die vergeben wird, rührt. Nach fünf Stunden musikalischer Bußübung läuft man wie wiedergeboren aus dem Operngebäude heraus – jedenfalls war das die Idee.

    Szene aus Wagners „Parsifal“, Staatsoper Berlin, 2005. Foto: 360b | Shutterstock.com

    Wagners Versuch, zu einer neuen Opern-Religion zu kommen, scheiterte. Opernhäuser sind keine Volkskirchen geworden; der Kreis der Wagnerianer ist sehr klein (und die meisten Aufführungen werden durch modernistische Opernintendanten gründlich verdorben). Dennoch hat Wagner ein ernsthaftes Kulturproblem nachempfunden. Unser Schuldgefühl muss aufgegeben werden – und dafür brauchen wir ein kollektives Ritual.

    „Tyrannei der Reue“

    Vielleicht ist es so gesehen doch eine gute Idee, das Christentum auf eine säkularisierte Art neu zu würdigen. Viele Juden machen dies auch: Sie glauben oft kein Wort aus der Thora mehr, erleben aber nichtsdestoweniger, dass in der religiösen Tradition viel Weisheit steckt; sie sind stolz, sich als „jüdisch“ zu sehen, und begreifen, dass die Rituale und Gebräuche – wie der wöchentliche Feiertag im kleinen Kreis und das Weitererzählen der Geschichten – unser modernes Dasein auf eine sonderbare Weise komplettieren.

    Die heutigen Diskussionen über Entwicklungshilfe, Immigration und Multikulturalismus zeigen ein großes, aber vages Schuldgefühl, das sich unserer Kultur bemächtigt hat. Eines Auswegs beraubt, wuchert es weiter. Wir sind alle Josef K. geworden; der französische Philosoph Pascal Bruckner nennt dies in seinem Buch Der Schuldkomplex: Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa „die Tyrannei der Reue“. Daher ist es wichtig, über die Bedeutung von Karfreitag nachzudenken. Es ist ein Tag des Leidens, aber auch von neuer Fruchtbarkeit und neuem Selbstvertrauen. Josef K. ging an seinem Schuldgefühl zugrunde. Das muss nicht das Schicksal der westlichen Kultur werden.

    _ Thierry Baudet (*1983) ist Jurist, Historiker und Gründer sowie Parteivorsitzender des Forums für Demokratie (FvD). Außerdem ist er Vorsitzender der FvD-Fraktion im niederländischen Parlament. Der Text ist mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags seinem Buch Oikophobie entnommen. Er wurde von COMPACT leicht redigiert und mit Überschriften versehen.

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