Yukio Mishimas öffentlicher Suizid gilt als Eingeständnis seines politischen Scheiterns. Aber wird man ihm mit dieser Deutung gerecht? Überlegungen zum 50. Todestag des japanischen Patrioten. Erstabdruck in COMPACT 11/2020.

    _ von Jonas Glaser

    25. November 1970: Der weltberühmte Dichter Yukio Mishima stürmt mit seiner Privatmiliz das Hauptquartier der japanischen Streitkräfte. Sein Ziel: die Wiedereinsetzung des Gottkaisers und die Revitalisierung des Bushido, des Ehrenkodex der Samurai. Ein heroischer Traum von der Wiederkehr japanischer Größe, aber auch verzweifelter Aufschrei eines zerrissenen Lebens. Mishima nimmt den diensthabenden Kommandanten als Geisel, eilt auf den Balkon und fordert in einer flammenden Rede die Stürmung des Parlaments. Aber dem Söldnertrupp mangelt es an Verständnis. Man lacht ihn aus.

    Zu viele Seelen in einer Brust

    Der Verspottete reagiert wie ein Samurai: mit ehrenvollem Selbstmord in finaler Großinszenierung – durch Seppuku (Harakiri). Aber selbst dieses letzte Ritual misslingt. In seinem Wunsch nach Männlichkeit, nach kriegerischer Kraft, hatte er seinen Körper bis zum Äußersten trainiert, zur Kampfmaschine gehärtet. Mit Bauchmuskeln, die das Seppuku-Messer kaum durchdringen kann. Mit Nackenmuskeln, die Stahlseilen gleichen, die sein Sekundant, der ihm den Kopf abschlagen soll, erst nach drei Schwerthieben durchtrennen kann.

    Die erhabene Tragik des Ritus gerät zum Schlachtspektakel. Dennoch oder gerade deshalb bildet dies den Höhepunkt und Abschluss einer Existenz, die eine unmögliche Aufgabe zu bewältigen suchte: die Antithesen von harter Männlichkeit und weiblicher Schönheit, Militär und Kunst, Homo- und Heterosexualität zur Synthese zu zwingen. Dafür lebte er, daran scheiterte er.

    Er stilisierte sich zum Pop-Samurai.

    Dieser Konflikt rührte zweifellos von Mishimas Elternhaus her. Der 1925 unter dem bürgerlichen Namen Hiraoka Kimitake geborene Junge stand in frühen Lebensjahren in einem beinah symbiotischen Verhältnis zur Mutter, die ihn gemeinsam mit der aristokratischen Großmutter erzog. Letztere weckte sein Interesse am Theater, verbot ihm jeglichen Sport, untersagte jede Freundschaft mit Gleichgeschlechtlichen – nur der Umgang mit seinen Cousinen war erlaubt. Das prägte ihn auf das Weibliche, Zarte, Musische, Schöne.

    Indes lebte er auch in der Tradition, denn der Großvater war Mitglied eines Samurai-Clans. Ab dem zwölften Lebensjahr aber übernahm der Vater die Regie, erzog den schmächtigen Knaben völlig konträr: mit militärischem Drill und Disziplin. Literatur galt dem Abgeordneten des Fischereiministeriums als weibisch: Mit allen Mitteln versuchte er, die Leidenschaft des Sohnes dafür zu unterdrücken.

    «Perfekte Reinheit ist möglich, wenn du dein Leben in eine Gedichtzeile verwandelst, geschrieben mit einem Spritzer Blut.»
    Foto: picture-alliance / Sven Simon

    All das – militärische Härte, Schönheit, Poesie und Samurai-Tradition – wurde zu Grundpfeilern seines Lebens. Nur barg das mehr Widerspruch, als sich ertragen ließ. Aufgrund der pädagogischen Wechselbäder bekämpften sich Anima und Animus in ihm. Der Junge schrieb eine Kurzgeschichte, die seine seelische Verwirrung durch Einfluss der Ahnengeister erklärte: Die seien in ihn gefahren, trügen ihre Kämpfe in seinem Körper aus. Nicht zwei Seelen, wie in Goethes Faust, tobten in seiner Brust, sondern unzählige.

    Der Kampf um den Körper

    Dabei schien der schmächtige Knabe weder zur Schönheit noch zum Heroismus geboren. Es waren das unermüdliche Training, die selbst auferlegte Disziplin, die ihn zur Kampfmaschine reifen ließen. Lebenslang stellte er das Resultat seiner Anstrengung zur Schau: Als Filmschauspieler präsentierte er einerseits seine Männlichkeit und stilisierte sich zum Pop-Samurai, anderseits posierte er als Model für Halb-Akt-Fotos, als beinah weibliche Schönheit.

    Wiederholt für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, sollte Mishimas Körper der ästhetischen Größe seiner Literatur nicht nachstehen, sondern seinerseits zum Kunstwerk werden. Mit zwiespältigem Resultat: Für den Regisseur Nagisa Oshima ähnelte Mishima einer «künstlich gezüchteten Blume».

    Auch die Selbststilisierung zum Krieger hielt der Realität zunächst nicht stand: Dem Waffendienst im Zweiten Weltkrieg entzog sich der Teenager durch Vortäuschung einer Tuberkulose. Statt den Kampf in einer Männergemeinschaft zu suchen, gründete Mishima eine Familie und bezog eine prächtige Villa, die vollständig mit Möbeln des europäischen Rokoko ausgestattet war. Als Kenner abendländischer Kultur- und Geistesgeschichte faszinierte den Dichter deren Kombination aus ästhetischer Verspieltheit, höfischen Riten sowie unaufhaltsamer Endzeit.

    Im Rokoko spielt auch sein Drama Madame de Sade (1965) über Renée de Sade, Ehefrau des berüchtigten Marquis: Die sensible Aristokratin bemüht sich, ihren Mann (Symbol des Triebhaft-Männlichen) aus dem Gefängnis zu befreien. Die Familie rät ihr ab, fordert die Scheidung. Sie aber ahnt: «Alphonse, das bin ich.» Erst nach seiner Freilassung kann sie sich von ihm lösen. Männliches und Weibliches in fataler Verstrickung… Das viel gespielte Stück, das keine einzige Männerrolle enthält, wurde 1992 von Ingmar Bergmann kongenial für das Fernsehen verfilmt.

    «Das Glitzern ihrer stahlblauen Augen ist erfüllt von zerstörerischer Kraft.»

    Wie das Militärische führte die unstillbare Sehnsucht nach Schönheit zur permanenten Überforderung. Nachdem er Oshimas Film Japanischer Sommer: Doppelselbstmord unter Zwang  (1967) gesehen hatte, fragte er den Regisseur: «Weshalb setzen Sie in Ihren Filmen keine schönen Männer, keine schönen Frauen ein?» Dass diese ästhetische Unbedingtheit ihn langfristig zum Verlierer machen würde, war dem scharfsinnigen Autor durchaus klar: Auch sein perfekter, durchtrainierter Körper musste den Weg von Vergänglichkeit und Zerfall gehen.

    In Mishimas Bühnendrama The Black Lizard und dessen Verfilmung (1968) bedauert die Juwelensammlerin Frau Midorikawa die kurze Blüte menschlicher Schönheit, die nur 20 Jahre halte. Ihre Gegenmittel: eine Kollektion unvergänglicher Edelsteine und ein Museum, in dem sie Körper verstorbener Schönheiten präsentiert, darunter einen jungen Mann, der im Messerkampf gefallen war. Muss man noch erwähnen, dass Mishima selbst diesen präparierten Toten darstellte? Dabei kopierte er die Pose des Heiligen Sebastian, jenes christlichen Märtyrers, dem Gabriele D‘Annunzio ein Bühnenlibretto gewidmet hatte, das Mishima ins Japanische übertrug.

    Im Banne des Sturmgottes

    Dokumentarisch: Der Film «11.25» (2012). Foto: Promo

    Hier liegt das Zentrum seiner späteren Verzweiflung. Der aussichtslose Kampf gegen den Zerfall des Körpers war es, weswegen er auf politischer Ebene «seine Widersprüche nicht von ”links” überholen» (Oshima) konnte, sondern sich «rechts» orientierte – also der Schönheit von Tradition und Ritus verschrieb, um beiden mittels Revolte auf den Thron zu helfen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, ein purer Symbolakt, der aber die Selbsttötung vor Beginn des physischen Verwelkens legitimierte.

    In den letzten Jahren nahm er seine tödliche Polit-Performance in zahlreichen Werken vorweg. Zu erwähnen ist sein Kurzfilm Patriotismus (1966), ganz im Stil des No-Theaters: Nach einem missglückten Putsch nationalistischer Militärs soll Leutnant Shinji Takeyama (Mishima), den man wegen seiner Ehefrau vom Aufstand ausgeschlossen hatte, gegen die Verräter vorgehen. Aus Treue zur Revolution entzieht er sich diesem Auftrag durch Seppuku… Das Drama Mein Freund Hitler  (1968) schildert eine Zusammenkunft zwischen dem «Führer», Ernst Röhm, Gregor Strasser und Industriechef Gustav Krupp kurz vor der sogenannten Nacht der langen Messer im Jahr 1934, in der Hitler die Revolte des linken NSDAP-Flügels blutig niederschlug.

    Der aufständische Röhm, an homoerotischer Liebe zu Hitler leidend, schwärmt: «Junge Männer leuchten im Glanz der Morgensonne, und das Glitzern ihrer stahlblauen Augen ist erfüllt von zerstörerischer Kraft.» Konträr zu Madame de Sade  herrscht hier eine reine Männerbesetzung. Bei der Uraufführung (1969) spielte Autor Mishima selbst das unerreichbare Objekt von Röhms Begierde: Hitler.

    «Den Barbaren ausgeliefert das Land – der Kaiser, der Thron in Gefahr.»

    Im Roman Unter dem Sturmgott (1969) erzählt Mishima von einem shintoistischen Götterbund, der Japans Kaiser aus der Kontrolle westlicher Mächte befreien will. Gemeint sind: Kapitalismus, Hochfinanz, Banken und Sozialismus. Dabei lehnte der Künstler den Westen nicht wegen seiner Kultur ab, sondern wegen seiner aggressiven Ideologie. Gegen deren Okkupationswut wollte er die Souveränität Japans bewahren: «Den Barbaren ausgeliefert das Land, / der Kaiser, der Thron in Gefahr. / Es wissen aber die Götter des Himmels und der Erde, / dass unser Wille in Treue steht zum Reich.»

    Im Finale tötet der Held Shigekuni einen Kapitalisten und begeht im Angesicht des Meeres rituellen Selbstmord… Hier versöhnt Mishima durch Reinkarnationsfantasien sogar seinen Konflikt zwischen Animus und Anima: Der männlich-kriegerische Isao erscheint als Wiedergeburt der schönen Kiyoaki – beide Seiten seiner Seele werden auf zeitlich separierte Erdenleben verteilt.

    Nein, Mishima konnte Japan nicht vor westlichem Kapitalismus schützen. Insofern war sein Putsch vor 50 Jahren vergeblich. Aber er bedeutete mehr. Er war ein performatives Nein zur eigenen Vergänglichkeit, eine metaphysische Revolte. Mag der Dichter politisch als Verlierer dastehen, auf anderer Ebene ging er als Sieger hervor: als weltweite Pop-Ikone von Ästhetik, Kraft und Vitalität, der die Zeit nichts mehr anhaben kann.

    Verfilmtes Leben“
    Mishimas Lebensweg wurde zweimal verfilmt. Paul Schrader verknüpft in Mishima: A Life in four Chapters (1985) biografische Szenen mit adaptierten Romansequenzen, zeigt somit die Verarbeitung und Verfremdung von Erlebtem. Intensiv leuchtende Farben, rasante Schnitte und der Soundtrack von Philip Glass versetzen den Zuschauer in einen Flow, den der Dichter während seiner Revolte vielleicht erfahren hat. Der Film bestätigt den Mythos vom «Gesamtkunstwerk Mishima». Da er auch die homoerotische Seite des Autors thematisierte, missfiel er dessen Witwe. Bis heute wird er in Japan nicht öffentlich aufgeführt.

    Wesentlich nüchterner ist dagegen der 2012 gedrehte 11.25 The Day He Chose His Own Fate  (sinngemäß: 25.11.: Der Tag, an dem er sein Schicksal selbst in die Hand nahm) von Koji Wakamatsu, der sich ausschließlich auf die finale Revolution und den Suizid konzentriert, dabei eine distanzierte, fast dokumentarisch wirkende Ästhetik verwendet.

    Dieser Artikel erschien in der aktuellen COMPACT 11/2020. Darin finden Sie weitere inspirierende Texte  zur Kultur des Widerstands.  Sie können diese Ausgabe in digitaler oder gedruckter Form  hier bestellen.

     

    Kommentare sind deaktiviert.