Der zehnfache Mord in Hanau wird den Rechten in die Schuhe geschoben, weil sich der mutmaßliche Täter rassistisch äußerte. Aber wo bleibt die Schuldzuweisung nach links, wenn ein Irrer aus linken Motiven mordet?
Kein Zweifel: Der mutmaßliche Hanau-Mörder war Rassist. Aber in erster Linie war er wahnsinnig. Der Rassismus kam nur hinzu. Dass er Rassist war, zeigt schon die Auswahl seiner Zielgruppen: Ausländer in Shisha-Bars. In einem hinterlassenen Text faselte er zudem von ganzen Völkerschaften, die ausgerottet werden müssen. Doch in seinem Gesamtkonvolut geht es um mehr, um ein geschlossenes Wahnsystem mit Untergrundmächten, Fernsteuerung, Zeitreisen – und ihm als Opfer und als Agent einer Weltverschwörung. Die Schuldzuweisung an die AfD ist beinahe genauso irre wie der mutmaßliche Todesschütze selbst: Dieser hatte keinerlei Kontakte zu rechten Strukturen, schon gar nicht zur Partei selbst, die sich ihrerseits immer von Gewalt distanziert hat.
Wegen Hanau auf die AfD loszugehen, würde man sich freilich noch gefallen lassen müssen, wenn bei ähnlich gelagerten Wahnsinnstaten auch die Linke in die Pflicht genommen würde – nämlich wenn Irre bei der irren Begründung ihrer Bluttaten linke Elemente in ihre psychopathische Begründung einbauen.
Der Weizsäcker-Mord
Beispiel 1: Der Mord an dem Arzt Friedrich von Weizsäcker, Sohn von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, am 19. November 2019 in Berlin. „Der Täter begründete nach Spiegel-Recherchen seine Abneigung mit der Rolle Richard von Weizsäckers, dem Vater des Getöteten, beim Chemiekonzern Boehringer Ingelheim. Richard von Weizsäcker sei als Geschäftsführer des Konzerns in den Sechzigerjahren dafür verantwortlich gewesen, dass das Unternehmen tödliche Giftstoffe für den Vietnamkrieg geliefert habe.“ (Spiegel, 20.11.2019) „Als Grund soll er seine Verbundenheit mit dem vietnamesischen Volk angegeben haben – und die Tätigkeit Richard von Weizsäckers in der Geschäftsführung des Chemie- und Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim zwischen 1962 und 1966.“ (bz-berlin, 20.11.2019)
Mord, um einen vermeintlich Mitschuldigen am Vietnamkrieg zu bestrafen: Das ist ein genuin linkes Motiv. Vietnamprotest – das war die Geburtsstunde der Neuen Linken. Die Rechten hat der Vietnamkrieg nie interessiert, zumeist waren sie aus antikommunistischen Motiven sogar für ihn. Trotzdem hat bei der Berichterstattung über den Weizsäcker-Mord dieser „linke Link“ nie eine Rolle gespielt – mit Recht wurde das als Tat eines Wahnsinnigen dargestellt und die pseudopolitische Beimengung unter ferner liefen abgehandelt. Warum hat man das bei Hanau nicht ebenso gemacht?
Das Schäuble-Attentat
Beispiel 2: Am 12. Oktober 1990, mitten im Wahlkampf, wurde Wolfgang Schäuble von einem Attentäter mit zwei Schüssen lebensgefährlich verletzt und sitzt seither im Rollstuhl. Der Täter war ein vorbestrafter Drogenkrimineller, faselte von Folter durch elektromagnetische Wellen. Aber er hatte auch ein politisches Motiv. „Der Staat, erklärte Dieter Kaufmann bei seiner Vernehmung noch in der Nacht des Attentats, habe ihn ‚psychisch und physisch bedrängt‘. (…) Als ihm schließlich noch die Hoffnung schwand, ‚daß sich durch einen Regierungswechsel die Verhältnisse ändern könnten‘, schlug er zu. Kaufmann zu seinen Vernehmern: ‚Vielleicht hat meine gestrige Tat dazu beigetragen, politisch etwas auf den Weg zu bringen.'“ (Spiegel, 22.10.1990)
Das heißt, der Täter wollte mit seinem Wahnsinn die schwarz-gelbe Bundesregierung beseitigen, Alternative hätte nur eine Regierung unter Einschluss der SPD sein können. Trotzdem haben die Medien damals, völlig zu Recht, die SPD NICHT mit diesem Mordversuch in Verbindung gebracht. Warum wird das aber heute bei Hanau mit der AfD getan?
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