Weil der Linksstaat Multikulti verordnet, müssen unsere Vorfahren aus den Schulbüchern weichen – dafür feiern sie eine Wiedergeburt auf Netflix.

    _ von Fabian Becker

    Wer in Deutschland wohnt, ist Deutscher – diese These stammt unter anderem von einer gewissen Naika Foroutan. 1983 floh ihr Vater aus dem Iran in die Bundesrepublik. Nun will die Ausländertochter uns Inländern unsere Identität erklären. Damit steht die Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung keinesfalls allein. Mit ihrem Fachgebiet stellt sich der etablierten Politik eine Hilfswissenschaft zur Seite, die die Multikulti-Perspektive auch im Geschichtsunterricht durchsetzen will. Foroutan ist der Meinung, dass das Deutsche Reich «aus 39 multireligiösen, multisprachlichen und multikulturellen Fürstentümern» entstanden sei. Ihre Schlussfolgerung: Die Vorstellung, wir seien erst durch Migration «divers und multikulturell» geworden, sei falsch. Für sie sind wir Deutsche lediglich schon etwas länger hier Lebende, Findelkinder der Geschichte.

    «Wir … tragen die Gene heute noch in uns …» Prof. Dr. Harald Meller

    Um diese Erzählung nicht zu stören, muss allerdings eine Gruppe aus dem Schulunterricht verschwinden: unsere Vorfahren, die Germanen. Inzwischen findet man sie nur noch in den Lehrplänen von vier Bundesländern. In den restlichen fristen sie ein Schattendasein als Subjekt der römischen Hegemonialmacht, als kulturell minderwertiges, zeterndes Grenzvolk – Zeit für eine Spurensuche nach unseren Vorfahren.

    Unser viertausendjähriger Stammbaum

    Andreas Vonderach hat jüngst einiges über die germanische Welt zusammengetragen: Schon der römische Historiker Tacitus zählte sorgfältig nur jene Stämme oder Völker dazu, die auch germanisch sprachen. Dass es ein Gemeinschaftsgefühl gab, weist der Anthropologe für die Kaiserzeit, Völkerwanderung und das frühe Mittelalter nach. Hier wurde das Wort diutisc (lat. theodisk, später deutsch) für alle germanisch sprechenden Stämme und Völker verwendet. Kurzum: Die Germanen wussten, wer sie waren. Und wo kamen sie her? Mit einem Blick auf Grabungsergebnisse in Sachsen-Anhalt lässt sich ein Bogen bis in die ferne Bronzezeit schlagen – zur Aunjetitzer Kultur (2300–1500 v. Chr.). Die errichtete zur Zeit der Pharaonen in Mitteldeutschland das erste Reich in Europa. Ihr zweifelsfrei eindrucksvollster Kultgegenstand: die Himmelsscheibe von Nebra. Nur eine kleine Oberschicht dürfte vor 4.000 Jahren über das Wissen verfügt haben, um mit ihr die Sonnenwenden zu berechnen.

    Germanische Astronomie: Die etwa 4.000 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra ist die älteste konkrete Darstellung des Firmaments. Foto: Dbachmann, CC BY-SA, Wikimedia Commons

    Heute liegt die Himmelsscheibe im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Saale). Dessen Direktor, Prof. Dr. Harald Meller, macht mit Forschungsergebnissen auf sich aufmerksam, bei denen Migrationspropagandisten wie Foroutan die Haare zu Berge stehen dürften: Auf die Frage, ob angesichts der in seinem Museum versammelten Funde eine Verbindungslinie erkennbar sei, stellt er fest: «Wir sprechen heute noch diese Sprachen, tragen die Gene heute noch in uns, sodass wir mit einer gewissen Berechtigung zwischen der Zeit um 2000 bis heute von einer Bevölkerungskontinuität ausgehen können.»

    Germanische oder gar protogermanische Vorfahren – war das nicht Propaganda des wilhelminischen Kaiserreichs, die sich bei den Nazis zum verhängnisvollen Arier-Fimmel steigerte? Diese These wäre Grund genug für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte! Zum Beispiel in Schulbüchern. Doch in Thüringen erfahren Schüler noch nicht einmal etwas über jenen Stamm, der ihrem Bundesland den Namen gab. Die mächtigen Thüringer stritten im 6. Jahrhundert mit Franken und Alamannen («alle Männer unter Waffen») um die Vormacht in Germanien. Sie fiel schließlich den Franken zu: Die schlugen 506 bei Straßburg die Alamannen, 531 die Thüringer an der Unstrut. Mit der Unterwerfung der beiden Stämme bildete sich eine germanische Keimzelle heraus.

    Weitere kamen hinzu: Als Sieger löste der fränkische König Chlodwig («Ruhmreicher Krieger», altfränkisch: Hlodowig, deutsch: Ludwig) sein Versprechen ein und ließ sich in Reims taufen. Aus Heiden wurden Christen. Der Historiker James C. Russell weist dabei auf die Wechselwirkungen der Christianisierung hin, bei der es auch zu einer Germanisierung der neuen Religion gekommen sei. Als Belege führt er etwa die Heiligen- und Reliquienverehrung oder das Sakralkönigtum ins Feld. Der germanische Einfluss habe das weltabgewandte und universale Christentum in einen lebensbejahenden und heroischen Glauben gewandelt, der durch die ottonischen Kaiser im 10. und 11. Jahrhundert gefestigt worden sei. Die Vollendung dieser Synthese als architektonisches Zeugnis war die gotische Kathedrale.

    Eine fruchtbare Symbiose

    Der Historiker Stefan Scheil unterdessen meint, die germanische Prägung des christlichen Mittelalters dort zu erkennen, wo man es nicht unbedingt vermuten würde, in Herrschaftssymbolik und Rechtsgeschichte: «So gehört zu den Symbolen der Königsherrschaft immer eine Lanze, vor und nach der Christianisierung. Heute wird die karolingische Flügellanze in Wien als ‚Heilige Lanze‘ ausgestellt. In sie soll ein Nagel vom Kreuz Christi eingearbeitet worden sein. Dieser Gedanke kommt erst im Hohen Mittelalter auf. Die Übernahme der Lanze als Herrschaftssymbol ist ein Zeichen kultureller germanischer Kontinuität, das erst spät umgedeutet wurde.»

    Es kam im Weiteren auch zu einer Germanisierung des Christentums.

    Auch im Sachsenspiegel  (1220–1235) lasse sich eine germanische Tradition erkennen: «Urheber Eike von Repgow zeichnete geltendes Recht schriftlich auf, wahrscheinlich um dem damals aus Italien kommenden, verschrifteten römischen Recht etwas entgegenzusetzen.» «Erstmals in der Menschheitsgeschichte», so Scheil, «wurde das Verbot der Sklaverei festgeschrieben. (…) Im römischen Recht hingegen konnte der Mensch schlichtweg zur Sache werden. Es ist sicher gewagt, aber am Anfang des Endes der römischen Herrschaft in Germanien stand mehr als tausend Jahre zuvor ja ebenfalls der Versuch des Varus, das römische Rechtsverständnis dem Lande aufzuzwingen. Da wurden tief sitzende Unterschiede im Menschenbild schon damals politisch wirksam.»

    Nicht zuletzt ist da noch die Sprache: Mit dem Hildebrandslied (8. oder 9. Jahrhundert) stellt ein in Althochdeutsch überliefertes germanisches Heldenlied das älteste deutsche Sprachzeugnis dar. Das in Mittelhochdeutsch verfasste Nibelungenlied (11. Jahrhundert) spiegelt bereits die Kultur großer mittelalterlicher Höfe wider. Dem Leser wird sofort seine tragische Spannung klar: Zwar feiern die Schlüsselfiguren christliche Feste, im Zweifel aber handeln sie nach germanischen Werten – und mit dem Schwert.

    Szenenbild aus der TV-Serie «Vikings». Foto: MGM Television

    Im 20. Jahrhundert machten die Nationalsozialisten aus Germanen Übermenschen, richteten die Forschung politisch aus und streuten eine Botschaft: je germanischer, desto besser. Das Gefolgschaftswesen wurde, dem Zeitgeist entsprechend, als Vorbild blinden Gehorsams gepriesen. Dabei gründete es sich auf gegenseitige Verpflichtung, lateinisch consilium et auxilium – Rat und Tat. Bei den Sachsen wurden die Gefolgschaftsführer sogar gewählt. Die Schulbücher der DDR wiederum stilisierten die Germanen zu Widerstandskämpfern. Aus dem adligen Cherusker wurde im real existierenden Sozialismus ein Proletarier mit Hörnerhelm. Daran knüpften dann auch die 68er an. Ihnen galten unsere Vorfahren als naturreligiöse Indianer Europas, deren Lebensart durch den römischen Imperialismus bedroht wurde. Doch nun heißt es für unsere bunten Schulbücher wohl für immer: Die Nibelungen ziehen aus.

    Runen auf Netflix

    Germanen aber sind dafür bekannt, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie kämpfen, insbesondere um ihren Platz in der Geschichte. Und so steht dem verordneten Auszug aus Lehrplänen ein ungeheurer Aufstieg gegenüber – und zwar in der Populärkultur. In der Blockbuster-Serie Vikings  (seit 2013) ist es Odin, Gott der Kriegerbünde und Urheber der Runen, der – in Blitz und Donner gehüllt – dem Krieger Ragnar Lodbrok und seiner bald größer werdenden Gefolgschaft den Weg zu fernen Ufern und zur Königskrone weist. Geschickt verbinden die Staffeln Götterwelt und Geschichte. Hier haben die Weltesche und Aslaug, die Tochter des Drachentöters Sigurd, genauso Platz wie geschichtliche Wegmarken. Dabei stützen sich die Handlungsstränge wesentlich auf eine Hauptquelle der Wikingerzeit: Die Gesta Danorum  (um 1200) eines Mönches, den man Saxo Grammaticus nannte.


    Die neulinke Dekonstruktion macht auch vor der Anthropologie nicht halt. In seinem Buch Gab es Germanen?  (Verlag Antaios, 2017) gibt der Oldenburger Völkerkundler Andreas Vonderach wissenschaftlich kontra. Dabei beleuchtet er zuerst den Forschungsstand sowie die Argumentation linker Historiker, die die Volksidee im Laufe der letzten Jahrzehnte zunehmend als nationalistische Projektion abgetan haben. Darauf aufbauend, zeichnet er mit den Mitteln von Geschichtswissenschaft, Archäologie, Sprachwissenschaft und Soziologie ein eigenes Bild unserer Altvorderen: Die Germanen verstanden einander nicht nur, sondern hatten auch ein gemeinsames Identitätsbewusstsein.

    Auch in Game of Thrones spiegeln die weißen Wanderer, Wildlinge und der Schutzwall die nordische Sagenwelt wider. Vorläufer ist natürlich Tolkiens Herr der Ringe. Gleich zwei Wissenschaftler haben die germanischen Wurzeln des Epos herausgearbeitet: der Runen-Experte Wolfgang Krause und zuletzt der Germanist Rudolf Simek. Ihr Befund: Vom Erscheinungsbild Gandalfs, das Odin in der Völsungen-Sage entlehnt ist, über die totenbeschwörende Schwarzkunst (Seidr), die Sauron wie Odin ausüben, bis zu dessen Ringen ist nahezu alles von der mythischen Vorstellungswelt der Germanen inspiriert – was der Philologe Tolkien im Übrigen immer einräumte. Dass Ringe als kultische Gegenstände dienten, belegt der Goldring von Pietroasa (um 400). Die Runen auf ihm warnen: «Der Goten Erbgut, heilig und unberührbar.»
    Für 2020 plant die Constantin-Film nun eine Verfilmung des Nibelungenstoffes. Grundlage des Mehrteilers soll Wolfgang Hohlbeins Roman Hagen von Tronje (1986) sein. Hagen soll als Held älterer Freiheitsrechte, Siegfried als Emporkömmling dargestellt werden, der das Heidentum zugunsten des Christentums verdrängen wolle. Ausgleichende Gerechtigkeit: Die Schüler werden spätestens dann wohl mit zahlreichen Fragen vorstellig werden – auch ganz ohne Schulbuch oder Lehrplan.

    _ Fabian Becker (*1991) hat in Bayreuth Geschichtswissenschaft studiert. Seine Masterarbeit trägt den Titel «Der Erste Kreuzzug. Ein Endzeit-Unternehmen?» Während seiner Studienzeit absolvierte er verschiedene Praktika in Berlin, unter anderem bei den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages und der Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus. Seit Juni 2019 arbeitet er als Büroleiter für die Stadtratsfraktion der AfD in Koblenz und befasst sich in seiner Freizeit mit europäischer Frühgeschichte und dem christlich-germanischen Mittelalter.

    Dieser Artikel erschien im COMPACT-Magazin 02/2020. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form  hier bestellen.

     

     

     

     

     

     

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