Der italienische Kulturphilosoph Julius Evola zählt zu den außergewöhnlichsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Der Baron vertrat eine Weltsicht, die die dem heutigen Zeitgeist radikal entgegensteht – und noch immer führende Strategen der politischen Rechten inspiriert. Ein Auszug aus COMPACT 06/2020.
_ von Manuel Peters
Dreiundzwanzig. Das ist ein gutes Alter, um zu sterben. So dachte ein junger Mann im Rom des Jahres 1921. Er, der streng katholisch erzogene Adelsspross, der sich in der italienischen Kulturszene einen Namen als Avantgardist des Futurismus und Dadaismus gemacht hatte, war seines Lebens überdrüssig. Das Dasein schien ihm letztlich unbefriedigend, die Moderne, in die er hineingeboren worden war, nur als eine Zeit der Dekadenz und des Niedergangs, in der nichts Lebens- oder Erhaltenswertes mehr zu finden war. Hatten sich nicht auch Otto Weininiger und Carlo Michelstaedter – zwei Philosophen, die er verehrte – im Alter von 23 Jahren das Leben genommen? Wäre es nicht eine Ehre, ihnen nachzufolgen? Seine düsteren Gedanken schienen unwiderruflich auf die Beendigung seiner Existenz zuzulaufen…
Ein wahrer Mann verwirklicht sich als Krieger oder Asket, die Frau als Mutter oder Geliebte.
Doch dann vertiefte sich der junge Mann in die Majjhima Nikaya, eine Sammlung heiliger Schriften des Theravada-Buddhismus. Gleich in der ersten dieser Lehrreden sagt Buddha: «Wer immer denkt: ”Mein ist die Auslöschung” und sich über die Auslöschung freut, solch eine Person, sage ich, weiß noch gar nichts über die Auslöschung.» Die Worte trafen ihn, wie er später in seiner Autobiografie schrieb, «wie ein plötzlicher Lichtstrahl. Ich erkannte, dass mein Wunsch, mich aufzulösen und diese Welt zu verlassen, auch nur eine Fessel war, eine Form der Unwissenheit, die mich von wahrer Freiheit abhielt.»
Shiva und Shakti
Die Lektüre fernöstlicher Weisheiten hatte Julius Evola vom Suizid abgebracht und der Welt damit einen der wohl faszinierendsten Denker des 20. Jahrhunderts erhalten. Der 1898 in Rom geborene und 1974 ebendort verstorbene Kulturphilosoph hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, beschäftigte er sich doch mit so unterschiedlichen Themen wie der Gralsmystik, dem europäischen Heidentum, dem Tantrismus, buddhistischer Askese oder der Metaphysik des Sexus. Vor allem aber entwickelte er den von dem Franzosen René Guénon (1886–1951) begründeten integralen Traditionalismus entscheidend weiter. Diese Denkschule geht von einer Philosophia perennis aus, von einer ewigen, immer wieder auftretenden Weisheit. Ihr liegt die Überzeugung zugrunde, dass sich in allen Zeitaltern, Kulturen und Religionen universale, stets wiederkehrende Elemente finden lassen, die in ihrer Gesamtheit eine Urtradition begründen, die außermenschlich gesetzt ist und eine absolute Wahrheit darstellt.
Wie ein roter Faden durchzieht Evolas gesamtes Werk der Dualismus zwischen dem männlichen, solaren und dem weiblichen, lunaren Prinzip. Diese beiden Grundelemente entsprechen den Begriffspaaren Geist und Materie, Bewusstsein und Energie, Sein und Werden, Logos und Chaos, Idee und Realität oder auch Form und Formlosigkeit. Maßgeblich ist für ihn das solare Prinzip, das in sich selbst ruhe und wie ein Kraftzentrum wirke: Der solare Geist ordnet die lunare Materie, das männliche Bewusstsein bedient sich schöpferisch der weiblichen Energie, das Werden und die Realität emanieren aus dem ewigen Sein und der unveränderlichen Idee, der Logos bezähmt das Chaos, und aus der Vereinigung beider erwächst der Kosmos. Dies entspricht der hinduistischen Darstellung Shivas und Shaktis beim Liebesakt: Der Gott Shiva, der das unveränderliche Bewusstsein repräsentiert, verharrt in tiefer Meditation, während die Göttin Shakti, die als Energie zu verstehen ist, sich auf ihm bewegt. Das solare Prinzip zeugt also, während das lunare empfängt.
Der Dissident ist dazu verdammt, «auf verlorenem Posten weiterzufechten».
Alle weiteren wesentlichen Inhalte der traditionalen Philosophie können von diesen beiden Prinzipien abgeleitet werden, etwa die universalen Archetypen: Ein wahrer Mann verwirklicht sich als Krieger oder als Asket, die Frau als Mutter oder Geliebte. Daraus ergibt sich eine hierarchische Gliederung der Gesellschaft in Stände oder Kasten: Asketen (beziehungsweise Weise oder Priester) und Krieger (beziehungsweise der Adel) bildeten sowohl in der hinduistischen als auch in der bis zur Französischen Revolution gängigen europäischen Gesellschaftsordnung die herrschenden Gruppen, während der dritte Stand (das Bürgertum oder die Händler) ebenso wie der vierte Stand (die Arbeiter) nicht über eine vergleichbare Stellung verfügten.
Zeitalter der Dekadenz
Besonders wichtig zum Verständnis der Weltsicht Evolas ist die Geschichtsphilosophie, die er in seinem Hauptwerk Revolte gegen die moderne Welt dargelegt hat. Während man herkömmlicherweise von einem linearen Verlauf der Geschichte ausgeht und steten Fortschritt voraussetzt, ging er – wie Oswald Spengler – von einem zyklischen Verlauf aus. In vier Zeitaltern – diese Vorstellung übernahm Evola von fernöstlichen Quellen; sie war aber auch in der europäischen Antike bekannt, vor allem durch den griechischen Dichter Hesiod – vollzieht sich demnach ein ewiger Kreislauf von Aufstieg, Niedergang, Wiederaufstieg und erneutem Herabfallen. Das gegenwärtige Zeitalter – im Hinduismus das Kali Yuga, in der germanischen Mythologie die Wolfszeit – war für ihn jene Phase, die von totalem Verfall gekennzeichnet ist: Die männlich-solaren – das heißt vor allem heroischen – Werte der Urtradition sind in Vergessenheit geraten, die Bindung an das Göttliche ist gekappt, totaler Materialismus herrscht vor. Dieses Zeitalter der Dekadenz beschließt den Kreislauf, um von einem Goldenen Zeitalter abgelöst zu werden, das am Anfang des neuen Zyklus steht.
In «Revolte gegen die moderne Welt» beleuchtet Evola die Merkmale der Jetztzeit und stellt ihnen die Auffassungen traditionaler Gesellschaften gegenüber. Der Dichter Gottfried Benn zeigte sich seinerzeit überaus beeindruckt von dem Werk, das bis heute Systemkritiker, die im Grundsätzlichen wurzeln, inspiriert. Zur Bestellung klicken Sie HIER oder auf das Bild oben.
Der ideale Staat ist für Evola mithin jener, der der Urtradition entspricht – der organische, sakrale und anagogische Staat: Organisch ist für ihn eine Institution dann, wenn sie ein transzendentes Zentrum hat, von dem sich ein hierarchischer Aufbau ableitet, in dem die Macht auf der lebendigen persönlichen Beziehung zu ebenjenem Zentrum beruht; sakral ist sie, wenn ihre materiellen Erscheinungsformen als Symbole und als Hinführungen zu den hinter ihnen stehenden ewigen Ideen verstanden werden; und anagogisch ist sie, wenn das Höhere bestrebt ist, das hierarchisch Niedere herauszuführen und ihm ideale Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Eine solche Ordnung kann für Evola im Kali Yuga nicht mehr aufgebaut werden.
Freda, Dugin, Bannon
Der moderne Mensch ist nach Evolas Vorstellung also dazu verdammt, dem Niedergang nur noch zusehen, ihn aber nicht abwenden zu können. Dennoch gebe es Einzelne, deren Bestimmung es sei, «auf verlorenem Posten weiter zu fechten», wie er in seinem Buch Cavalcare la tigre (Den Tiger reiten) schreibt. Diesen Dissidenten empfiehlt er die Apoliteia, die Absonderung vom Gemeinwesen, die «unwiderrufliche innere Distanzierung von dieser Gesellschaft und ihren ”Werten”». Zwar betonte Evola, dass er damit lediglich eine Haltung beschreiben wollte, doch einer seiner intellektuellen Schüler, der italienische Rechtsterrorist Franco Freda, leitete daraus aktives Handeln ab, nämlich den Auftrag zur Zerstörung des bürgerlichen Staates. Seinen Ausdruck fand dies in mehreren Bombenschlägen Ende der 1960er und Anfang der 1970er in Italien, die sich, befeuert durch in- und ausländische Geheimdienste, anfangs gegen linke Gegner, am Ende jedoch gegen die Zentralmacht in Rom richteten.
In «Cavalcare la tigre – Den Tiger reiten» rät Evola, den Posten zu halten und den Blick in die Zukunft zu richten, statt sich mit dem Gegenwärtigen abzufinden und sich von den herrschenden Verhältnissen korrumpieren zu lassen. Ein einzigartiges Standardwerk. Zur Bestellung HIER oder auf das Bild oben klicken.
Im Gegensatz zu dieser fast schon nihilistisch anmutenden Destruktivität steht der Versuch des russischen Philosophen Alexander Dugin, die Ideen Evolas in seine Weltanschauung zu integrieren. Für ihn finden sich im orthodoxen Christentum deutliche Spuren der Urtradition. Der frühere Professor der Moskauer Lomonossow-Universität verbindet dies mit seiner Eurasismus-Konzeption, die den kontinentalen Block aus Zentral- und Osteuropa den atlantischen «Händler- und Seefahrernationen» USA und Großbritannien nicht nur geopolitisch, sondern auch geistig-spirituell gegenüberstellt. Dugins Ideal ist ein supranationales, ethnisch und religiös diverses russisches Imperium.
Das Denken Evolas hat auch Donald Trumps früheren Chefstrategen Steve Bannon beeinflusst. In einer Rede bei einer Konferenz im Vatikan 2014 erklärte er unter Bezug auf den Italiener, dass der Kapitalismus im säkularen Staat nicht mehr in der Lage sei, das Wohlergehen der Arbeiterschaft zu sichern. Notwendig sei die Rückkehr zu einer abendländischen Religiosität, die eine neue Ordnung begründet, in der die Interessen von Kapitaleignern und Arbeitnehmern in Ausgleich gebracht werden. Anders als Dugin begreift Bannon den radikalen Islam jedoch nicht als potenziellen Verbündeten, sondern als gefährlichen Gegner, gegen den der Katholizismus in Stellung gebracht werden muss.
In seinem Buch Gegen die moderne Welt, das die «geheime Geistesgeschichte» der letzten 100 Jahre nachzeichnet, schreibt der britische Historiker Mark Sedgwick: «Wenn etwas im Westen derzeit seinem Ende entgegenzugehen scheint, dann ist es der Liberalismus des späten 20. Jahrhunderts, nicht der Traditionalismus.» Letzterer inspiriere zunehmend die politischen Akteure populistischer Bewegungen. Eine Renaissance von Evolas Denken ist somit nicht ausgeschlossen.
_ Manuel Peters (*1980) ist im Bereich der Blockchain-Technologie tätig. In seiner Freizeit widmet er sich religionswissenschaftlichen und philosophischen Fragen. Er schrieb bisher unter anderem für die Zeitschrift «eigentümlich frei». In COMPACT 12/2019 befasste er sich mit Hintergründen zum Fall Relotius.
Dieser Artikel erschien im COMPACT-Magazin 06/2020. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form hier bestellen.