Sind die „an Covid-19 Verstorbenen“ wirklich nur dem Coronavirus zuzuschreiben? Oder gibt es andere Faktoren, die – warum auch immer – vollkommen unberücksichtigt bleiben. Unser Autor, ehemaliger Mitarbeiter der Berliner Charité, beleuchtet entscheidende Fragen, die einen ganz anderen Umgang mit der Krankheit und den Maßnahmen dagegen nahelegen. Heute im ersten Teil:  Eosinopenie und das Immunsystem.

    _ von Rolf Lindner

    Völlig unbestritten ist, dass der weit überwiegende Teil der jungen Menschen, sogar der ganz jungen Menschen, gemeint sind Babys, an einer Infektion mit dem Coronavirus (Sars-CoV-2) nicht oder – wenn überhaupt – nur mild erkrankt. Es wird darüber gerätselt, warum das so ist.

    Das gängigste Lösungsangebot ist, dass das Immunsystem derjenigen, bei denen die Infektion mit dem Virus asymptomatisch bleibt, schon einmal mit Coronaviren anderer Spezies oder ähnlichen Viren Kontakt hatte und deshalb infolge einer Kreuzimmunität vorbereitet ist. Das kann aber nicht stimmen, denn dieses Phänomen müsste bei allen anderen Erkrankungen der Atemwege, die auf einer Virusinfektion beruhen, ebenfalls auftreten.

    Babys, Kleinkinder und junge Menschen erkranken – wenn überhaupt – nur mild an Corona. Foto: CC0, Pixabay

    Bekanntermaßen tut es das nicht. Mütter von Babys und Kleinkindern können Lieder davon singen, wie sich das Immunsystem mit häufig leicht verlaufenden Erkrankungen durch Atemwegsinfektionen der Kleinen aufbaut. Das Phänomen muss also anders erklärbar sein. Betrachtet man es jedoch von dem Standpunkt, dass das Immunsystem eines jeden Lebewesens sich ständig mit Viren und anderen potenziellen Krankheitserregern herumschlagen muss, ohne dass es zu einer Erkrankung kommt, dann schrumpft das Phänomen zu einem normalen Vorgang zusammen, was nichts anderes bedeutet, als dass das Sars-CoV-2 weniger krankheitserregend als ein schnödes Schnupfenvirus ist, aber mehr als ein Virus, das gar keine Erkrankung verursacht.

    Unzureichende Infektionsabwehr

    Offensichtlich ist, dass sich die Gefährlichkeit von Sars-CoV-2 aus einer Mischung der häufigen asymptomatischen Infektionen und seiner ungewöhnlich langen Inkubationszeit ergibt, weil sich das Virus unerkannt verbreiten kann, bis es auf eine für Infektionen vulnerable Person trifft und dann seine von milde über schwer krankheitserregende bis todbringende Wirkung entfalten kann.

    Daraus ergibt sich die Frage, wer die vulnerablen Personen sind beziehungsweise wodurch ihre Vulnerabilität gekennzeichnet ist. Schon im April 2020 veröffentlichten Ärzte aus Wuhan klinische Daten nach Hospitalisation von 85 später an Covid-19 verstorbenen Patienten, wobei den Ärzten auffiel, dass den Patienten neben den üblichen Komorbiditäten (Bluthochdruck, Diabetes, Herzkranzgefäßerkrankungen) ein als Eosinopenie bezeichneter Mangel an eosinophilen Granulozyten (EOS) eigen war, der außerdem durch eine Lymphozytopenie – dem Mangel an Lymphozyten – ergänzt wurde (1). Bei einer Erkrankung infolge einer Infektion sollte man eigentlich einen Anstieg des Lymphozytenwertes erwarten, außer wenn es sich um eine Infektion mit einem Lymphozyten zerstörenden AIDS-Virus handeln würde, die bei diesen Patienten jedenfalls nicht vorlag.


    Die Aufgaben der Lymphozyten für die Abwehr von Infektionen sind hinreichend bekannt, weitaus weniger jedoch, welche Rolle die EOS dabei spielen. Allgemein ist bekannt, dass die Aufgabe der EOS die Parasitenabwehr ist. Man muss schon direkt in den einschlägigen Datenbanken suchen, um Literatur über die Rolle der EOS bei der Abwehr von Viren, speziell Viren der Art des Sars-CoV-2 zu finden. Derartige Viren, zu denen AIDS-Viren, Grippeviren oder Hepatitisviren gehören, werden als Einstrang-RNA-Viren bezeichnet, weil ihre Erbinformation aus einem einzigen RNA-Strang besteht. Ein von EOS abgegebenes, als EDN (eosinophilic derived neurotoxin) bezeichnetes Toxin, richtet sich genau gegen solche RNA-Stränge, weshalb es auch als Ribonuklease (RNase) benannt wird (2,3).

    Das allein macht jedoch die antivirale Wirkung der EOS nicht aus. Eine weitere antivirale Barierre errichten die EOS durch Produktion von Stickoxid (4). Beide antiviralen Effekte zusammen bedeuten, dass EOS die vorderste Front im Kampf gegen eine Virusinfektion darstellen, ohne vorerst die Hilfe anderer Zellen oder Mechanismen des Immunsystems in Anspruch zu nehmen.

    Manifeste Immunschwäche

    Damit endet die antivirale Wirkung der EOS jedoch nicht, denn in der nächsten Stufe kommt tatsächlich die Hilfe anderer Zellen ins Spiel, nämlich die spezieller T-Helferzellen, den T-Suppressorzellen oder CD8-Lymphozyten, denen eine wesentliche Funktion bei der Abwehr von u.a. Vireninfektionen zugeschrieben wird und deren Produktion und Aktivierung durch die EOS angeregt wird (5,6).

    CD8-Lymphozyten sind ein wesentlicher Teil der Lymphozyten überhaupt, was bedeutet, dass die eingangs beschriebenen Patienten infolge des Mangels an EOS und der zumindest teilweise daraus resultierenden Unfähigkeit ihres Immunsystems, CD8-Lymphozyten zu aktivieren, als auch des Mangels an Lymphozyten überhaupt einen doppelten Nachteil und deshalb keine Chance zur Abwehr der Sars-CoV-2 hatten, aber auch keine Chance zur Abwehr einer anderen Vireninfektion der Atemwege gehabt hätten.


    Wenn jedoch ein anderes Virus – am wahrscheinlichsten ein Grippevirus – den Tod dieser Patienten verursacht hätte, stellt sich die Frage, ob es richtig ist zu sagen, dass die Patienten an Covid-19 verstorben sind, obwohl die zugrunde liegende Krankheit die Schwäche des Immunsystems war, EOS und Lymphozyten zu produzieren und zu aktivieren, oder kurz gesagt eine manifeste Immunschwäche war.

    Der Vergleich mit AIDS

    Die Frage der eigentlichen Todesursache muss man mit der Terminologie der Todesursache bei an AIDS-Verstorbenen vergleichen. Es ist die uralte Frage nach Ursache und Wirkung. Ist zum Beispiel jemand am Karposisarkom verstorben, woran er erkrankte, weil er ein geschwächtes Immunsystem aufgrund einer HIV-Infektion hatte? Ich plädiere immer dafür, die Ursache beim Namen zu nennen, und die ist in beiden Fällen eine Immunschwäche, wobei sie im Sars-CoV-2-Infektionsfall altersbedingt und im Karposisarkomfall HIV-infektionsbedingt ist. Überspitzt könnte man die beiden Todesursachen als AIDS verschiedenen Typs bezeichnen: Typ 1 = age-related immune deficiency syndrom. Typ 2 = acquiered immune deficiency syndrom.


    Doch so einfach ist der Zusammenhang zwischen hohem Alter und Immunschwäche nicht. Die Toten der hier zitierten Wuhan-Veröffentlichung hatten ein relativ niedriges Durchschnittsalter von ca. 66 Jahren. Mit 66 Jahren oder sogar weitaus älter kann man ein sehr gut funktionierendes Immunsystem haben, sonst würde die durchschnittliche Lebenszeiterwartung von ca. 81 Jahren deutlich niedriger sein. Es muss also noch weitere Gründe geben, die sowohl niedrige Lymphozytenwerte als auch niedrige EOS-Werte verursachen können.

    Lesen Sie hier den zweiten Teil.

    _ Rolf Lindner arbeitete sieben Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte am Institut für Experimentelle Endokrinologie der Charité zu Berlin. Danach war er in weiteren Positionen sowohl in der medizinischen Forschung als auch in der Gesundheitsindustrie tätig.


    Fußnoten:

    1. Yingzhen Du et al.: Clinical Features of 85 Fatal Cases of COVID-19 from Wuhan. A Retrospective Observational Study. Am J Respir Crit Care Med. 2020 Jun 1; 201(11): 1372–1379. doi: 10.1164/rccm.202003-0543OC

    2. J B Domachowske et al.: Evolution of Antiviral Activity in the Ribonuclease A Gene Superfamily: Evidence for a Specific Interaction Between Eosinophil-Derived Neurotoxin (EDN/RNase 2) and Respiratory Syncytial Virus. Nucleic Acids Res. 1998 Dec 1; 26(23): 5327–5332. doi: 10.1093/nar/26.23.5327

    3. H F Rosenberg and J B Domachowske: Eosinophils, eosinophil ribonucleasis, and their role in host defense against respiratory virus pathogens. J Leukoc Biol. 2001 Nov;70(5):691-8. doi: 10.1189/jlb.70.5.691

    4. Matthew G Drake et al.: Human and Mouse Eosinophils Have Antiviral Activity Against Parainfluenza Virus. Am J Respir Cell Mol Biol. 2016 Sep;55(3):387-94. doi: 10.1165/rcmb.2015-0405OC

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