Immunschwäche spielt bei Corona-Erkrankungen – wie bei AIDS – eine entscheidende Rolle, wie im ersten Teil dargelegt wurde. Doch es gibt noch einen weiteren Faktor, der in der öffentlichen Berichterstattung vollkommen außer Acht gelassen wird – genau wie die Frage einer wirksamen Vorbeugung. Im zweiten Teil widmet sich unser Autor, ein ehemaliger Mitarbeiter der Berliner Charité, diesen Themenfeldern.
_ von Rolf Lindner
Teil 1 dieses Beitrags finden Sie hier.
Immunschwäche ist ein entscheidender Faktor bei Covid-Erkrankungen von älteren Menschen. Doch so einfach ist der Zusammenhang zwischen hohem Alter und Immunschwäche nicht. Die Toten der zuvor zitierten Wuhan-Veröffentlichung hatten ein relativ niedriges Durchschnittsalter von circa 66 Jahren. Mit 66 Jahren oder sogar weitaus älter kann man ein sehr gut funktionierendes Immunsystem haben, sonst würde die durchschnittliche Lebenszeiterwartung von circa 81 Jahren deutlich niedriger sein. Es muss also noch weitere Gründe geben, die sowohl niedrige Lymphozytenwerte als auch niedrige Werte von an eosinophilen Granulozyten (EOS) verursachen können, von denen jedoch nur einer in Frage kommt: Stress.
Die in diesem Zusammenhang wesentlichste Antwort eines Organismus auf Stress ist die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Die Konzentration dieses Hormons wirkt sich nicht nur reduzierend auf die beiden Parameter Lymphozyten- und EOS-Konzentration aus, sondern auf die gesamte Immunreaktivität. Diese Eigenschaft ist hinlänglich bekannt, und das Hormon selbst beziehungsweise seine Derivate, die als Glukokortikoide bezeichnet werden, werden zur Bekämpfung von Autoimmunkrankheiten, Entzündungen und manchmal noch Abstoßungsreaktionen nach Organtransplantationen genutzt.
Asthmakranke weniger betroffen
Seit längerem pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass die wenigsten der Corona-Toten an der Infektion allein erkrankt waren, sondern die weitaus meisten – wie die zuvor angeführten Wuhan-Toten – an mindestens einer weiteren schweren Erkrankung litten, die in jedem Fall Stress und damit erhöhte Cortisolwerte bedeutet.
Bekanntlich wird Stress jedoch nicht nur allein durch die körperliche Belastung einer schweren Erkrankung erzeugt. Der psychische Stress nicht nur durch die Krankheit allein, sondern durch die Hospitalisierung und die Erkenntnis, sehr schwer bis tödlich krank zu sein, dürften die Psyche nicht unbedingt entlasten. Letztendlich ist die Frage nicht beantwortet, wie viele der Corona-Toten wurden vor ihrer Erkrankung mit immunsupressiven Medikamenten wie zum Beispiel Glukokortikoiden behandelt.
Die Autoren der Wuhan-Studie stellen fest, dass niedrige EOS-Werte als Kriterium für eine schlechte Prognose der Erkrankung angesehen werden können, und stehen damit nicht allein. Kollegen einer anderen Klinik in Wuhan stellten bei 140 Covid-19-Patienten, die jedoch nicht verstarben, ebenfalls eine hochsignifikante Häufung von Eosinopenien in Begleitung von Lymphozytopenien nach der Hospitalisation fest (7). Sie postulieren sogar, dass der Mangel an EOS und Lymphozyten mit dem Schweregrad der Erkrankung korreliert.
Die Bedeutung von EOS-Werten für die Diagnose und den Verlauf von Covid-19 wird durch ein Phänomen unterstrichen, dass in dieser Studie beobachtet wurde und aus erster Sicht paradox erscheinen mag. Eigentlich sollte man erwarten, dass Asthmakranke und Menschen mit Allergien, die die Atemwege betreffen, allein entsprechend der Verteilung in der Bevölkerung in der Kohorte mit mindestens neun Personen vertreten sein müssten. Man könnte sogar erwarten, dass die davon Betroffenen besonders gefährdet sind, an einer Sars-CoV-2-Infektion zu erkranken. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Es gab keine Patienten mit solchen Vorerkrankungen!
Erklärbar ist das Phänomen dadurch, dass bei Asthma und derartigen Allergien besonders viele EOS in den Organen der Atemwege gebildet werden und bei Betroffenen häufig Eosinophilien – erhöhte Werte für EOS – gefunden werden. Entsprechend stellten Ärzte einer dritten Klinik in Wuhan fest, dass Asthmakranke in einer Kohorte von 548 Patienten hochsignifikant unterrepräsentiert waren (8).
Neben vielen Patienten mit den typischen Komorbiditäten gab es einen hohen Anteil von Patienten, die zur Zeit ihrer Aufnahme ins Krankenhaus oder davor mit Glukokortikoiden behandelt wurden. Erwartungsgemäß war der Verlauf der Erkrankung bei diesen Patienten am schwersten bzw. am tödlichsten. Inzwischen haben die frühen Erkenntnisse vom Frühjahr 2020 aus den Kliniken in Wuhan über den Schutz vor Covid-19 durch Asthmaerkrankungen eine Flut von Veröffentlichungen unter anderem von europäischen Kliniken ausgelöst (z.B. 9,10), wobei sich die Autoren hinsichtlich der Ursachen und Mechanismen des Phänomens nicht einig sind, die Eosinophilie jedoch immer wieder das Hauptkriterium ist (zum Beispiel 11).
Ärzte fordern Therapie mit Vitamin D
Eine weitere Komponente die immunsuppressive Wirkung des Stresshormons Cortisol betreffend kommt mit der Bedeutung von sowohl der Nahrungsergänzung mit Vitamin D für die Immunprophylaxe als auch der Therapie von Covid-19 mit Hilfe einer Bolusgabe von Vitamin D hinzu. Mit dem Stand vom 25. Januar fordern über 200 renommierte Ärzte in einem Aufruf, die Covid-Prophylaxe und -Therapie mit Hilfe von Vitamin-D zu verbessern (12) und beziehen sich dabei u.a. auf spektakuläre Ergebnisse von Studien spanischer Wissenschaftlern aus Cordoba hinsichtlich der Therapie (13) und hinsichtlich der Prophylaxe von US-amerikanischen Wissenschaftlern aus Boston (14).
Wissenschaftler der Universität Kopenhagen haben vor wenigen Jahren herausgefunden, dass Vitamin D für das Funktionieren des Immunsystems erforderlich ist. Ohne Vitamin D werden T-Helferzellen nicht in T-Killerzellen umgewandelt (15).
Die Zahl der Veröffentlichungen über den Nutzen von Vitamin D für die Verstärkung des Immunsystems im Allgemeinen und seine Bedeutung für den Schutz vor Erkältungskrankheiten, besonders vor Covid-19, steigt seit dem Frühjahr 2019 inflationär an. Übersichtsartikel stellen die klinischen Erfahrungen als auch die Untersuchungen der Funktionsmechanismen der Vitamin D-Wirkungen dar und zeigen klar, dass Vitamin D nicht einfach nur den Knochenstoffwechsel moderiert, sondern eine Vielzahl von anabolen Funktionen besitzt, von denen die spektakulärste im Zusammenhang mit Covid-19 in der Reduzierung der Gefahr des gefürchteten und meistens tödlichen Zytokinsturms besteht (zum Beispiel 16,17,18,19).
In allen Veröffentlichungen wird immer wieder der Zuammenhang zwischen niedrigen Vitamin D-Konzentrationen im Blut und den Komorbiditäten Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes und Übergewicht – auch als Metabolisches Syndrom bezeichnet – betont. Verwunderlich ist dabei nicht, dass das Metabolische Syndrom in einer Ursache-Wirkung-Wechselbeziehung eng mit einer Überproduktion des Stresshormons Cortisol verbunden ist. Man kann getrost postulieren, dass Vitamin D und Cortisol Antagonisten in der Modulation des Immunsystems sind, wobei die Rolle des Cortisols bei der Dämpfung überschießender, allergischer und autoimmuner Reaktionen nicht unterschätzt werden darf, so dass es nicht darum geht, einfach nur den bei niedrigem Sonnenstand und dunkler Haufarbe gehäuft auftretenden Mangel an Vitamin D durch erhöhte Zufuhr auszugleichen, sondern ein Gleichgewicht zwischen den beiden Antagonisten herzustellen.
Geht man jedoch davon aus, dass Cortisol einerseits die Produktion von Lymphozyten und EOS und andererseits die Vitamin-D-induzierte Umwandlung von T-Helferzellen in T-Killerzellen blockiert, ist der Gedanke naheliegend, dass an Covid-19 schwerkrankte Patienten mit sowohl Vitamin-D-Mangel und als auch einer Begleiterkrankung doppelt benachteiligt sind.
Alles bisher Dargelegte wäre umsonst, wenn daraus nicht eine Empfehlung für eine alternative Therapie beziehungsweise Medikation gegen Covid-19 resultieren würde.
Dies wird Thema des dritten Teils dieses Beitrags sein, den Sie morgen auf COMPACT-Online lesen können.
_ Rolf Lindner arbeitete sieben Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte am Institut für Experimentelle Endokrinologie der Charité zu Berlin. Danach war er in weiteren Positionen sowohl in der medizinischen Forschung als auch in der Gesundheitsindustrie tätig.
Fußnoten:
5. Amali E. Samarasinghe et al.: Eosinophils Promote Antiviral Immunity in Mice Infected with Influenca A Virus. J Immunol April 15, 2017, 198 (8) 3214-3226; doi: 10.4049/jimmunol.1600787
6. Z T Handzel et al.: Eosinophils Bind Rhinovirus and Activate Virus-Specific T Cells. J Immunol February 1, 1998, 160 (3) 1279-1284;
7. Jin-jin Zhang et. al.: Clinical characteristics of 140 patients infected with SARS‐CoV‐2 in Wuhan, China. Allergy, Volume75, Issue7, July 2020, Pages 1730-1741. doi: 10.1111/all.14238
8. Xiaochen Li et al.: Risk factors for severity and mortality in adult COVID-19 inpatients in Wuhan. J Allergy Clin Immunol. 2020 Jul;146(1):110-118. doi: 10.1016/j.jaci.2020.04.006
9. Denisa Ferastraoaru et al.: Eosinophilia in Asthma Patients Is Protective Against Severe COVID-19 Illness. J Allergy Clin Immunol Pract. 2021 Jan 23. doi: 10.1016/j.jaip.2020.12.045
10. Giulia Carli et al.: Is asthma protective against COVID‐19? Allergy. 2020 Jun 17. doi: 10.1111/all.14426.
11. Brian Lipworth et al.: Type 2 Asthma Inflammation and COVID-19: A Double Edged Sword. J Allergy Clin Immunol Pract. 2021 Jan 6. doi: 10.1016/j.jaip.2020.12.033
12. Over 200 Scientists & Doctors Call For Increased Vitamin D Use To Combat COVID-19. https://vitamind4all.org/letter.html
13. Marta Entrenas Castillo et al.: “Effect of calcifediol treatment and best available therapy versus best available therapy on intensive care unit admission and mortality among patients hospitalized for COVID-19: A pilot randomized clinical study”. J Steroid Biochem Mol Biol. 2020 Oct; 203: 105751. doi: 10.1016/j.jsbmb.2020.105751
14. Harvey W. Kaufman et. al.: SARS-CoV-2 positivity rates associated with circulating 25-hydroxyvitamin D levels. PLoS ONE 15(9): e0239252. doi: 10.1371/journal.pone.0239252
15. Marina Rode von Essen et al.: Vitamin D controls T cell antigen receptor signaling and activation of human T cells. Nat Immunol. 2010 Apr;11(4):344-9. doi: 10.1038/ni.1851
16. John P Bilezikian et al.: MECHANISMS IN ENDOCRINOLOGY: Vitamin D and COVID-19. European Journal of Endocrinology, Nov 2020, Volume 183: Issue 5, R133–R147. doi: 10.1530/EJE-20-0665
17. William B Grant et al.: Evidence that Vitamin D Supplementation Could Reduce Risk of Influenza and COVID-19 Infections and Deaths. Nutrients. 2020 Apr 2;12(4):988. doi: 10.3390/nu12040988.
18. Armin Zittermann: Vitamin D in preventive medicine: are we ignoring the evidence? Br J Nutr. 2003 May;89(5):552-72. doi: 10.1079/BJN2003837.
19. G Buonsanti: Vitamin D: from antirachitic factor to indicator of the general state of health. Minerva Med. 2011 Aug;102(4):321-32.