In Joe Bidens Amerika wütet der Furor gegen vermeintlich vorurteilsbeladene Klassiker. Nun sind auch sechs Bücher von Dr. Seuss dem Löschwahn zum Opfer gefallen – dem Vater des Grinch wird Rassismus vorgeworfen. Ein weiteres prominentes Beispiel für die grassierende Cancel Culture finden Sie in unserer März-Ausgabe, die man hier bestellen kann.

    Theodor Seuss Geisel alias Dr. Seuss, Aufnahme von 1952. | Foto: Al Ravenna, CC0, Wikimedia Commons

    Der Kinderbuchautor Dr. Seuss (eigentlich Theodor Seuss Geisel) hat in den USA ungefähr denselben Stellenwert wie bei uns Astrid Lindgren (Pippi Langstrumpf) und Otfried Preußler (Die kleine Hexe). Mit Letztgenannten teilt der 1904 in Springfield (Massachusetts) geborene und 1991 in La Jolla (Kalifornien) verstorbene Schriftsteller und Cartoon-Zeichner nun auch das Schicksal, ins Räderwerk der sogenannten Cancel Culture geraten zu sein. Damit bezeichnet man Bestrebungen, bestimmte Autoren oder deren Werke aus der Öffentlichkeit zu verbannen oder zu beschneiden, weil sie nicht mehr ins Korsett der heutigen Political Correctness passen.

    Wir erinnern uns: Bei Pippi Langstrumpf ging es darum, dass Lindgren mit Wörtern wie „Negerkönig“ oder der Beschreibung des fiktiven Taka-Tuka-Landes angeblich rassistische Stereotype, die „kolonialem Denken“ entsprungen seien, perpetuiert habe. In den neueren Auflagen des Klassikers wurde deswegen beispielsweise aus dem „Negerkönig“ (der übrigens ein weißer ist, nämlich Pippis Vater) ein „Südseekönig“. Ähnlich war es bei der Kleinen Hexe: Auch in Preußlers Erzählung tauchen keine „Negerlein“, „Chinesenmädchen“ und „Türken“ beim Fasching mehr auf. Ob der nun verwendete Begriff „Messerwerfer“ unbedingt besser ist, sei einmal dahingestellt…

    Riesige Fangemeinde

    Jetzt hat es also auch Dr. Seuss erwischt, der hierzulande vor allem durch seinen Grinch bekannt ist. Die Geschichte von dem grünen Zottelwesen, das den Leuten von Whoville das Weihnachtsfest verderben will, später aber eines Besseren belehrt wird, wurde zweimal verfilmt: einmal als Spielfilm (2000) mit Jim Carrey in der Titelrolle, einmal als Animationsfilm (2018) mit der Stimme von Otto Waalkes in der deutschen Synchronisation.

    Um den Grinch geht es zwar in der aktuellen Debatte nicht, dafür um sechs andere Bücher von Dr. Seuss, nämlich And to think that I saw it on Mulberry Street, If I ran the Zoo, McElligot’s Pool, On beyond Zebra!, Scrambled Eggs Super! und The Cat’s Quizzer. In all diesen Werken, die amerikanische Kinder – und sicherlich nicht nur weiße – schon seit Jahrzehnten von ihren Eltern vorgelesen bekommen, wurden angeblich rassistische und diskriminierende Passagen ausgemacht.

    Dabei hat der Kinderbuchautor in den USA eine riesige Fangemeinde, zu der nicht zuletzt auch Ex-Präsident Barack Obama gehört. Noch 2015 schwärmte dieser in einer Rede im Weißen Haus von Erzählungen wie The Cat in the Hat oder The Sneetches, die ihn zu einem besseren, empathischeren Menschen gemacht hätten. Dr. Seuss hat fast 60 Bücher geschrieben und illustriert. Auf Deutsch erschienen unter anderem Der Elefant im Vogelnest und Der Katz mit dem Latz.

    Afrikaner im Bastrock, Chinesen mit Stäbchen

    Doch selbst Fürsprecher wie Obama helfen wenig, wenn denunziatorische Abhandlungen wie „The Cat is out of the Bag: Orientalism, Anti-Blackness, and White Supremacy in Dr. Seuss’s Children’s Books“ im Umlauf sind. Die aus dem linksliberalen akademischen Milieu stammenden Autoren können darin nicht dick genug auftragen: Nahezu alle Bücher von Dr. Seuss, behaupten sie, bildeten eine „weiße Vorherrschaft“ und maskuline Dominanz ab, da 98 Prozent aller auftauchenden Charaktere weiß und männlich seien. Die zwei Prozent der „People of Color“ in den Geschichten seien ausschließlich „in untertänigen, exotisierenden oder entmenschlichten Rollen dargestellt“.

    Drei Beispiele, die die Autoren anführen: In If I Ran the Zoo werden zwei afrikanische Eingeborene im Bastrock dargestellt, in And to Think That I Saw It on Mulberry Street sieht man Chinesen mit schmalen Augenschlitzen und Essstäbchen in der Hand und in McElligot’s Pool wird, ganz schlimm, „Eskimofisch“ serviert.

    Eine der beanstandeten Seiten aus „I Ran the Zoo“ (1950). | Foto: Repro COMPACT

    Mit ihrem Artikel haben die Autoren eine Debatte in den USA losgetreten, in deren Verlauf nicht nur ein Lehrerverband die inkriminierten Bücher von Dr. Seuss aus dem Unterrichtskanon strich, sondern vor wenigen Tagen auch der Nachlassverwalter und Verlag der Schriften, Dr. Seuss Enterprises, erklärte, die oben genannten sechs Bücher künftig nicht mehr zu publizieren. „Diese Bücher stellen Menschen auf eine Art und Weise dar, die verletzend und falsch ist“, heißt es in einer Erklärung des Unternehmens. Die Entscheidung sei bereits im vergangenen Jahr gemeinsam mit Experten getroffen worden.

    Cancel Cthulhu

    In unserer März-Ausgabe berichten wir über einen weiteren Schriftsteller, der der Cancel Culture zum Opfer fallen könnte. Dabei handelt es sich um keinen Geringeren als H. P. Lovecraft, den bedeutendsten Autor fantastischer Literatur des 20. Jahrhunderts. Auch ihm wird Rassismus vorgeworfen. Unser Autor Michael Kumpmann schreibt dazu:

    Politisch vertrat Lovecraft die Idee eines aristokratischen Konservatismus. Dem demokratischen Gedanken äußerst skeptisch gegenüberstehend, wollte er an der Spitze des Staates eine geistige Elite sehen, die sich ihre Führungsstellung durch besondere Verdienste erwirbt. Ziel der Regierung sollte es nach Lovecrafts Ansicht vor allem sein, die Kultur vor Dekadenz zu schützen. (…)

    Unzweifelhaft tauchen in Lovecrafts Veröffentlichungen rassistische Denkmuster auf. (…) In Das Grauen in Red Hook (1927) beschreibt er New York mit Blick auf die schwarze und hispanische Bevölkerung als ‚babylonisches Gewirr des Lärms und Schmutzes‘, das die ‚finstersten instinktiven Verhaltensmuster primitiver Halbaffen wiederholt‘. (…) Obwohl er mit einer Jüdin verheiratet war, hegte Lovecraft auch starke Vorbehalte gegenüber Juden – aber genauso wenig konnte Iren, Polen, Inder und Franko-Kanadier leiden.

    Es könnten also ziemlich viele Volksgruppen einen Groll gegen den Jahrhundertschriftsteller hegen, ihn aus der Öffentlichkeit verbannen wollen allerdings hauptsächlich afroamerikanische Lobbygruppen und deren weiße Stichwortgeber aus dem linksliberalen Milieu. Schon 2016 wurde in den USA die Lovecraft gewidmete Büste des World Fantasy Award, einer der wichtigsten Auszeichnungen für Science-Fiction- und Fantasy-Literatur, abgeschafft. Seitdem reißen die Bemühungen, sein Erbe der sogenannten Cancel Culture zu unterwerfen, nicht ab. Angefacht wurde dies zuletzt durch Lovecraft Country: Die seit August 2020 von HBO ausgestrahlte Horrorserie spielt mit Motiven des Cthulhu-Mythos, beschäftigt sich aber zugleich mit Rassentrennung und Schwarzendiskriminierung im Amerika der 1950er Jahre. Nur in dieser Form, meinen manche Kommentatoren, sei Lovecraft dem Publikum noch zumutbar.

    So viel zu Lovecraft. Den kompletten Artikel über den Schriftsteller und die Bestrebungen, seine Werke aus der Öffentlichkeit zu verbannen, lesen Sie in unserer aktuellen Ausgabe von COMPACT, die Sie hier bestellen können.

    Von wegen Rassist

    Doch wie sieht es mit Dr. Seuss aus? War er tatsächlich so ein böser Rassist, wie er nun hingestellt wird?Wohl kaum! In seiner Erzählung The Sneetches geht es um gelbe Vögel, von denen einige einen Stern auf dem Bauch haben. Diese werden von ihren Artgenossen ohne Stern zunächst verächtlich gemacht und ausgegrenzt. Schließlich sehen die Vögel jedoch ein, dass alle Sneeches gleich viel wert sind und die gleichen Rechte haben sollten. Die Geschichte wird als Parabel gegen Antisemitismus und Rassendiskriminierung gelesen.

    Andreas Platthaus, Literaturredakteur der FAZ und Comic-Experte, findet die Vorwürfe gegen Dr. Seuss nicht nur deswegen haltlos. „Das sind ganz sicher keine rassistischen Bücher“, so Platthaus gegenüber dem Deutschlandfunk. Es gebe in den sechs Büchern, die aus dem Verkehr gezogen werden, „keine einzige Darstellung, die in gewisser Weise etwas Verletzendes mit den Figuren vorhätte“. „Das sind alles hochsympathische Figuren, die da auftreten. Sie sind aber eben nach bestimmten ethnografischen Stereotypen gearbeitet.“ Der vor 30 Jahren gestorbene Autor habe halt mit „Identitätsdiskursen“ noch nicht viel zu tun gehabt, so Platthaus süffisant.

    Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, ob findige Kulturwächter auch beim Grinch irgendetwas Verwerfliches oder vermeintlich Rassistisches ausmachen. Mit entsprechender Böswilligkeit und Interpretationsfreudigkeit dürfte das heutzutage kein Problem sein. Ob der miesepetrige, aber im Grunde herzensgute Zottel die Kinder diesseits und jenseits des großen Teiches auch weiterhin an Weihnachten erfreuen darf, bleibt abzuwarten.


    In unserer März-Ausgabe widmen wir uns neben der Cancel Culture und anderen aktuellen politischen Themen vor allem den „Kindern des Lockdowns“: Erfahren Sie alles über erschreckende Fakten, Zahlen und Daten: über zunehmende Schwierigkeiten der Kleinen in der Schule, aber auch über vermehrte psychische Probleme, lange Wartelisten in den Kliniken, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, ja, bei vielen sogar Überdruss am noch jungen Leben und Suizidgedanken. Lesen Sie die Schilderungen von Betroffenen, von Kindern, Eltern und Experten. Unsere März-Ausgabe ist eine schreiende Anklage – sie zeigt aber auch auf, wie wir unsere Kinder schützen können – und was zu tun ist, damit keine verlorene Generation heranwächst. Zur Bestellung klicken Sie hier oder auf das Banner oben.

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