Kurz vor Ausbruch der großen Krise, die als „Corona-Krise“ in die Weltgeschichte eingehen wird, kam die Verfilmung von „Narziß und Goldmund“, Hermann Hesses berühmter Erzählung aus dem Jahr 1930, in die Kinos. Ein langes Leben war dem Film aus den bekannten Gründen in den Lichtspielhäusern nicht beschieden. Doch wer ihn in der ersten Woche gesehen hat, der wird sich an die Seuche erinnern, die, ziemlich genau in der Mitte der Handlung, das Land heimsucht, in dem der herumziehende Goldmund unterwegs ist.

    Man mag es für Zufall oder Fügung halten, jedenfalls widmet sich der sprachlich schillerndste Abschnitt der Filmvorlage dem Wüten einer Epidemie in Deutschland und dem, was das mit den Menschen macht. Für manche gehört das Pest-Kapitel aus „Narziß und Goldmund“ sogar zu den großartigsten Schilderungen der Seuche in der deutschen Literatur schlechthin. Tod und Vergänglichkeit, mit denen der rastlose Held Goldmund auf seiner Wanderschaft permanent konfrontiert wird, sind ein zentrales Thema des Romans. Hesse, Sohn evangelischer Missionare, stellt in seiner Darstellung des Grauens eine Verbindung her zwischen „wütendem Tod“ und „irrem Angstwahn“. Als Angstwahn bezeichnet er die Reaktion des deutschen Durchschnittsbürgers auf das Wüten des Würgeengels: Ein Bischof ergreift panisch die Flucht, anstatt seinen Schäflein gerade in der Stunde der Bedrängnis beizustehen. Es gibt Leichenfledderei, Zechgelage, Folter und die fast schon erwartbaren mörderischen Übergriffe gegen jüdische Mitbürger, die ewigen Prügelknaben der Kleinkrämerseele.

    Diesem Angstwahn gegenübergestellt wird die burschikose Unbekümmertheit des Unbehausten. Über Goldmund heißt es lakonisch: „Furcht fühlte er nicht.“ Doch es ist nicht Naivität, die den Vagabunden so wenig panisch reagieren lässt, es ist das Gegenteil: Ein klares Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit und Todverfallenheit. Er hat in früheren Begegnungen mit dem ungeliebten Gevatter begriffen, dass der Tod ein integraler Bestandteil des Daseins ist, den man nicht aussperren oder abwimmeln kann wie den zudringlichen Gerichtsvollzieher, der Schulden eintreiben kommt, die man nicht zahlen will. Eine schwer begreifbare Neugierde, ein Verlangen, „dem Schnitter zuzusehen, das Lied der Vergänglichkeit zu hören“, treibt den Lebemann mitten hinein in das Toben des Todes.

    „Das Schlimmste“ sind bei seinen Streifzügen durch das verseuchte Land aber „nicht die ausgestorbenen Häuser, die an der Kette verhungerten und verwesenden Hofhunde, die unbegraben liegenden Toten, die bettelnden Kinder, die Massengräber vor den Städten. Das Schlimmste waren die Lebenden, die unter der Last von Schrecken und Todesangst ihre Augen und ihre Seelen verloren zu haben schienen.“

    Hermann Hesse (1926). Foto: Gret_Widmann. Gemeinfrei, Wikipedia, CC0

    Das sind nachdenklich stimmende Worte von beklemmender Aktualität. Sie führen nämlich mitten hinein in unser von „Corona“ aus den Angeln gehobenes Gemeinwesen. Sie führen zu der Frage, wie eine Demokratie aussehen müsste, die ihre Seele verloren hat. So wie Deutschland, Frankreich, Italien anno 2020, wo keiner mehr einen Blick dafür zu haben scheint, was mit den Bürgerrechten passiert ist, um die vor 200 Jahren noch so erbittert gerungen wurde?

    In seiner Focus-Kolumne schrieb der Journalist Jan Fleischhauer in der Woche nach Ostern, vielleicht sei das eine Berufskrankheit, aber Zustimmungswerte zur Abschaffung grundlegender Freiheitsrechte von um die neunzig Prozent lösten bei ihm Beklemmungen aus. Das sei ihm unheimlich. Selbst Adolf Hitler habe solche Werte nie erreicht. Umso erstaunlicher wirkt diese Zahl, wenn man in seinem unmittelbaren privaten Umfeld keinerlei Entsprechung dazu findet.

    Ich habe in den vergangenen Tagen mit den verschiedensten Leuten über die Maßnahmen der Bundesregierung gesprochen, mit persönlich Bekannten und total Unbekannten. Laut Umfrage hätte einer von zehn sich kritisch äußern müssen. Der Tenor jedoch war: „Ist das eigentlich alles noch verhältnismäßig?“ Viele bekundeten, genervt zu sein. Einer sprach von Depression und Lagerkoller. Natürlich ist dieses Stimmungsbild nicht repräsentativ. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass die deutsche Zustimmung zur Freiheitsquarantäne etwas von jenem psychosozialen Assimilationseffekt hat, der sich soziologischen Studien zufolge zwangsläufig einstellt, wenn Menschen sich von einem bestimmten Massenverhalten unter Druck gesetzt fühlen.

    Viele kennen das Experiment: Wenn sich in einem Wartesaal zehn Leute befinden, von denen acht nach vorheriger Absprache zu einem bestimmten Zeitpunkt ohne erkennbaren Grund aufstehen, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden verbleibenden Nicht-Eingeweihten kurz darauf ebenfalls stehen, im Bereich jener neunzig Prozent, die Merkels „Corona“-Kurs Beifall spenden.

    Ein Zyniker würde sagen: Mit Charakterlosigkeit eckt man eben weniger an als mit einem eigenen Kopf. Sie ist eine Garantie für ein glatter laufendes Leben. Wer möchte schon gern mit dem Etikett „Verschwörungstheoretiker“ auf der Stirn herumrennen? Und hat bei Günther Jauch der Publikumsjoker nicht auch immer Recht? Doch es ist dieselbe Charakterlosigkeit, die das opportunistische Mitläufertum hervorbrachte, das nach Ansicht vieler Historiker Hitler erst möglich gemacht hat. Es ist derselbe „Publikumsjoker“, der Erdogan zum mächtigsten Mann der Türkei erkor. „Narziß und Goldmund“ erschien drei Jahre vor der Machtergreifung. Der Ungeist der NS-Diktatur war bereits als Zeitstimmung greifbar, als das Pest-Kapitel geschrieben wurde.

    Eine wichtige Rolle als Korrektiv spielt in Demokratien regelmäßig die freie Presse. Wird sie von den Mächtigen kontrolliert, kann die Freiheit in der Regel schon mal die Koffer packen. Es ist eine Lehre der großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, dass, wer die Propagandamittel beherrscht, auch das Volk im Griff hat. Das BR-Magazin Report München widmete in seiner jüngsten Ausgabe (21. April) einen Beitrag über Christian Lindner und lieferte Anschauungsunterricht für das, was bei Jan Fleischhauer Beklemmungsgefühle auslöst.

    Da stand die FDP regelrecht am Pranger, weil sie es gewagt hatte, in der Debatte um die „Corona“-Beschränkungen einen Gegenstandpunkt zu formulieren. Das sei ihr nicht gerade gut bekommen, so der herablassende Tenor des TV-Beitrags, sie dümpele in Umfragen an der 5-Prozent-Marke vor sich hin. Früher hatte die freie Presse mal die Aufgabe, den Mächtigen auf die Finger zu schauen, und nicht die, auf eine sowieso schon geschwächte Oppositionspartei einzuprügeln, nur weil sie ihre Rolle als Opposition auszuüben und Kritik an einem Regierungskurs zu äußern wagt, der soeben grundlegende Menschenrechte außer Kraft gesetzt hat.

    Man muss nicht gleich wieder mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 kommen, das eine starke Opposition hätte verhindern können. Es genügt schon, sich das Riesengezeter ins Gedächtnis zu rufen, das linke Gruppierungen 1983 gegen eine für das Frühjahr desselben Jahres geplante Volkszählung der Bundesregierung veranstalteten. In fetten Kampagnen war von informationeller Selbstbestimmung und deren Gefährdung durch einen perfiden Überwachungsstaat die Rede.

    Zwei FDP-Juristinnen brachten die Zählung schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall. Im Vergleich zu dem „Corona“-Sturm, der gerade binnen weniger Tage elementare Bürgerrechte wegfegte, war die Volkszählung von 1983 ein laues Lüftchen.

    Trotzdem ist schwer vorstellbar, dass ein Report-Redakteur sich dazu herabgelassen hätte, sich hämisch über eine oppositionelle Kleinpartei wie die Grünen zu mokieren, nur weil die sich anmaßte, die von der Regierung vorgegebene Linie, die Volkszählung sei alternativlos, in Frage zu stellen. Entscheidender Unterschied: Damals regierte Kohl, heute herrscht Merkel. Und die lakaienhafte Liebedienerei mancher vermeintlich unabhängiger Medien gegenüber der Merkel-Administration müsste einen in Hohngelächter ausbrechen lassen, wenn die ganze Sache nicht so verdammt ernst wäre.

    Wenn eine freie Presse auf einmal ohne Not anfängt, den Mächtigen nach dem Mund zu reden, dann ist was faul im Staate Deutschland. Dasselbe gilt für einen Staat, der auf einmal die Moral als entscheidende Triebfeder seines Handelns für sich entdeckt haben will. „Wir müssen unsere Alten schützen“, schallt es landauf, landab durch die Republik. Die größte Irritation muss das in der Fraktion der Abtreibungsgegner auslösen.

    Denn ihnen leuchtet partout nicht ein, warum man Menschen, die noch durchschnittlich achtzig Jahre Lebenszeit vor sich haben (die Ungeborenen, die in Abtreibungskliniken in Serie über die Klinge springen müssen), für überhaupt nicht schutzwürdig hält, während für Menschen, deren Durchschnittsalter achtzig Jahre beträgt (das ist laut Robert-Koch-Institut das Durchschnittsalter der „Corona“-Toten), auf einmal kein Opfer zu groß ist. Wie ist dieses Messen mit zweierlei Maß vereinbar mit dem Argument der „Corona“-Zwangsmaßnahmen-Befürworter, dass Menschenwürde keine Altersgrenze kenne? Manifestiert sich hier nicht eine besorgniserregende doppelte Moral?

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     Es wird also Zeit, die Beschränkung der Grundrechte zu lockern und die Schutzmaßnahmen in die private Verantwortung der Bürger zu überführen.

    Übrigens könnte man ja auch die Alten, um die es angeblich geht, mal ganz demokratisch befragen, was sie eigentlich von diesen Einschränkungen, die ja vor allem ihre Lebensqualität mindern, halten. Ist ein Leben in Trennungsschmerz und Isolation wirklich so viel mehr wert als ein Tod, der mich im Zustand der Geborgenheit im Kreise meiner Vertrauten ereilt? Könnte man es nicht auch als würdelos empfinden, wenn sich Menschen mit vielen Jahrzehnten Lebenserfahrung plötzlich wie unmündige Kinder vorschreiben lassen müssen, was sie zu tun und zu lassen haben? Verbirgt sich hinter solchem staatlichen Gebaren nicht eine unerhörte Arroganz?

    Man soll nicht immer böse Motive unterstellen, aber vieles spricht dafür, dass es den Regierenden um etwas völlig anderes geht als das Retten von Menschenleben, nämlich das Retten der eigenen Macht vor der Macht der Bilder, die skandalsüchtige Medien wie eine biblische Plage auf sie loslassen würden, würden sie sie nicht um jeden Preis – auch den demokratischer Grundrechte – verhindern. Das wiederum bedeutet, dass wir es letztlich mit erpressbaren politischen Eliten zu tun haben, denen im Angstwahn alles zuzutrauen ist. Keine gute Gemengelage für Freiheit und Demokratie.
    Sollte dieser beunruhigende Befund stimmen – was tun gegen diese Erpressbarkeit?

    Die Suche nach einer Antwort darauf führt zurück zu Goldmund, dem ruhelosen Helden aus Hesses wunderbarer Erzählung. Goldmund hat durch seine erste Begegnung mit dem Tod eine innere Freiheit errungen, die auch die Bibel kennt. Sie ist gemeint, wenn Jesus davon spricht, dass das Leben verlieren werde, wer es zu erhalten trachte. Oder davon, dass man nicht Angst haben solle vor denen, die den Leib töten können, nicht aber die Seele. Oder davon, dass es dem Menschen nichts nütze, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er dabei Schaden nähme an seiner Seele. Die Wortwahl gleicht der Hesses, der die Zeit der Pest eine „Seelenverfinsterung“ nennt.

    Man meint eine gewisse Verachtung des feinsinnigen Seelenerkunders heraushören zu können für Menschen, denen aufgrund einer merkwürdigen materialistischen Minderbemitteltheit jede geistig-transzendente Dimension des Lebens verschlossen geblieben ist und die deshalb an ihrem erbärmlichen Häuflein Leben kleben wie Schmeißfliegen an einem Kuhfladen. Sie sind beklagenswert unfreie Wesen, denen nichts heilig ist als ihre nackte und bloße Erdenexistenz, von der garantiert nichts bleiben wird.

    Freiheit, versucht Hesse zu zeigen, entsteht aus der Bejahung der eigenen Begrenztheit und Vergänglichkeit und der Einsicht in das Größere, in das die eigene Existenz eingebettet ist. Freiheit, versucht Jesus zu zeigen, gibt es nicht, wenn das Vergängliche absolut gesetzt wird. Denn am Ende lauert immer das Gefängnis des Todes. Es wäre schön, wenn die westliche Welt auch unter der Last von Schrecken und Todesangst im Auge behalten würde, dass Menschenwürde nicht in dem Maße zunimmt, wie es gelingt, die kurze Spanne Leben, die jedem zugemessen ist, zu verlängern, sondern von den Umständen abhängt, unter denen es gelebt und an sein Ziel geführt werden kann. Vereinfacht ausgedrückt: Fünfzig Jahre in Freiheit sind mehr als hundert im Staatsgefängnis.

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