Laut Nachwahlbefragungen von staatsnahen Medien hat der Amtsinhaber Alexander Lukaschenko die gestrige Präsidentschaftswahl in Weißrussland mit mehr als 80 Prozent der Stimmen gewonnen, allerdings begannen schon in der gestrigen Nacht erste Proteste wegen angeblicher Wahlfälschungen. Im Westen gilt Lukaschenko als der idealtypische Vertreter eines osteuropäischen Diktators, dabei gleicht seine Machtausübung immer stärker einem Drahtseilakt. Wenn Sie die Vorgänge in Osteuropa und Asien besser verstehen wollen, dann lesen Sie jetzt den großartigen Essay Das Licht, das erlosch von Ivan Krastev und Stephen Holmes über den Verlust der Strahlkraft des Westens fast überall auf der Welt. 

     Der „letzte Diktator Europas“ hat – so scheint es zumindest – die Wahl im der Fläche nach größten europäischen Binnenstaat haushoch gewonnen. Nach der Bekanntgabe erster Nachwahlumfragen staatsnaher Medien, die erneut einen klaren Sieg Lukaschenkos prognostizierten, setzten schon gestern Abend nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in weiteren Städten wie Pinsk, Witebsk und Brest Demonstrationen ein. Die aus dem Westen finanzierte zivilgesellschaftliche Organisation Wjasna („Frühling“) spricht von 126 Festnahmen im ganzen Land in der letzten Nacht, 55 davon angeblich alleine in Minsk.

    Präsidentenwahl unter völlig neuen Vorzeichen

    Lukaschenkos Gegenkandidatin Svetlana Tichanowskaja, die laut den Nachwahlbefragungen der staatsnahen Medien bei 9,9 Prozent, laut den Befragungen von oppositionellen Medien zwischen 80 und 85 Prozent liegt, rief dazu auf, keine Gewalt auszuüben. Die Polizei sei ein „Teil des Volkes“, ihre Wähler bat sie, keinen Grund dafür zu geben, „gegen uns Gewalt anzuwenden“.

    Die diesjährige Präsidentschaftswahl in Weißrussland weist allerdings völlig andere Frontverläufe auf als die vergangenen, denn diesmal steht nicht nur – wie in der Vergangenheit – der Patriarch Lukaschenko gegen eine junge, urbane und westlich geprägte, aber zahlenmäßig kleine Opposition. Diesmal erlebt Weißrussland eine Präsidentschaftswahl, in der aus Lukaschenkos Sicht auch der einstige Bruderstaat Russland zu den „Feindstaaten“ zählt.

    Gazprom-naher Banker hinter Gittern

    Noch vor zehn Jahren galt es als ausgemacht, dass es bald einen russisch-weißrussischen Unionsstaat geben würde. Dann aber folgte eine schrittweise Zerrüttung des gegenseitigen Verhältnisses, deren Ausmaß kaum jemand für möglich gehalten hätte, schließlich war Lukaschenko 1991 nach eigenen Angaben der einzige Abgeordnete des weißrussischen Sowjets, der gegen die Auflösung der Sowjetunion gestimmt hatte.

    Doch seit der Mitte der vergangenen Dekade schwelt ein heftiger Gas- und Ölstreit zwischen Minsk und Moskau, der Ende vergangenen Jahres eskalierte, weil Weißrussland sich weigerte, einen von Russland geforderten Steueraufschlag auf die Ölimporte zu zahlen. Das Zerwürfnis dauert allerdings schon länger an und wurde erstmals deutlich sichtbar, als Lukaschenko sich weigerte, die russische Annexion der Krim anzuerkennen.

    Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde das liberal-demokratische Modell westlicher Prägung scheinbar alternativlos. In Osteuropa und Teilen Asiens hat sich diese Entwicklung offensichtlich umgekehrt. Warum hat der Westen seine Strahlkraft verloren? In ihrer brillanten Analyse zeigen Ivan Krastev und Stephen Holmes, dass das seinerzeit ausgerufene »Ende der Geschichte« in Wahrheit ein Zeitalter der Nachahmung einläutete. Drei Jahrzehnte lang sah sich der Osten gezwungen, den Westen zu imitieren, und versank in Gefühlen der Unzulänglichkeit, Abhängigkeit und des Identitätsverlusts. Inzwischen hat das Vorbild seine moralische Glaubwürdigkeit verloren – Das Licht, das erlosch ist eine analytisch und stilistisch brillante Abrechnung von Ivan Krastev und Stephen Holmes. HIER bestellen oder zum Bestellen auf das Cover klicken!

    Während des Wahlkampfs eskalierte dieser Konflikt dann weiter und es kam zu einem in der jüngeren weißrussischen Geschichte beispiellosen Vorgang. Seit Mitte Juni nämlich sitzt Viktor Barbariko zusammen mit seinem Sohn in der berüchtigten Amerikanka, dem früheren KGB-Gefängnis in Minsk. Er zählte zuvor als Leiter der weißrussischen Belgazprombank, die dem russischen Konzern Gazprom gehört, zur Führungsschicht des Landes.

    Mike Pompeo bot Hilfe an

    Es gelang ihm im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, die enorme Zahl von 400.000 Unterschriften für seinen Antritt zu sammeln. Doch dann schlug Lukaschenko zu, der in Barbariko nun offensichtlich plötzlich ein U-Boot Moskaus sah. Lukaschenko führte aus, dass sowohl die „Marionetten“ dieser Verschwörung, wie auch „ihre Drahtzieher im Ausland“ mit den Verhaftungen (neben Barbariko wurden weitere Manager festgenommen) demaskiert worden seien – und meinte damit wohlgemerkt seinen alten und früher besten Verbündeten Russland, und nicht irgendwelche westlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen oder gar George Soros.

    In Moskau dürften derweil schon im Februar alle Alarmglocken geläutet haben, als US-Außenminister Mike Pompeo in Minsk weilte und dort eine Vereinbarung erzielte, wie die Ausfälle russischer Öllieferungen durch US-Lieferungen kompensiert werden könnten. Viel Geduld dürfte Putin aufgrund solcher Annäherungen, die früher undenkbar gewesen wären, mit seinem alten Fahrensmann Lukaschenko jedenfalls nicht mehr haben.

    Ein Euromaidan in Minsk?

    Die derzeitigen Proteste erinnern oberflächlich an den Kiewer Euromaidan von 2014. Doch allzu weit sollte man die Analogienbildung nicht treiben, denn Lukaschenkos Gegenspielerin Svetlana Tichanowskaja scheint wesentlich prorussischer zu sein als dieser selbst. Sie spricht immerhin davon, dass die Krim faktisch zu Russland gehört und auf ihren Kundgebungen sind auch auffällig viele russische Fahnen zu sehen.

    Man sollte deshalb in den nächsten Tagen ganz genau hinsehen, was in Weißrussland passiert. Natürlich könnten wieder die üblichen Verdächtigen, nämlich westliche NGO`s, die eigentlichen Strippenzieher der Proteste sein und eine weitere Farbrevolution vorbereiten. Es könnte aber auch durchaus sein, dass Lukaschenko eben nicht völlig paranoid ist und er diesmal tatsächlich auf der Abschussliste Moskaus steht. Es bleibt abzuwarten, ob der alte Fuchs nochmals den Kopf aus der Schlinge ziehen kann.

    Nicht nur Russland, auch China befindet sich im Zangengriff der USA. Lesen Sie in unserem COMPACT-Spezial USA gegen China – Endkampf um die neue Weltordnung alles über den Konflikt im Pazifik. HIER bestellen!

    Kommentare sind deaktiviert.