Der Streit um die Covid-19-Maßnahmen zeigt: Die gesellschaftliche Minderheit steht unter dem Druck einer starken Masse. Elias Canetti beschrieb das Phänomen bereits 1960 in „Masse und Macht“.

    Mal ehrlich, können Sie sich den Nazarener mit Mundschutz vorstellen? Den Mann, der zu den Leprakranken ging, zu den Aussätzigen, nach denen man noch heute die Ausgestoßenen, die Parias einer Gesellschaft, benennt? Der den Hochinfektiösen die Hände auflegte, um sie zu heilen? Der zu seinen Anhängern sagte: „Fürchtet euch nicht. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“? Der sie am Feiertag Ähren ausraufen ließ und den für diesen Verstoß gegen das Sabbatgesetz erteilten Rüffel mit dem Satz konterte: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“?

    Jesus mit Atemschutzmaske – das Bild will sich nicht einstellen. Schlagfertige Antworten des potentiellen „Maskenleugners“ auf pharisäerhafte Vorwürfe fallen einem hingegen spontan zuhauf ein: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Vielleicht auch: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Masken schützen.‘ Ich aber sage euch: Nur euer Vater im Himmel kann euch schützen. Alle Haare auf eurem Haupt sind gezählt.“ Oder: „Ihr Heuchler! Ihr tragt Masken, weil ihr meint, eure Leiber retten zu müssen, doch dass eure Seelen längst verloren sind, das merkt ihr nicht. Ihr Narren, schützt doch zuerst eure Seele, die unsterblich ist, vor der Verdammnis, und sorgt euch dann um eure sterblichen Leiber.“

    Was ist Wahrheit?
    Gemälde von Nikolai Nikolajewitsch Ge, 1890: Pontius Pilatus und Jesus nach Joh 18,38. Bild: Nikolai Nikolajewitsch

    Es gab eigentlich keinen Moment im Leben Jesu, in dem er so handelte, wie es das polit-mediale Establishment – das waren damals Geistliche, sogenannte Schriftgelehrte, eine elitäre Priesterkaste und der mit ihnen kollaborierende Adel, an dessen Spitze der dekadente König Herodes stand – von ihm erwartete. Aus ihrer Sicht war der Nazarener ein gefährlicher Populist: Ein Mensch, der auf komplexe Fragestellungen vereinfachende Pauschalantworten parat hat und so die Volksmengen gegen die etablierte Doktrin aufbringt:

    Verkaufe, was du hast, dann hast du keinen Ärger mehr damit. Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Wirf den ersten Stein auf die Ehebrecherin, aber nur, wenn du selbst keine Schwachpunkte in deiner Biografie hast. Für die bis zum Auftreten des Unruhestifters mit der Deutungshoheit über alle sozialethischen Fragen ausgestattete Elite waren diese Angriffe auf das von ihnen installierte komplexe Normengeflecht eine Provokation.

    Wir wissen, wohin dieser strikt anti-konformistische Kurs führte: auf die Hinrichtungsstätte Golgatha. Der Pöbel ließ sich gegen den unbequemen Wanderprediger aufbringen und bald hieß es: „Kreuzige ihn!“ Der Mann aus Nazareth – ein Opfer seiner Unangepasstheit, seiner Infragestellung des herrschenden Regelwerks. Man könnte diese Sicht auf den Menschensohn und sein Wirken zum Anlass nehmen für eine Philippika gegen die erbärmlich kleinmütige und erschreckend konformistische Kirche, gegen ein klerikales Führungspersonal, das eigene, von Charakter und Botschaft Christi geleitete Gegenpositionen zum Establishment schmerzlich vermissen lässt und sich in purer Erfüllungsrhetorik übt.

    In Anbetracht der aktuellen Krise dürfe „nie“ die erste Frage sein: „Wie können wir schnellstmöglich wieder ungehindert in unseren Kirchen Gottesdienste feiern?“, so der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm. Doch das Schicksal des Galiläers sagt viel mehr aus: über das universelle menschliche Bedürfnis nicht anzuecken, die Lust, mit dem Strom zu schwimmen, die Bereitschaft, in der Masse unterzugehen. Und über den Umgang mit denen, die sich solchen Reflexen verweigern.

    Abweichende Positionen vertreten heute nicht mehr unbedingt religiöse Renegaten. Der zeitgenössische Rebell heißt Corona-, Klima- oder … warum nicht einfach Wahrheitsleugner? Und was Wahrheit ist, darüber bestimmt im Zweifelsfall – wir erinnern uns an die Frage des Pilatus im Johannesevangelium – der, der die Macht hat. Chefanalytiker des Phänomens „Masse und Macht“ war in dem gleichnamigen Werk von 1960 der Nobelpreisträger Elias Canetti (1905-1994). Seine Diagnose: „Die Masse will immer wachsen. […] Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit.“ Und: „Die Masse braucht eine Richtung.“ Es sei „möglich, sie auf irgendwelche Ziele zu lenken“. Ein solches Ziel ist zwangsläufig der natürliche Feind der Masse, nämlich „Menschen, die sich von der Masse auszuschließen suchen“.

    Elias Canetti. Autor: Unknown author / CC BY-SA 3.0 NL (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en)

    So entsteht, was Canetti die „Hetzmasse“ nennt, eine zerstörerische Horde, die „gefahrlos“ ihrem Ziel entgegensteuern kann, „denn die Überlegenheit auf Seiten der Masse ist enorm.” Canettis schockierendster Satz schließlich lautet: „Ein gefahrloser, erlaubter, empfohlener und mit vielen anderen geteilter Mord ist für den weitaus größten Teil der Menschen unwiderstehlich.“ Der Autor muss sich auf der Suche nach einem Quod-erat-demonstrandum seiner Theorie nicht lange abmühen: Sie erklärt bruchlos alle großen Genozide, alle Pogrome, alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit des 20. Jahrhunderts.

    Das Phänomen, das Canetti beschreibt, ist freilich mit dem Ende der großen, von einer geschickt manipulierten und mobilisierten Masse getragenen gesellschaftlichen Großexperimente von Nationalsozialismus, Sowjetkommunismus und Maoismus keineswegs verschwunden. Es hat sich, rasant verschärft durch die SARS-Covid-19-Krise, in den letzten Jahren abermals zum Grundproblem der westlichen Zivilisationen entwickelt. Zustimmungswerte zu Covid-19-Maßnahmen der Regierung wie auf einem SED-Parteitag zeigen: Die demokratische Zersplitterung der Gesellschaft, das, was man gemeinhin Pluralismus nennt, ist letztlich eine Illusion.

    Wie eine ferngesteuerte Droiden-Armee in „Krieg der Sterne“ lässt sich die Masse unter Umständen, die diese Sammlung begünstigen, zusammenbringen und in die gewünschte Richtung lenken. Die Härte des Tons, mit dem verbal über diejenigen hergefallen wird, die sich dem Massenstrom in den Weg stellen, und die Rücksichtslosigkeit, mit der man sie, als Sanktionsmaßnahme, zum allgegenwärtigen Pranger des digitalen Zeitalters führt, sind ein Indiz für die Entschlossenheit der Masse.

    Dort, in den virtuellen Foren und digitalen Kommentarspalten der zu asozialen Medien degenerierenden Internetriesen kann der aufgepeitschte Mob seiner Wut und seiner Empörung über die „Verantwortungslosen“ freien Lauf lassen, sich entladen in einer neuen Form von Lynchjustiz, deren Henker die Summe der Massenteile ist, denn, so Canetti, „der freigegebene Mord springt für alle Morde ein, die man sich versagen muss, für deren Ausführung man schwere Strafen zu befürchten hätte.” Der freigegebene Mord, noch ist er nur ein Rufmord.

    Er ereignet sich, wenn ein Dortmunder Oberbürgermeister (Ullrich Sierau, SPD) sich ungestraft zum Sprachrohr der Hetzmasse aufschwingen und einen wider den Stachel löckenden Künstler wie Xavier Naidoo öffentlich mit einem Bannstrahl ächten, ihn verbal aus der Stadt jagen darf und mit ihm „auch jene Anhänger seiner Musik, die seine Positionen teilen“. Er ereignet sich, wenn ein Berliner Kultursenator (Klaus Lederer, Die Linke) mit der digital verbreiteten Warnung, man könne doch dem „Wahnsinn“ von „Verschwörungsgläubigen und Aluhüten“ keine Plattform bieten, ungestraft die Ehrung des streitbaren Journalisten Ken Jebsen im Berliner Kino Babylon torpedieren darf.

    Er ereignet sich, wenn der Tagesspiegel-Agitator Sebastian Leber ungestraft einen Boykottaufruf gegen Attila Hildmann verbreiten und es in seinem Medium als Erfolg feiern darf, dass Supermärkte Produkte des Kochbuchautors nicht mehr führen (COMPACT berichtete). Und er ereignet sich, wenn ein Politmagazin (Panorama, ARD) das Verteidigungs­ministerium dazu nötigen kann, einen in der Pressestelle der Bundeswehr als Referent tätigen Oberstleutnant der Bundeswehr seines Postens zu entheben, nur weil er im Netz zwei „Gefällt mir“-Symbole angeklickt hat, die die Hetzmasse als Signale zum Ausrücken verstand.

    Als kreative Wortakrobatin und gleichsam reaktionäre Anti-Marianne an der Spitze einer via Twitter erhitzbaren Hetzmasse inszenierte sich nach den Freiheitsdemonstrationen in Berlin am 1. August die bislang nicht durch rhetorische Höhenflüge aufgefallene SPD-Chefin Saskia Esken, indem sie Menschen mit einer offen zur Schau gestellten Skepsis gegenüber der Corona-Maskenpflicht per Rückgriff auf eine sprachliche Neuschöpfung als „Covidioten“ verunglimpfte. Nobelpreisträger Canetti charakterisiert die Hetzmasse wie folgt: „Es ist die Erregung von Blinden, die am blindesten sind, wenn sie plötzlich zu sehen glauben.” Das Ziel ist immer die totale Vernichtung des Feindes. Canetti: „Die Masse geht auf Opfer und Hinrichtung zu”, auf das legendäre „Kreuzige ihn!”

    Noch hindert der Rechtsstaat die aufgebrachten Massen, ihren massetypischen Hass auf alles, was sich ihrer intoleranten Inkorporationssucht verweigert, in Gewalt umschlagen zu lassen. Noch schützen die Grundrechte die kleinen Minderheiten derjenigen, die nicht willens sind, ihre individuellen Freiheitsrechte dem von der Masse ausgeübten Konformitätsdruck aufzuopfern. Sonst hätten sie wahrscheinlich wie der berühmte Galiläer ihr Golgatha bereits erlebt.

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