Die dritte Staffel von „Babylon Berlin“ startete vergangene Woche in der ARD. In deren Online-Mediathek stehen bereits alle Folgen zum Stream bereit. Aus diesem Anlass folgt hier der Artikel  „Schrille Töne, stummer Tod“ über Hintergründe der Romanvorlage und der TV-Adaption. Entnommen ist er aus  der Januar 2020-Ausgabe des COMPACT-Magazins, wo Sie weitere Artikel  zu diesem Themenkreis finden (hier bestellen).

    Die deutsche Hauptstadt war in den 1920er Jahren ein Biotop für Extremisten – sie stritten um die neue Propagandawaffe: den Tonfilm

    _ von Jonas Glaser

    Die zwei wichtigsten Fragen zuerst: Ja, auch in den nächsten Folgen von Babylon Berlin gibt es wieder einen musikalischen Hit! War Psycho Nikoros’ morbider Song «Zu Asche, zu Staub!» szenischer Höhepunkt der ersten Saison, so lautet der neue Gassenhauer: «Wir sind uns lang verloren gegangen. / Wir sind uns fern geworden im Herz! / Wir sind ein Schweif des gestrigen Zaubers, / Und in der Seele brennt nichts als Schmerz» – erneut mit tanzendem Chorus.

    Und ja: Liv Lisa Fries ist als Assistentin Charlotte Ritter ebenso unwiderstehlich wie in Staffel eins und zwei. Basierten diese auf Volker Kutschers Roman „Der nasse Fisch“ (2008), so fand ein weiterer Thriller mit Gereon Rath als Kommissar, „Der stumme Tod (2009)“, seine Umsetzung in Staffel drei. «Stumm» meint hier nicht nur die Sprachlosigkeit der Verstorbenen – Hauptthema ist vielmehr die mediale Revolution vom Stumm- zum Tonfilm in dieser Epoche.

    Lautlose Schönheiten

    Der Roman beginnt in den Babelsberger Filmstudios: Eine Schauspielerin wird durch einen herabstürzenden Scheinwerfer getötet. Ein Unfall, so scheint es. Aber Kommissar Rath bemerkt rasch: Die Aufhängung der Lampe war manipuliert. Zudem bittet ein befreundeter Filmproduzent den Kriminalisten um Hilfe: Seine Freundin, ebenfalls Schauspielerin, ist entführt worden. Man findet ihre Leiche in einem Kino – mit herausgeschnittenen Stimmbändern.

    Moment: Kino, entferntes Sprechorgan… Will da jemand Filmvorführung nachdrücklich mit Sprachlosigkeit in Verbindung bringen? Mit jener Stummheit, die das Kino gerade verlor? Tonfilme wurden nämlich nur vom Publikum freudig begrüßt. Prominente Cineasten wie Rudolf Arnheim fürchteten dagegen den Verlust jener künstlerischen Höhe, die der Stummfilm in seiner Bildsprache erreicht hatte.

    Die Ermittlungen führen den Protagonisten auch an die Berliner Börse – in den Handlungsrahmen der dritten Staffel fällt der Schwarze Freitag 1929. Foto: Frédéric Batier/X Filme Creative Pool/ARD Degeto/WDR/Sky/Beta Film

    Die neue Audiotechnik stand für perfekte Dokumentation, für das Festhalten eines flüchtigen Moments. Aber, so die (falsche) Schlussfolgerung der Kritiker: Je mehr Realismus, desto weniger Kunstpotenzial. Auch auf ökonomischer Ebene brach Panik aus: Stars und Sternchen verglühten über Nacht, weil sie nicht mikrofontauglich waren. Die elegante Diva mit Quäktenor? Unmöglich! Der coole Gangsterboss, der Befehle in Kastratenhöhe erteilt? Tut uns leid!

    Mancher Regisseur wusste seine Ästhetik dem neuen Medium kaum anzupassen, darunter Charlie Chaplin. Musiker, die ihr Brot im Orchester der Stummfilmpaläste verdient hatten, landeten auf der Straße. Kinobesitzer stöhnten über Umrüstungskosten auf Tonprojektion. Und all das in der Weltwirtschaftskrise! Aber es half nichts: Die Einführung des Radios hatte die Besucherzahlen der Kinos sinken lassen. Wollte die Filmindustrie nicht zugrunde gehen, musste sie mit Sprache und Musik antworten. Bei so viel Sachzwang hätte sich Kommissar Rath nicht wundern dürfen, wenn ein Tonfilmgegner die Sprech-Diven auf kriminelle Weise verstummen lässt, ein blutiges Plädoyer für Beibehaltung des schweigenden Films versucht…

    Tödlicher Zuhälter-Zoff

    Aber bekanntlich spielen Kutschers Berlin-Krimis auf mehreren Etagen. Dabei besitzt der Autor eine genrespezifische Vorliebe für Kellergewölbe, für den Untergrund. Besteht der in „Der nasse Fisch“ aus trotzkistischen Exil-Russen, so führt Der stumme Tod direkt in den Ostteil der Stadt, wo sich SA und Rotfront gegenseitig die Schädel einschlagen.

    Die Weltwirtschaftskrise, die Sanktionen des Versailler Vertrags und die brutale Sparpolitik der Regierung hatte die Bevölkerung – ebenso wie heute – in mehrere Lager – Linke, Rechte, Querfrontler – gespalten. Deren radikale Ränder überführten die politische Konfrontation ins Physische: Straßenschlachten sowie Morde im Hinterzimmer erschütterten die Arbeiterbezirke Friedrichshain und Wedding. Die Grenzen ins Gangstermilieu verliefen fließend – gern auch in Richtung Drogenhandel und Straßenstrich.

    Zwei Zuhälter streiten sich um Mietschulden, der eine ist Horst Wessel.

    In „Der stumme Tod“ stößt Kommissar Rath im Polizeibüro auf die Akte eines frisch erschossenen SA-Mannes. Das kam so: Zwei finstere Typen aus Friedrichshain stritten sich um Mietschulden und eine Prostituierte. Der eine war SA-Mann Horst Wessel, der andere, Albrecht Höhler, gehörte zur KPD. Höhler erschoss Wessel im Streit. Sofort stilisierte die NS-Propaganda den tödlichen Zoff zum politischen Mord und Wessel zum Märtyrer der Bewegung. Seine Beerdigung mutierte zum großen Aufmarsch.

    Bald darauf bequatschte Joseph Goebbels den Horror- und Fantasy-Autor Hanns Heinz Ewers, den Propaganda-Roman Horst Wessel (1932) zu verfassen. Darin wird der SA-Märtyrer mit Parsifal und Altgermanischem assoziiert, sein Brotjob hingen verschwiegen. Natürlich schrie Ewers‘ Roman nach einer Verfilmung. Denn Kommunisten wie Nationalsozialisten galt der Film als entscheidendes Medium zur Gewinnung der Massen.

    Die Schlacht ums Kino

    So wie heute Internet und Mobilfon politische Subkulturen in Form und Ausmaß erst ermöglicht haben, so erkannten Intellektuelle damals vergleichbares Potenzial im Lichtspiel – viel mehr als in den Printmedien. 1925 forderte Kurt Tucholsky, das Kino, «diese Bibel von heute, der Arbeiterschaft dienstbar» zu machen. Auch Kulturkritiker Siegfried Kracauer wollte Zelluloid «für den Klassenkampf» nutzen.

    Ernst Jünger notierte 1925, dass sich in dem neuen Medium eine Art von großzügigen, aber «keineswegs harmlosen Volksspielen» vorbereitet: «Das Wesen des Films verlangt Tat, Beweglichkeit und Macht – es ist kein Zufall, dass es immer mehr Stoffe der Renaissance, der großen Revolution und cäsarischer Zeiten zu bevorzugen beginnt.» Jünger forderte aufwendige Darstellungen moderner Kämpfe, die «Stärke solcher Einflüsse ist unberechenbar».

    Tatsächlich sollten Propagandastreifen von links und rechts zu Beginn des Tonfilms vor allem eins sein: Streetfighter-Movies, die politischen Kampf auf der Straße zeigen. Mit dem Ton kam eine neue Dimension der Beeinflussung hinzu: durch Reden, durch Argumentationsduelle. Der Expressionist Fritz von Unruh glaubte, vor der Tonfilmkamera müssten Politiker «ihre Maske fallen lassen», rhetorischer Betrug sei schwerer geworden.

    Wieder dabei: Auch als Kriminalassistentin genießt Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries) das Nachtleben. Foto: Frédéric Batier/X Filme Creative Pool/ARD Degeto/WDR/Sky/Beta Film

    Konnte der sozialistische Stummfilm „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ (1929) buchstäblich nur sprachloses Elend einer alten Proletarierin vorführen, so erlaubte der kommunistische Tonfilm „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt“ (1932) das Verfolgen hochemotionaler Politdebatten in der U-Bahn, das Donnern von Agitprop-Slogans und einen rhythmisch-stampfenden Soundtrack von Hanns Eisler. Ein Gesamtkunstwerk mit ungekannter Sogwirkung war entstanden.

    «Der Kampf um den Film» (Hans Richter) verlangte in der Praxis den Besitz eigener Produktionsmittel. Für die Linken gründete der KPD-Mann Willi Münzenberg die Prometheus-Film, die bereits in den 1920er Jahren russische Agitpropfilme von Eisenstein, Pudowkin und Wertow importierte. Die Ufa, durch den Metropolis-Flop in die Pleite getrieben, geriet in die Hände des Medienmoguls Alfred Hugenberg, der ab 1927 zunehmend NS-freundliche Wochenschauen und Publikumserfolge wie „Hitlerjunge Quex“ (1933) produzieren ließ. Im selben Jahr entstanden das Horst-Wessel-Biopic „Hans Westmar“ sowie „SA-Mann Brand“.

    «Das Wesen des Films verlangt Tat, Beweglichkeit und Macht.» Ernst Jünger

    In Ästhetik und Milieu den kommunistischen Produktionen nah, besteht der Höhepunkt des NS-Films jedoch nicht im Aufbruch gegen sozialen Missstand, sondern im Opfertod des Helden. Singen die Arbeiter im Finale von „Kuhle Wampe“ das Solidaritätslied «Vorwärts und nicht vergessen», besteht der Triumph von „Hans Westmar“ in dessen pompöser Beerdigungszeremonie, bei der selbst rote Störtrupps ihre Bekehrung erfahren: Die Kommunistenfaust öffnet sich zum Hitlergruß.

    In der Schlussszene von „Hitlerjunge Quex“ röchelt der tödlich verwundete Heini Völker das HJ-Lied «Unsre Fahne flattert uns voran». Noch in Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ (1934) bildet die Ehrung der NS-Märtyrer den Höhepunkt des Nürnberger Reichsparteitages. Nicht die Aussicht auf bessere Zukunft, sondern ein Mega-Totenkult sorgt für Massenverschmelzung. Sehr bald stoppte das NS-Regime solche morbiden Filme. Grund: Man wollte das Publikum angesichts steigender Kriegsgefahr lieber indirekt, in subtiler Form, auf den eigenen Opfertod einstimmen. Die unfrohe Botschaft wurde in vermeintlich unpolitische Unterhaltung eingebettet.

    Die zweite Staffel von „Babylon Berlin“ könnte man auch als Verfilmung der COMPACT-Geschichtsausgabe Versailler Vertrag – Der Pakt, der Hitler an die Macht brachte sehen: Eben dieser Versailler Vertrag bildet nämlich den geschichtlichen Hintergrund zu den Folgen, die 2018 gezeigt wurden. Die packende Kriminalgeschichte ist nur vor dem Hintergrund des Diktats der Siegermächte denkbar: Deutschland wurde mit strengen Rüstungsauflagen belegt, während die Westmächte ungeniert weiter aufrüsteten. In dieser Situation fanden Berlin und Moskau zusammen: In „Babylon Berlin“ läuft ein sowjetischer C-Waffen-Zug in der deutschen Hauptstadt ein – und es beginnt ein blutiger Kampf um dessen Besitz zwischen Stalins Geheimdienst sowie Reichswehrleuten auf der einen Seite und der sozialdemokratischen Polizei Berlins sowie Trotzkisten auf der anderen. Veritable Querfronten eben, die in COMPACT-Geschichte zum Versailler Vertrag am Beispiel des Kapp-Putsches ausgeleuchtet werden: Auch damals fraternisierten die revoltierenden Militärs mit Moskau, um den Versailler Vertrag auszuhebeln. Ein englischer Geheimdienstler vereitelte den Umsturz – und damit das eurasische Bündnis gegen das weltumspannende Empire. 

    Aber so weit gehen „Der stumme Tod“ und dessen Serien-Adaption in „Babylon Berlin“ noch nicht – sie spielen vor der Machtergreifung. Kutschers Romanreihe erreicht erst im fünften Band den Beginn der NS-Zeit, der siebte und bislang letzte, Marlow (2019), spielt im Jahr 1935. Der Autor will die Serie noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges fortschreiben. Ob die TV-Produzenten ihm bis dahin folgen werden?

    Dieser Artikel erschien im COMPACT-Magazin 01/2020. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form hier bestellen.

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