Als eines der ersten Länder verhängte Litauen im März den Lockdown – und kehrte ebenso schnell wieder zur Normalität zurück. Der Wille zur Unabhängigkeit prägt Geschichte und Mentalität der Balten.

    Es folgen Auszüge aus dem Reisebericht „Menschen ohne Maske“, den Sie vollständig in der aktuellen COMPACT 09/2020 lesen können.

    _ von Martin Müller-Mertens

    Hinter dem Schlagbaum beginnt die Freiheit. Gerade noch hatte der litauische Grenzschutz jeden Ankömmling gemustert, doch vor den Türen des Wilnaer Flughafens empfängt Lächeln die Besucher. Keine Masken, keine Abstände, keine Angst – die kleine Ostseerepublik hat die Corona-Hysterie hinter sich gelassen. Zumindest für diesen Sommer.

    «Wir können nicht in Angst vor einer zweiten Welle leben.» Aurelijus Veryga

    Die Kühle des Abends legt sich über Wilnas Altstadt, ein Kleinod des Barocks. Die Winter sind kalt im Baltikum – doch die Sommer oft heiß. Wie gigantische bunte Seifenblasen erheben sich Heißluftballons in den Himmel, gleiten in Formationen über die Dächer der Hauptstadt. Das Rom des Ostens, wie das heutige Vilnius ob seiner über 50 Kirchen einst genannt wurde, genießt die letzten Stunden des Tages in den unzähligen Kneipen der Fußgängerzone, die sich vom Tor der Morgenröte zur russisch anmutenden Kathedrale Sankt Stanislaus erstreckt.

    Grüne Elektroroller – für Litauens Jugend wohl ein geradezu unwiderstehliches Fuhrwerk, sausen über die Pflastersteine. Fast scheint es, als treibe der Wind von der Ostsee nicht nur Ballons an, sondern wehe auch jenen Spuk mit Namen Corona aus dem Land. Keine penetrant dozierten Verbote, kein Flatterband an gesperrten Bänken, keine Hygienepolizei stören in diesem Juli den sommerlichen Müßiggang.

    Leben mit dem Virus

    Dabei gehörte Litauen zu den Vorreitern des Lockdowns in Europa. Bereits am 16. März verhängte die Regierung eine strikte Ausgangssperre. Die Grenzen wurden abgeriegelt, Hotels teilweise in Quarantäneherbergen verwandelt. Um Krisengewinnler auszubremsen, fror das Parlament die Lebensmittelpreise ein.

    Doch anders als in Deutschland wurde der Ausnahme- nicht zum Dauerzustand. «Jetzt ist es an der Zeit zu lernen, mit dem neuen Virus zu leben und uns bereit zu machen, sich ihm in der Zukunft zu stellen», sagte Regierungschef Saulius Skvernelis Anfang Mai. Am 11. Mai öffneten Geschäfte und Kindergärten.

    Am 14. Mai endete die Maskenpflicht. Die Ansteckungszahlen in der baltischen Republik blieben im zumeist einstelligen Bereich. Vermutlich mit Blick auf steigende Werte in Polen, führte Litauen zum 1. August die Maskenpflicht in Geschäften und dem Nahverkehr wieder ein, allerdings mit diversen Ausnahmen. Kultur- und Sportveranstaltungen waren nicht betroffen. Wilnas Devise, so scheint es, lautet: schnell reagieren, doch ebenso schnell wieder normalisieren. «Unser Ziel ist es, die Unannehmlichkeiten für unsere Bürger zu minimieren», beteuert Giedrius Surplys vom staatlichen Informationsamt.

    Im 1906 errichteten Hales-Markt am Rande der Wilnaer Altstadt sind Abstände nicht die größte Sorge der Kunden. Foto: Autor

    «Wir können nicht in Angst vor einer zweiten Welle oder mehreren Wellen leben», erklärte, ebenfalls im Mai, Gesundheitsminister Aurelijus Veryga in einer Videobotschaft. Als Kulisse hatte sich der Politiker die Statue des mythischen Reiters Vytis an der Burg Kaunas ausgewählt.

    (…)

    Nur wenig erinnert im Juli noch an die Wochen der Hysterie. In Vilnius müssen Zahlkarten für den Nahverkehr an einem der unzähligen Straßenkioske aufgeladen werden. Die Vordertür der roten Busse bleibt zu. In Kaunas sitzen die Fahrer dagegen hinter Plexiglasscheiben. Durch ein kleines Schiebefenster reichen sie die Fahrkarten. Im Eingangsbereich der Geschäfte und Gaststätten stehen Flaschen mit Desinfektionsmitteln und wirken wie Dekoration aus einer anderen Zeit. Wilnas Stadtverwaltung gab die Straßen der Altstadt für Restaurants frei. Obergrenzen für Veranstaltungen liefen Mitte Juli aus.

    Die Partyszene tanzt

    Wummernde Bässe und fast kreischendes Lachen tönen aus der Markthalle im Stadtzentrum. Flackerndes blaues Licht fällt auf die Straße. Wilnas Eventszene feiert im Dachgeschoss – ausgelassen und friedlich. In der Sankt-Kasimir-Straße vergnügt eine Quizshow Alt und Jung. In den Pausen füllen die zahlreichen Raucher den Innenhof, beim Feuergeben kommt man sich näher. Plötzlich frischt der Wind auf, dann öffnet der Himmel seine Schleusen. Der Regen verwandelt die Gassen in Sturzbäche. Dicht gedrängt steht die Jugend der Hauptstadt unter den Baldachinen der Kneipen.

    Traikai war im Mittelalter für sieben Jahre die Hauptstadt Litauens. Foto: Autor

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    Auch wenn sich der politische Zwerg zum Satelliten der atlantischen Vormacht wandelte – kulturell setzen die Litauer auf nationale Eigenständigkeit. Amerikanisiert hat sich das Land – von allgegenwärtigen Kreditkarten und ein paar Fast-Food-Imbissen abgesehen – nicht. Dass Litauen über Jahrzehnte Sowjetrepublik war, scheint ebenfalls eine Erinnerung ohne Zeugnisse. Die Spuren des Imperiums sind verschwunden.

    Nur der langjährige Chef der Kommunistischen Partei, Antanas Snieckus, wurde nach Jahren der Verachtung zuletzt zaghaft rehabilitiert. In stalinistischer Manier hatte er das Land sowjetisiert, sich jedoch zugleich erfolgreich gegen eine Russifizierung gestemmt.

    (…)  (Ende der Auszüge)

    Dieser Artikel erschien vollständig im COMPACT-Magazin 09/2020. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form  hier bestellen.

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