Dem umstrittenen Querfrontler Ernst Niekisch wurde jetzt eine bahnbrechende Biografie gewidmet. COMPACT-Online publiziert eine ausführliche Rezension des bahnbrechenden Werkes in zwei Teilen: gestern den ersten, heute den zweiten. Sie können das besprochene Buch von Uwe Sauermann, „Ernst Niekisch – Widerstand gegen den Westen“, im COMPACT-Shop bestellen.

    _ von Klaus Kunze

    Geschichtsmetaphysik

    Es gibt Autoren, die man gelesen haben muss. Sie geben Orientierung, wohin man selbst will und wohin man nicht will. Auf ihren Wegen, Irrwegen und Sackgassen wandeln wir in einem Sessel mit einem guten Buch in der Hand bequemer als es Niekisch im Gefängnis hatte. In der Bibliothek der Geistesgeschichte steht Niekisch im Giftschrank der bösen Bücher. Uwe Sauermann hat uns heimlich den Schlüssel zugesteckt.

    Während Marxisten und andere Linksradikale in einem Sozialismus ein utopisches, aber gesetzmäßig zu erwartendes Ende der Geschichte in einem Nirwana allgemeinen Gerechtigkeit suchen, sieht Niekischs Geschichtsmetaphysik völlig anders aus. Von einem imaginierten goldenen Zeitalter deutscher Macht und deutschen Wesens ging es immer weiter abwärts. Dieses ähnelt der „glücklichen Urgesellschaft“ der
    marxistischen Ideenlehre.

    Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) . Foto: CC0, Wikimedia Commons

    Was dort aber den Sündenfall des Privateigentums an Produktionsmitteln ausmachte, das ist für Niekisch die gesamte „westliche“ Vorstellungswelt von Liberalismus, Demokratismus, Universalismus, Kapitalismus und Humanitarismus. Er schildert die deutsche Geschichte als Verfallsgeschichte, beginnend mit der Abschlachtung der urwüchsigen Sachsen durch Karl den Großen. Hitler als Katholik war aus Niekischs Sicht ganz dem Abendländischen und Römischen verfallen.

    In seiner bekannten Schrift von 1932 „Hitler, ein deutsches Verhängnis“ sah er dieses in einem Hitler, der Niekisch nicht radikal genug gegen die westlichen Demokratien, die Deutschland aufgezwungene Demokratie und den Kapitalismus vorging. Grandiose Fehlbeurteilungen des absoluten Willens Hitlers zur Macht unterliefen allerdings damals Politikern aller Seiten.

    Rettung suchte Niekisch in der preußischen Staatsidee. Sie schien ihm geeignet, die Kräfte aller Bürger zu bündeln, doch…

    „unerträglich fast schien die Forderung, mit der der Staat an den einzelnen herantrat; der einzelne brach unter ihr nur deshalb nicht zusammen, weil der Staat am Ende zur Verkörperung des Weltgeistes selbst erhoben wurde; jetzt war der Staat in so hohe Sphären gerückt, dass seinen Gehorsams- und Unterwerfungsansprüchen die zwingende Kraft göttlich-unbedingter Gebote innewohnte; ein Schimmer des Metaphysischen verklärte den preußischen Staatsgeist.“

    Damit ist Niekisch ist philosophisch geradezu der geistige Antipode der Aufklärung und juristisch unserer grundgesetzlichen Ordnung. Jedes ihrer Prinzipien und Wertentscheidungen ist denen Niekischs diametral entgegengesetzt. Für das Grundgesetz ist der Staat um des Menschen willen da, für Niekisch der Mensch um des Staats willen. Sein Etatismus gründet auf der idealistischen Vorstellung Hegels vom Staat als Inbegriff und Hüter des Sittlichen:

    „Der Staat ist“, Hegel zufolge, „die Verwirklichung der sittlichen Idee. Der sittliche Geist offenbart sich und denkt sich im Staate. Seine Existenz hat er unmittelbar aus der Sitte. Der Staat ist die Manifestation des Willens, dessen Selbstbewusstsein das Vernünftige an sich verkörpert. Dieser Wille, der sich im Staat manifestiert, ist absoluter Zweck an sich selbst. Darin kommt die Freiheit zur höchsten Güte. Dieser Staat hat gegenüber dem einzelnen Individuum das absolute Recht. Gleichwohl hat jeder Bürger die absolute Pflicht, ein Teil dieses Staates zu werden.“

    Während Hans Buchheim betonte, Niekisch habe den totalen Staat ausschließlich als politisch-sittliche Idee verlangt, weist Sauermann nach, dass er diese Totalität durchaus anwendungspraktisch verstand. Niekischs „sittliche“ Staatsidee hat sich im Ringen der metaphysischen Angebote in der Weimarer Zeit nicht gegenüber den geistig schlichteren Angeboten Hitlers durchgesetzt. Dieser hatte ausgerufen: „Nicht der Staat befielt uns, sondern wir befehlen dem Staat!“

    Machiavelli hatte einst geschrieben, jeder werde mit seinen Vorhaben scheitern, der sich nicht im Einklang mit seinen Zeitumständen befindet. Während Carl Schmitt 1932 seufzte: „Die Epoche der Staat­lich­keit geht jetzt zu Ende. Dar­über ist kein Wort mehr zu verlie­ren,“ setzte Niekisch unverdrossen auf auf die Staatsidee. Er hatte seine Zeit revolutionär verändern wollen, um dem deutschen Volk den ihm von Niekisch zugedachten Platz zu erkämpfen.

    Der Utilitarist

    Seit seiner Beteiligung an der Revolution von 1918 verstand Niekisch sich nicht primär als Politiker und nicht als Philosoph, Literat oder gar als Moralphilosoph. Seinem Werk „Gedanken über deutsche Politik“ von 1929 stellte er sogar ein Zitat von Machiavelli voran, dem großen Amoralisten der Renaissance. Wie konnte Niekisch, Amoralist, der er war, den Staat als Verkörperung des sittlichen Weltgeistes preisen?

    Er bediente sich derselben Methoden, die bereits Machiavelli empfohlen hatte und deren sich unsere Politiker heute noch bedienen:

    „Es gehört zu den merkwürdigsten Eigentümlichkeiten der Massenseele, dass sie die Worte autoritativer Persönlichkeiten um so lieber als wirklichen und glaubwürdigen Ausdruck vorhandener Gesinnungen hinnimmt, je erhabener, edler und vornehmer die Gesinnung zu sein scheint, die sich in diesen Worten andeutet.“

    Scheinbar leiten diese Worte Niekischs Rückblick auf den 14-Punkte-Plan des US-Präsidenten Wilson vom 18. Januar 1918 ein. Die Deutschen hätten dem Wortlaut der ehrlich klingenden Rede geglaubt. Ein Politiker, dekliniert Niekisch aber seinen Machiavelli durch, weiß: Für den Erfolg ist es unwichtig, ob die Absichten moralisch sind, wenn nur die Worte moralisch klingen. „Diese Einstellung liegt jenseits von gut und böse“, lässt er Nietzsche aufblitzen, „und ist ihrem inneren Wesen nach durchaus amoralisch“ – nicht unmoralisch!

    Sie nimmt den Menschen „als eine naturwissenschaftliche Gegebenheit“ und stellt fest, „wie er bewegt und beeinflusst werden muss.“ Seine „Entzündlichkeit durch Ideale“ sei ein „Hebel, mittels dessen, wenn man sich seiner geschickt bedient, der Mensch am leichtesten und sichersten zu lenken und in klug erwogene Bahnen zu drängen ist.“ Nicht die Förderung sittlicher Verwirklichung sei der Zweck, sondern die Erregung seiner sittlichen Kräfte und Antriebe. Nur seltene und besonders begabte Persönlichkeiten brächten die Voraussetzungen für diese politische Denk- und Anschauungsweise mit.

    Das Symbol des Widerstandskreises von Ernst Niekisch. Foto: CC0

    Vor diesem Hintergrund erweist Niekisch sich als reiner Nationalist. Seine Metaphysik: das preußische Staatsethos, die Verkörperung des sittlichen Weltgeistes in einem totalen Machtstaat, aber auch sein „Bolschewismus“ erweisen sich dagegen als probate Mittel, Menschen auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören. Wer herrschen will, muss scheinbar einer Idee dienen. Und die Opfer bringen sollen, müssen gläubig sein. Metaphysik zu glauben ist etwas für die zu lenkenden Massen; sie zu benutzen ist eine Herrschaftstechnik der politischen Führer.

    Die absolute Republik

    Niekisch wünscht sich den Staat nicht als eine totale Gesellschaft, in der eine Klasse gegen die anderen kämpft und sie verschlingt, sondern als absoluten Staat, der alle gesellschaftlichen Kräfte neutralisiert und bändigt. Einen solchen Staatsabsolutismus liebt und möchte niemand. Als totaler Staat sollte er alle Kräfte unter gleichförmiger Regie zusammenfassen, weil nur in einem starken Machtstaat der Deutsche wieder zu seinem soldatischen, preußischen „Wesen“ finden und der Ausplünderung durch die „abendländischen“ Mächte von Rom über Paris bis New York entgehen könne.

    Niekisch propagierte seine absolute Republik nicht offen als zynischen Machtstaat. Er versah ihn im Sinne Hegels mit dem Odium der Sittlichkeit. Dieser Metaphysik blieb die Massengefolgschaft aber versagt. Niekisch verstand es zwar meisterhaft, geschichtliche Fakten und tagespolitische Ereignisse in seinem Sinne umzudeuten. Dabei entfernte er sich zuweilen so weit von der von allen anderen wahrgenommenen Wirklichkeit, dass sein Einfluss begrenzt blieb.

    Seine Lektüre ist schlechterdings unverzichtbar, wenn jemand mit dem Gedanken spielt, einen bestimmten argumentativen Pfad erneut zu beschreiten. Bei Niekisch können wir nachlesen, wohin Gedankengänge in letzter Konsequenz führen. Das Labyrinth der Möglichkeiten betritt mit verbundenen Augen, wer darauf verzichtet, es zuvor, gemütlich im Sessel sitzend, mit seinen Verästelungen und Sackgassen in Draufsicht zu studieren. Für diesen Überblick und schließlichen Durchblick ist der Kaufpreis von Sauermanns Buch gut angelegt.

    Uwe Sauermann, „Ernst Niekisch – Widerstand gegen den Westen“, im COMPACT-Shop bestellen

    Ernst Niekisch (1889 – 1967) war ein politischer Denker und faszinierender Autor, der sich von der extremen Linken zum Visionär des deutschen Nationalismus entwickelte. Dennoch wurde er 1939 vom Volksgerichtshof zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Warum dieser Nationalist und zugleich Antifaschist mit Hitlers Nationalsozialismus kollidieren musste und heute noch Interesse verdient, geht aus diesem Buch hervor. Er war ein „unbedingter“ Nationalist, der trotz gänzlich veränderter Umstände heutigen „Nationalkonservativen“ als Test für die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens dienen und auch Linke verunsichern kann.

    Kommentare sind deaktiviert.