Nach dem Skandal um die Kabarettistin Lisa Eckhart wird auf einmal deutschlandweit vor den Gefahren der „Cancel-Culture“ gewarnt. Die Diskussion ist heuchlerisch. Diejenigen, die jetzt mahnend die Stimme erheben, haben das beanstandete Klima der Repression jahrelang selbst erzeugt.

    Auf einmal werden jede Menge Krokodilstränen vergossen. Krokodilstränen um die Meinungsfreiheit. Der argumentativ beste Text und somit einer der repräsentativsten zu dem Thema ist der Essay von Yascha Mounk, veröffentlicht in der Zeit Nr. 34/2020. Er trägt den Titel „Kollektive Zensur“ und im Untertitel steht: „Eine Warnung“. Doch die kommt mindestens zehn Jahre zu spät. Und sie ist scheinheilig. Schließlich waren es auch die Journalisten von Leitmedien wie der Zeit, die mit Begriffen wie Verschwörungstheorie, Corona-Leugner, Populist oder gar Rassist in Deutschland in den letzten Jahren ein Klima geschaffen haben, in dem sich öffentlich nur noch ganz Verwegene mit einer vom Mehrheitskonsens abweichenden Meinung zu Wort melden, sofern sie nicht sowieso längst zur „Neuen Rechten“ gehören.

    Wer durch entsprechende öffentliche Äußerungen zugelassen hat, dass man ihn diesem Spektrum zurechnen kann, genießt, so darf man wohl sagen, die Narrenfreiheit eines Leukämiekranken im Endstadium: Dem ist sowieso nicht mehr zu helfen. Der breite Rest hält seine Meinung so konsequent unter Verschluss wie der brave Deutsche im Hitlerreich, der ein paar Jahre später mit den Achseln zuckte und alle, die danach fragten, wissen ließ: „Dass das so schlimm ist, konnte ja keiner ahnen!“

    Manche versuchen Provokantes auch einfach unter dem Deckmantel der Kunst von sich zu geben. Lisa Eckhart ist ein besonders anschauliches Beispiel: Wohin ihr Versuch, Anstößiges zu sagen und sich dabei auf die Freiheit der Kunst zu berufen, führte, ist bekannt. Der Absage einer Lesung mit der Kabarettistin in der Kulturmetropole Hamburg ist zu verdanken, dass der in den USA geprägte Begriff cancel culture seinen Weg durch den deutschen Debattendschungel fand und schließlich bei der Zeit landete, wo Yascha Mounk schrieb:

    „Wenn sich das Prinzip, dass ein paar Aktivisten einen Künstler oder Schriftsteller für unakzeptabel erklären können, einmal etabliert, dann verengt sich der öffentliche Diskurs rapide.“ Das wirft die Frage auf, wo Mounk war, als Eva Herman es 2006 wagte, ein brillantes antifeministisches Pamphlet zu veröffentlichen. Oder wer von Mounks Zeit-Kollegen sich mit einer „Warnung“ zu Wort meldete, als Rocco Buttiglione im Jahr 2004 EU-Justizkommissar werden sollte, aber nicht werden durfte, weil er es gewagt hatte, Homosexualität als Sünde zu bezeichnen, womit der Politiker die klaren Ansagen der Bibel, die für Christen früher mal verbindlich waren, sogar noch verharmlosend wiedergab (tatsächlich benutzt Paulus im Römerbrief das Wort „Schande“).

    Standen Spiegel und Zeit, ARD und ZDF etwa auf der Seite von Buttiglione und Herman, als diese medial abgekanzelt wurden? Oder haben sie nicht vielmehr fleißig mit abgekanzelt und so dazu beigetragen, dass die beiden Ketzer von der Liste der für die anvisierte bzw. ausgeübte Funktion geeigneten Kandidaten gestrichen wurden?

    Lisa Eckhart. Foto: troebinger/CC BY creativecommons.org

    Das englische Wort für „streichen“ lautet „cancel“. In diesem Sinne „gecancelt“ wurde auch Xavier Naidoos Mitwirkung am Eurovision Song Contest 2012 bzw., ein paar Jahre später, an der RTL-Sendung „Deutschland sucht den Superstar“. Naidoo war fürs Fernsehen nicht mehr gut genug, weil er das Grundgesetz wörtlich genommen und sich das Recht auf eine eigene Meinung herausgenommen hatte. Andersherum lief es bei dem lettischen Regisseur Alvis Hermanis, der 2015 ein Engagement beim Hamburger Thalia-Theater wegen der von deutschen Bühnen zur Kulturdoktrin erklärten Willkommenskultur (dem humanitär angestrichenen großen Bruder der Abkanzel-Kultur) absagte.

    Da die Kultur des Abkanzelns es nicht erträgt, selbst abgekanzelt zu werden, quittierte Thalia-Intendant Joachim Lux die Absage mit einer Hetzkampagne gegen Hermanis. Er machte die private E-Mail mit Hermanis‘ Begründung öffentlich und stellte ihn damit an den Pranger. Die medialen Systemlakaien fielen selbstverständlich wie auf Kommando über den ihnen zur Beute vorgeworfenen Regisseur her. Sogar die bürgerliche Welt bezichtigte ihn „paranoider Pegida-Parolen“. (Das war natürlich vor den Anschlägen von Brüssel, die Europa wenig später erschüttern sollten.)

    Den Theatermann zum Vorbild nahm sich nun Martin S. aus N., der nach eigener Auffassung ein besonders tragisches Opfer der neuen deutschen Absagekultur wurde und sich entschloss, den E-Mail-Wechsel, der sich daraus ergab, dem an dieser Stelle publizierenden Autor zuzuspielen, verbunden mit der Bitte, diesen besonders grausigen Fall von linkem Gesinnungsterror und liebedienerischen Terror-Erfüllungsgehilfen aus Kreisen der Wirtschaft zu dokumentieren.

    Nein, es geht diesmal nicht um die Erpressungsversuche von Adidas, Coca-Cola, SAP, Henkel und VW, die Facebook mit dem „Canceln“ ihrer Werbeanzeigen dazu pressten, den Maulkorberlass, wie er uns im deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz begegnet, konsequenter umzusetzen; es geht um LEGO. Und es geht um einen Mann, der einfach nur spielen wollte, aber den die „Cancel-Kultur“ nicht spielen ließ.

    Konkret wollte Herr S. aus N. spielen mit dem für die zweite Jahreshälfte angekündigten Modell der Bell-Boeing V-22 Osprey, das die LEGO-Fangemeinde bereits freudig erwartete. Denn, so Herr S., „diesmal sollte das Modell nicht in der City-, sondern in der für uns viel interessanteren Technic-Serie herauskommen und stellte – was Innovation, Detailtreue und Wertigkeit angeht – einen echten 2020-er Höhepunkt dar […]. Ähnliche Kipprotor-Flugzeuge gibt es bei LEGO schon seit längerer Zeit; allerdings nur in der eher für Kinder bestimmten City-Serie.“

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    Es ging also um Kriegsspielzeug.  So wenig jedoch bislang der Einfluss von Ballerspielen auf irre Massenmörder zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, so offen ist auch, ob die Benutzer von LEGO-Hubschraubern später im Leben Flaschen auf Polizisten werfen oder gar in der Sahara an UN-Friedensmissionen teilnehmen werden, was derzeit so ziemlich das Gefährlichste ist, was einem deutschen Armeeangehörigen widerfahren kann. Trotzdem ermannte sich die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigung der Kriegsdienstgegner/DFG-VK BREMEN, dem totalitär-gefährlichen Kriegsspielzeug den Kampf bis aufs Messer anzusagen.

    Eine Kampagne wurde losgetreten – vor den LEGO-Stores fanden, flankiert durch öffentlichkeitswirksame Antikriegs-Propaganda, Protestveranstaltungen statt – mit dem von der Abkanzel-Kultur erhofften Ergebnis: LEGO zog das Spielgerät zwei Wochen vor seinem offiziellen Marktstart zurück, allerdings nachdem die Modelle bereits produziert und an die Händler ausgeliefert waren. So sauer hat hernach Martin S. aus N. selten jemand gesehen. Der sonst eher für ruhige Umgangsformen bekannte Dozent wandte sich, dem Motto der von Bundespräsident Steinmeier in den Rang einer demokratieförderlichen Großkampagne erhobenen Aktion „Deutschland spricht“ gemäß, dialogbereit an den Verein, sprach verärgert von „politisch überkorrekten Sittenwächtern“ mit einer „unermesslichen moralischen Überlegenheit“ und zitierte Mark Twain: „Der Gutmensch ist ein guter Mensch von der schlimmsten Sorte.“

    Das ließ der selbsternannte Friedensverein des deutschen Spielzeughandels nicht auf sich sitzen, übte Kritik an dem Begriff „Gutmensch“, der ja vorzugsweise im „rechten Milieu“ verwendet wird, und bestritt überzeugend, dass Mark Twain das so gemeint haben könne, es handle sich doch wohl eher um eine Anspielung auf den neidischen zweiten Sohn aus dem biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn. Die Replik endete „mit nicht so freundlichen Grüßen“.

    Der Mailverkehr wurde zur Posse. In seiner Antwort auf die Antwort zeigte sich Herr S., katholisch erzogen, nunmehr hocherfreut, im Autor der mäßig freundlichen Zeilen:

    „einen Bruder im Geiste gefunden zu haben“, und fuhr fort: „Ihre Deutung des zweiten Sohnes ist zweifellos zutreffend. Der Versuch jedoch, ihn auf Mark Twains Ausspruch zu beziehen, ist für mich ein typisches Beispiel für willkürliche Okkasions- und Assoziationsexegese oder, in einfachem Deutsch: Was nicht passt, wird passend gemacht.“

    Bei der Wiedergabe des Gleichnisses im Lukasevangelium komme nämlich im Deutschen weder das Wort „gut“ noch in der englischsprachigen St. James Bible, die Mark Twain mutmaßlich vorlag, das Wort „good“ vor. Das passe also eher nicht:

    „Völlig richtig ist aber die Beobachtung, dass es Menschen gibt, die pharisäerhaft die (moralischen) Gesetze ihrer Zeit befolgen, aber im Inneren eine erschreckende Herzenskälte hegen. Ich denke, Menschen, die sich als ‚tolerant‘, ‚humanistisch‘ und ‚edel gesinnt‘, womöglich als ‚Verteidiger der Demokratie‘ bezeichnen, dann aber bei der ersten Gelegenheit zu bornierten Bilderstürmern mutieren, sobald jemand aus dem von ihnen ideologisch abgesteckten Propagandaparadiesgarten auszubrechen sich anschickt, passen auch in diese Kategorie.

    Sie sehen mir hoffentlich nach, dass ich derartig ideologisch abgestecktes Terrain bei Ihnen ausfindig gemacht habe. Ob auch der Vorwurf der Herzenskälte zutreffend ist, wage ich indes erst nach Erhalt der nächsten Mail von Ihnen abschließend zu beantworten.“

    Zu dieser Mail jedoch kam es nicht mehr: Die E-Mail-Adresse von Herrn S. wurde auf die Blockliste des Korrespondenzpartners gesetzt. So unterblieb auch die Beantwortung der weiteren Fragen, die Herrn S. unter den Nägeln brannten: Bell-Boeing habe mit Anlaufen der Produktion der Modelle bereits einen Anspruch auf vertragliche Lizenzgebühren realisiert; die Folgen des Boykotts träfen also nicht den Konzern, sondern nur LEGO bzw. dessen Kunden.

    Worin bestehe da der Erfolg im Kampf für Frieden? Von der massiven Verschwendung kostbarer Ressourcen ganz zu schweigen. Herr S.:

    „Wohin jetzt mit den Modellen/Verpackungen? Außerdem: so ein enormer Transportaufwand für nichts und wieder nichts. Auf Ebay finden sich diverse (vermutlich von Händlern nicht an LEGO retournierte oder irgendwelche in dunklen Kanälen versickerte) Modelle, die zu unverschämten Preisen (ab 1.200 EUR aufwärts) von Spekulanten verkauft werden. Normale Fans wie ich hingegen gehen leer aus. An diese Art von Turbokapitalismusförderung hat offenbar keiner der verbal hochgerüsteten Pseudopazifisten in Ihrem Verein gedacht.“

    Was Herr S. eigentlich nur sagen wollte: LEGO-Fans sind in ihrer Eigenschaft als Spielzeugnutzer so unpolitisch wie Fünfjährige. Sie möchten einfach nur spielen! Das aber unterbinden verbiesterte Fräulein-Rottenenmeier-Reinkarnationen, sauertöpfische Kreuzzügler der Hypermoral und als Pazifisten getarnte Neo-Robespierres, die in Gedanken bereits die Guillotine in Betrieb nehmen, sobald sie irgendwo ein schwarzes Loch erblicken, denn – Hilfe! – es könnte ja der Lauf einer Spielzeugpistole sein!

    Und wer ihrem Tugenddiktat nicht zu folgen willig und gehirngewaschen genug ist, was wird dem in den Kommentarspalten unter dem Youtube-Video des Friedensvereins vorgehalten (keine kritische Würdigung der „Cancel-Kultur“ kann vollständig sein ohne diesen Hinweis)? „1933 wurden wir verboten!“ Was sollen LEGO-Fans und alle anderen Opfer denn daraus für Schlüsse ziehen: dass es reicht, als Rotarmist einst von den Weißen verfolgt und bekämpft zu werden, um sich ein paar Jahrzehnte später wie Stalin aufführen und den Staat säubern zu dürfen von allem, was dem eigenen Begriff vom Guten, Wahren und Schönen widerspricht?

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    Boykottaufrufe, moralischer Druck, Pogromstimmung, „Deutsche, wehrt euch, kauft nichts von LEGO!“: Ist das wirklich das Deutschland, das wir wollen? Und moralisch überlegen sich dünkende Friedensaktivisten, die erst Steilvorlagen für eine niveauvolle Auseinandersetzung schicken und dann bei der ersten intellektuell brauchbaren Replik die Segel streichen?

    Auch Yascha Mounk ist sich sicher, dass es längst nicht mehr um demokratisches Streiten geht.Die „Cancel-Kultur“-Kampagnen, schreibt Mounk,..

    „begegnen einer Aussage nicht mit einem Gegenargument, sondern versuchen, ihren Gehalt durch Zensur oder Auftrittsverbote aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Sie tragen ihre Kritik nicht in ihrem eigenen Namen vor, sondern organisieren Formen kollektiver Schuldzuschreibung oder öffentlichen Boykott. Und sie erklären nicht nur den Einzelnen zur Persona non grata, sondern drohen auch allen, die den Verdammten verteidigen oder weiter mit ihm arbeiten wollen, mit Konsequenzen.“

    Der Verweis der „Cancel“-Propagandisten auf den Widerstand gegen faschistische Regime wird in diesem Licht zum krassen Eigentor. „JurassicFart“, ein ebenfalls erboster LEGO-Fan, hinterließ bei Youtube den Kommentar: „Ganz ehrlich – wer hier bei so einem lächerlichen und belanglosen Topic die Nazis hervorholen muss, ist nicht mehr zurechnungnsfähig …“ Denn wer gegen das „Dritte Reich“ aufstand, dem ging es um Freiheit und nicht um das Gegenteil davon: die Vernichtung von Freiheit nach Maßgabe einer propagandistisch erzielten Deutungshoheit über Gut und Böse – im LEGO-Spielzeugland sowie im Rest der Gesellschaft.

    Frustriert wandte sich Herr S., nachdem er von der Liste der Menschen gestrichen worden war, mit denen der Bremer Vereinsableger zu diskutieren bereit ist, an die niedersächsische Vereinsvertretung (DFG-VK-Gruppe Lüneburg). Er wartet bis heute auf Antwort. Dass ein Vertreter der „Cancel-Kultur“ mal selbst abgekanzelt wird, ist ganz offensichtlich im geistigen Koordinatensystem der Hypermoralisten so wenig vorgesehen, dass es selbst engagierten Aktivisten die Sprache verschlägt. Vermutlich macht permanenter Pazifismus nicht nur konfliktscheu, sondern auch dialogunfähig.

    Wie die Presse an der Entstehung der Cancel-Kultur beteiligt war: Thor Kunkel: „Wörterbuch der Lügenpresse“ – Infos und Bestelloption hier

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