Wurde die Wiedervereinigung vom KGB eingefädelt? Verkaufte Gorbatschow die DDR? Hans Modrow erlebte als DDR-Ministerpräsident die Entscheidungen 1989/90 aus nächster Nähe. Es folgt ein Interview, das Chefredakteur Jürgen Elsässer mit Hans Modrow führte. Erstveröffentlichung in COMPACT 10/2011.

    COMPACT: Ihr Beitrag zur Wiedervereinigung ist beträchtlich. Anfang Februar 1990 kehrten Sie als DDR-Ministerpräsident aus Moskau zurück und verkündeten eine neue Orientierung: «Deutschland – einig Vaterland!» Warum dachten Sie, dass die DDR nicht mehr zu halten war?

    Modrow: Die Gespräche ab 30. Januar 1990 in Moskau hatten ja einen Vorlauf. Bis Ende 1989 waren wir uns in meiner Regierung einig, dass die DDR nicht zur Vereinigung mit der BRD geführt werden sollte. Es galt die Regierungserklärung vom 17. November 1989: Die Wiedervereinigung steht nicht auf der Tagesordnung, es geht vielmehr um eine Demokratisierung der DDR.

    Erst zu Jahresanfang 1990 begann im klei-nen Kreis ein Umdenken. Zwei Ereignisse hatten meinen Beratern und mir verdeutlicht, dass die DDR nicht mehr zu halten war: Am 2. Dezember hatten sich die Präsidenten Bush und Gorbat schow auf Malta getroffen. Dabei war spürbar gewesen, dass Gorbatschow nur noch so tut, als ob er die DDR erhalten wolle. Und am 9./10. Januar 1990 hatte es einen Gipfel des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe( RGW) …

    des Gegenstücks zur EWG im Bereich des Warschauer Paktes …

    in Sofia gegeben, wo der sowjetische Ministerpräsident Ryshkow erklärte, dass künftig zwischen den Mitgliedsstaaten in harter Währung abgerechnet würde – nicht mehr, wie bis dahin immer, in Transferrubeln. Damit galt praktisch im RGW-Bereich der Dollar.

    Das war dann der ökonomische Todes stoß für die DDR, die nicht genügend Hartwährungsreserven besaß. Aber man hat den Eindruck, dass die Abwendung der UdSSR von der DDR schon früher einsetzte, spektakulär durch die Mission des Moskauer Deutschland-Spezialisten Nikolai Portugalow nach Bonn.

    Ja, das stimmt. Am 20.November 1989, eine Woche nach meinem Amtsantritt, sprach ich mich noch mit Valentin Falin, dem Leiter der Internationalen Abteilung im ZK der KPdSU, ab. Wir waren uns einig, dass es lediglich eine Vertragsgemeinschaft zwischen beiden deutschen Staaten geben sollte, was die Chance auf eine Annäherung, auf ein echtes Zusammenwachsen gegeben hätte. Doch schon einen Tag später traf Portugalow in Bonn ein und traf sich mit Horst Teltschik, dem wichtigsten Berater von Helmut Kohl. Dabei übermittelte er, dass sich die Sowjetunion unter bestimmten Bedingungen mit der Wiedervereinigung abfinden würde.

    Bis heute rätselt die Fachwelt, wer Portugalow geschickt hat.

    Falin leitete die Internationale Abteilung beim ZK, er war Portugalows Vorgesetzter. Auch Gorbatschow muss informiert gewesen sein.

    Das bedeutet, die Sowjets haben doppeltes Spiel getrieben: Falin hat Ihnen das eine versprochen, Portugalow Kohl das andere. Die Frage ist natürlich, ob Teltschikin Portugalow etwas hinein interpretiert hat. Ausgehend von Portugalows Mission, die vom KGB an der sowjetischen Botschaft vorbei vorbereitet worden war, gibt es die Theorie, dass der sowjetische Geheimdienst oder eine Fraktion desselben schon seit ungefähr 1986 das Ziel verfolgt hatte, die DDR zu liquidieren. Über diese Verschwörergruppe «Lutsch» – auf deutsch: Lichtstrahl – schreibt etwa Heinz Marohn, Mitglied der Kommunistischen Plattform, in seinem Buch „Das Geschenk“. Was wissen Sie darüber?

    Modrow nach seiner Wahl zum Regierungschef, 13. November 1989. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1113-054 / Reiche, Hartmut / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

    Das ist eine weit verbreitete Legende .Ich glaube nicht an die Steuerungsfähigkeit dieser Prozesse durch den KGB. Sie müssen sehen, dass KGB-Chef Krjutschkowin einer Beratung bei Gorbat -schow in Moskau noch am 26. Januar1990 allen Ernstes den Vorschlag machte, Hans Modrow müsste aus der SED-PDS austreten und die Leitung der Ost-SED übernehmen. Kann man sich größere Weltfremdheit vorstellen? Er wollte die SED-PDS in die Ost-SPD auflösen? Nein. Gregor Gysi sollte die SED-PDS führen und ich die Ost-SPD. Im übrigen: Iwan Kusmin, der sowjetische General in Karlshorst, hat diese «Lutsch»-Legende nie bestätigt, und auch Falin wusste nichts von einer KGB-Verschwörung. Primakow, der bei Gorbatschow und dann bei Jelzin den Auslandsdienst leitete, bestätigt eine solche Gruppe nicht.

    Aber offensichtlich ist doch, dass Portugalow nicht der erste Sowjetvertreter war, der die Wiedervereinigung hoffähig machte.

    Tatsächlich gab es solche Stimmen schon vor 1989. Ich erinnere an einen außenpolitischen Berater Gorbatschows, Wjatscheslaw Daschitschew. Oder an den berühmten Schriftsteller Jewgeni Jewtu-schenko, der 1987 in Berlin/West forderte: «Die Mauer muss weg.» Wie verliefen die Debatten über den künftigen militärischen Status eines vereinigten Deutschland? Als ich Ende Januar 1990 bei Gorbatschow in Moskau war, stimmte er noch voll unserer Position zu: Wiederverei-nigung ja, aber bei Neutralisierung Deutschlands.

    Das Beharren auf der Neutralität war ja auch eine alte sowjetische Position, wenn Sie etwa an die Stalin-Note von 1952 denken. Aber als US-Außenminister James Baker am 8.Februar 1990 Moskau besuchte, wich Gorbatschow schon von unserer Vereinbarung ab und stimmte einem Verbleib Gesamtdeutschlands in der NATO zu, wenn auch ohne Stationierung alliierter Truppen auf dem Gebiet der dann ehemaligen DDR. Als Kohl am 10. Februar aus Moskau zurückflog, konnte er verkünden, er habe den «Schlüssel zur Vereinigung» abgeholt.

    Um die Details der Wiedervereinigung wurde im Kreis der vier Sieger mächte des Zweiten Weltkrieges und der beiden deutschen Staaten gestritten. Während man im Westen von den Zwei-plus-vier-Verhandlungen sprach, hielten Sie mit der Formel Vier-plus-zwei dagegen. Mit anderen Worten: Sie betonten die Vorbehalts-rechte der Alliierten und ordneten diesen das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen unter. War das nicht undemokratisch?

    Nein, denn diese fasche Akzentuierung sollte auch eine große Rolle beim Zerfall der UdSSR spielen. Als der Zwei-plus-vier-Vertrag im Januar 1991in der Duma ratifiziert werden sollte, opponierten Militärs und Traditionalisten und beklagten sich, dass mit dem Inkrafttreten die Sowjetunion doch noch den Zweiten Weltkrieg verlieren würde. Die Ratifizierung gelang nur, weil gleichzeitig eine Zusatzerklärung verabschiedet wurde, die die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg be-tonte und einen Verzicht auf die politische Verfolgung ehemaliger DDR-Bürger verlangte.

    Jetzt haben Sie aus der Sicht der Sowjetunion argumentiert. Mir ging es aber um das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen. Sie wollten die NATO-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands verhindern und hofften, dass die Sowjetunion ihr Veto im Kreis der Alliierten einlegt. Wäre es nicht besser gewesen, auf das deutsche Volk zu setzen, als auf Moskau zu vertrauen – also eine Volksabstimmung in beiden deutschen Staaten über den künftigen militärischen Status zu fordern?

    Das wäre eine Möglichkeit gewesen, die die sowjetische Seite vergeben hat. Als ich mich 2010 in Moskau mit dem stellvertretenden Außenminister Tito traf, räumte auch er ein, dass damals viele Fehler gemacht wurden. Leider kann das heute nicht mehr korrigiert werden. Nehmen Sie etwa den Beschluss des Politbüros der KPdSU über die Eigentumsrechte in der DDR, die Verteidigung der Ergebnisse der Boden – reform, vom Mai 1990. Das war eine völkerrechtliche Festlegung, die auch zum Zwei-plus-vier-Vertrag gehört. Bis heute behauptet Gorbatschow wahrheitswidrig, dass er nicht an dieser Festlegung beteiligt war.

    Die Sowjetunion hat nicht auf ein deutsches Referendum gepocht, das ist das eine. Aber warum haben Sie –der Regierungschef der DDR beziehungsweise der führenden Regierungspartei SED-PDS – nicht darauf gedrängt, die Deutschen direkt über alle Schlüsselfragen der Vereinigung entscheiden zu lassen?

    Wenige Tage nach dem Mauerfall ist Betrieb auf dem Tor. Foto: Lear 21, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons

    Das war im Vorfeld der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 nicht real, das hätte man bei den Alliierten nicht durchsetzen können. Umgekehrt gab es nach der Volkskammerwahl keine Regierung mehr, die daran Interesse hatte. Der neue Ministerpräsident Lothar de Maizière nahm vielmehr Kurs auf die schnelle Realisierung der Wäh-rungsunion, die dann am 1.6.1990 kam.

    Sie argumentieren sehr stark vom jeweiligen Kräfteverhältnis her. Bedeutet das, dass Sie Ihr Programm« Deutschland – einig Vaterland» von Anfang Februar 1990 eher taktisch verstanden und gar nicht als Bekennt nis eines deutschen Patrioten?

    Das hatte mit deutschem Patriotismus nichts zu tun. Ich war bemüht, eine Verlaufsform für die Vereinigung zu finden, die die Interessen der Sowjetunion wie die Polens – die Verteidigung der Oder-Neisse-Grenze – und der Tschechoslowakei – die Gültigkeit der Benes-Dekrete – berücksichtigte. Die Vereinigung durfte die internationale Balance und den Frieden nicht gefährden. Das war mein Ansatz.

    Dass Sie so dezidiert ablehnen, patriotisch gehandelt zu haben, verblüfft mich. Die Worte «Deutschland, einig Vaterland» stammen ja immerhin aus dem Text der DDR-Hymne, was darauf verweist, dass Patriotismus durch aus ein Teil der SED-Tradition gewesen war.

    Eines habe ich in meinem Leben gelernt, nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion und enger Zusammenarbeit in der FDJ mit den Jugendorganisationen der Bruderstaaten: Patriotismus wird nie zur Freundschaft mit unseren Nachbarstaaten führen. Bei den Weltjugendfestspielen in Warschau 1955 traf ich einen jungen polnischen Fliegeroffizier. Er sagte zu mir: Du bist Deutscher, also Faschist. Es brauchte Zeit, bis Vertrauen und Freundschaft entstand. (Fortsetzung des Interviews unter dem Werbebanner)

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    Mir scheint, heute wird das in Russland nicht mehr so gesehen. Man erinnert sich an Rapallo und Tauroggen, die guten Zeiten der Zusammenarbeit von Patrioten in Berlin und Moskau.

    Ja, wenn diese Zusammenarbeit den russischen Interessen förderlich ist, wird sie unterstützt. Ich habe mir da auch einiges eingeredet. Mein leiblicher Bruder lebte in der BRD. Wir trafen uns erst im Mai 1990 wieder. Die Verwandtschaft mit ihm galt mir als reiner Zufall, wir hatten eben die selben Eltern. Meine Klassenbrüder waren mir wichtiger, etwa meine Freundschaft als Dresdner SED-Bezirksvorsitzender zu den Genossen in Leningrad. Aber am Ende verschwand mancher Klassenbruder, und mein leiblicher Bruder blieb übrig. Er hielt zu mir, als die bundesdeutsche Justiz gegen mich Prozesse führte.

    Heißt das: Blut ist dicker als Wasser?

    So ist es.

    Hans Modrow, Jahrgang 1928, wurde 1949 Mitglied der SED und war von 1973 bis 1989 Bezirksparteisekretär in Dresden. Von 13. November 1989 bis 12. April 1990 war er Ministerpräsident der DDR, später für die PDS Abgeordneter im Bundestag und im Europaparlament. Heute ist er Ehrenvorsitzender der Linkspartei.

     

     

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