Der Westen staunt über die rasche Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban. Doch das Scheitern kommt nicht überraschend. Mehr über das totale Scheitern der USA im Nahen und Mittleren Osten lesen Sie im COMPACT-Spezial Krieg. Lügen. USA: Die Blutspur einer Weltmacht. Hier mehr erfahren.
Das Ende kam schnell: Eine Stadt nach der anderen fiel den unaufhaltsam wie ein Wirbelsturm heranrückenden Taliban in die Hände. Wäre die Menschheit in der Lage, aus der Geschichte zu lernen, dann hätte sie wissen können, dass das Afghanistan-Experiment scheitern musste. Vor allem den USA hätte klar sein müssen, dass man zwar einzelne Schlachten, nicht aber einen ganzen Krieg gegen ideologisch verblendete Guerillas gewinnen kann, denen die Sache oft wichtiger ist als ihr Leben.
Wölfe im Schafskostüm
Nicht nur die Bilder – der ikonische Hubschrauber über Botschaftsgelände – gleichen sich, auch die Gründe für das Scheitern sind denen bei der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Vietnam vergleichbar. Den westlichen Truppen ist es nie gelungen, der Mehrheit der Afghanen als der Heilsbringer zu erscheinen, als den sie sich selbst sahen. Sie blieben vor allem für die Paschtunen Wölfe im Schafskostüm, deren Geschenke man willig annahm, ohne je den Verdacht einer trojanischen Hinterlist abstreifen zu wollen. Die Männer aus dem Westen blieben kulturfremde Usurpatoren. Für Deutschland sind zahlreiche bittere Lehren zu ziehen.
Erste Lehre ‒ Deutsche Impotenz statt eigenem weltpolitischen Gewicht: Die schmerzhafteste ist wohl, dass man auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung ein weltpolitischer Zwerg ist, sobald es um mehr als kostenneutrale Rhetorik geht. Wenn es gestimmt hätte, dass am Hindukusch (auch) deutsche Interessen verteidigt werden sollen, dann hätte man auch unabhängig von den USA politisch-militärischen Gestaltungswillen an den Tag legen müssen. Jetzt zeigt sich, dass Deutschland nie mehr war als Amerikas visionsloser Wasserträger.
Zweite Lehre ‒ Gefährliche Halbheit bringt die Niederlage: Die Mission der westlichen Verbündeten in Afghanistan litt von Anfang an unter einem Legitimationsdefizit und lähmenden moralischen Skrupeln, unter Problemen also, die ihre Gegner nie hatten. Was als „Krieg gegen den Terror“ begann und damit verbal bereits die Rechtfertigung für einen Eroberungsfeldzug in sich trug, der keine Rücksicht auf das Völkerrecht nehmen wollte, sollte nachträglich, mit Rücksicht auf kritische Stimmen aus Presse und Politik, zu einer humanitären Mission umdeklariert werden. Verteidigungstrainings für die unterbelichteten einheimischen Truppen, Entwicklungs- und Aufbauhilfe, Bildungsprogramme, Demokratisierung – bei einem Militäreinsatz, der das für sich deklarierte, konnte das moralische Gewissen der durch Weltrettungshalluzinationen in ihrem Klarblick getrübten westlichen Zivilisationen schön im Schaukelstuhl sitzen bleiben und musste sich nicht erheben, um einer skeptischen Opposition Stimmen zuzuführen.
Soldaten: In Deutschland nur „Extremisten und Versehrte“
Die Akzeptanz des Afghanistan-Einsatzes hierzulande war vor allem ein Propagandaerfolg. Dankbar griffen Medien Geschichten auf von Mädchen, die Schulunterricht bekommen, und Soldaten, die Fußballfelder einweihen, während der deutsche Frontkämpfer eine ferne Wüstensilhouette blieb. Noch dankbarer waren die im Hauptstrom eines humanitären Pazifismus paddelnden Journalisten für traumatisierte Kriegsrückkehrer und von der Bestie für immer Gezeichnete.
Sie waren das willkommene Feigenblatt, um die Scham zu bedecken, die nach dem Verständnis der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit Blick auf deutsche Kampftruppen jeder empfinden muss. Die Wahrheit, dass nämlich laut einer an Soldaten des 22. ISAF-Kontingents durchgeführten Studie zwei Drittel gestärkt aus Kampfeinsätzen hervorgingen und nur einer von sieben Soldaten, die Feindberührung hatten, in Therapie musste, blieb in den Fluren der Kasernen.
Sie passte nicht zu der vorgefertigten öffentlichen Meinung, die wissen will, dass es immer Unheil bedeutet, wenn deutsche Armeeangehörige zur Waffe greifen, insbesondere für die Soldaten selbst. Das gebietet schließlich die Erinnerung an Angriffskrieg und NS-Verbrechen. Die Öffentlichkeit kennt beim Thema Militär, so brachte es Der Spiegel vor einigen Wochen in einer Reportage über den Afghanistan-Einsatz auf den Punkt, nur „Extremisten und Versehrte“.
Der Preis der Halbheit
Als Margot Käßmann (die einstige EKD-Ratsvorsitzende, die angetrunken am Steuer erwischt und danach wegen ihrer tätige Reue zur Heldin des Feuilletons wurde) den Afghanistan-Einsatz kritisierte, verlieh sie dem ihre Stimme, was Deutschland denken sollte: Eigentlich haben deutsche Soldaten auf fremdem Territorium nichts verloren. So blieb der Afghanistan-Einsatz ein bizarres Zwitterwesen. Zwar sollte auch Deutschlands Sicherheit verteidigt werden, doch das Lechzen nach moralischer Legitimation verhinderte, dass man mit klarem Blick und kompromisslosen Entscheidungen zu Werke ging.
Hätte man es sehen wollen, hätte man bemerkt, dass der Versuch, mit einer kleptokratischen Elite Demokratie zu bauen, nicht mehr Aussicht auf Erfolg haben konnte als der, ganz Kabul durch ein Hamsterrad mit Strom zu versorgen. Selbst das Zepter in die Hand zu nehmen, wirklich dauerhaft demokratische und rechtsstaatliche Strukturen zu schaffen, dazu fehlte den westlichen Besatzern der Mut. Es wäre neokolonialistischem Denken gleichgekommen und damit einem Sakrileg. Der Preis für diese Halbheit ist der Erdrutschsieg der Taliban. Jetzt zeigt sich, dass man die ganze Zeit nur an Symptomen herumgedoktert und das Geschwür nicht herausoperiert bekommen hat.
Dritte Lehre ‒ Afghanistan ist geprägt von unbezwingbarer Korruption: Die Korruption, die nepotistischen Clan-Strukturen, die sowohl die Amtszeit von Präsident Hamid Karzai als auch die von Präsident Ashraf Ghani prägten, sorgten dafür, dass der Rückhalt, den die oppositionellen Taliban in der Zivilbevölkerung genossen, stark blieb. Wie total nichtswürdig das Regime des jetzt geflohenen Präsidenten war, belegt die Lügenpropaganda, die seine Flucht begleitete und die gleichermaßen an die letzten Atemzüge des Hitlerreiches erinnert wie an Saddam Husseins letzte Tage vor dem Sturz: Während bereits nichts mehr zu retten ist, wird noch kräftig mobilisiert, wird auf die Propagandapauke gehauen, nur um den eigenen Gesichtsverlust möglichst lange hinauszuzögern.
Selbsthypnose statt Realismus
Als sich Anfang Juli in der Provinzhauptstadt Faizabad wie ein Vorschatten künftigen Unheils bereits die gleichen Szenen abspielten wie jetzt in Kabul, ließ das Verteidigungsministerium via Twitter verbreiten:
Weite Teile der Vororte Faizabads sind von Taliban-Terroristen gesäubert worden. Die Menschen setzen ihr Leben furchtlos fort.
Sand-in-die-Augen-Rhetorik aus dem Grenzbereich zwischen Realitätsverlust und Selbsthypnose. In Wahrheit gingen Soldaten einfach nach Hause, flohen über die Grenze nach Tadschikistan oder schlossen sich direkt den Taliban an. Militärfahrzeuge und Waffen fallen dem Gegner kampflos in die Hände, manchmal zahlt er noch eine Prämie – so einfach kann Krieg sein.
Den zweiten Teil dieses Textes können Sie morgen bei COMPACT-Online lesen.
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