Heute vor 75 Jahren ereignete sich die größte Tragödie in der Geschichte der Seefahrt: Ein sowjetisches U-Boot torpedierte das mit Flüchtlingen überladene Passagierschiff «Gustloff», über 9.000 Menschen starben. Die Opfer sind im heutigen Deutschland vergessen – daran konnte auch das zwischenzeitliche Aufrütteln durch einen linken Literaten nichts ändern. Im Dossier der aktuellen Februar-Ausgabe von COMPACT erinnern wir in einem zehnseitigen Dossier an eine der größten Tragödien auf dem deutschen Leidensweg.
Alle kennen die „Titanic“. Aber wer, vor allem von den Jüngeren, kennt die „Gustloff“? Schon zu meiner Schulzeit, 1970er, war das kein Thema. Dabei starben bei dieser größten Katastrophe der Seeefahrtsgeschichte über 9.000 Menschen – mehr als sieben Mal so viel wie bei der Titanic. Und schuld war kein Eisberg, sondern ein sowjetisches U-Boot. Aber vielleicht war das der Grund der kollektiven Amnesie: Die deutsche Linke – im Osten in Gestalt der regierenden SED, im Westen in Gestalt der schon in den Siebzigern immer stärker werdenden Achtundsechziger – wollten nicht über kommunistische Verbrechen und nicht über deutsche Opfer im Zusammenhang mit sowjetischen Tätern reden.
Im Jahr 2002 erreichte das neudeutsche Feuilleton endlich die Geschichte der „Gustloff“. Am 1. Juni berichtete der „Spiegel“: „Kurz nach 21 Uhr an diesem 30. Januar des Jahres 1945 wird Tulla Pokriefke von einer gewaltigen Erschütterung des Schiffes aus dem Schlaf und vermeintlicher Sicherheit gerissen, einer Detonation, der zwei weitere unmittelbar folgen. Sogleich setzen bei ihr die Wehen ein, können aber von einem Arzt per Spritze zunächst gestoppt werden. So erreicht die junge Schwangere eines der wenigen Rettungsboote, die von der sinkenden „Gustloff“ nach den drei sowjetischen Torpedotreffern ausgesetzt werden können, und sie wird bald darauf von zwei Matrosen glücklich an Bord des deutschen Geleitschiffes „Löwe“ gezogen. Noch in dieser Nacht kommt ihr Sohn zur Welt; die Haare auf ihrem Kopf aber färben sich für immer weiß – angesichts der unzähligen kopfunter in ihren Rettungswesten auf den hohen eiskalten Wellen schaukelnden toten Kinder, die sie beobachtet hat.“
So die Zusammenfassung des Anfangs eines Romans, der in diesem Frühsommer 2002 die Republik aufrüttelte: „Im Krebsgang“. Das Werk konnte nicht übersehen werden, weil es von einem Vorzeigeliteraten der Bundesrepublik (Literaturnobelpreis 1999) und einer linken Ikone stammte: Günter Grass. Der hatte Anfang der 1970er Jahre mit Willy Brandt Wahlkampf gemacht, immer der SPD die Treue gehalten und sogar die Wiedervereinigung abgelehnt. „Deutschland denken heißt Auswies denken“ schrieb er 1990.
Und ausgerechnet dieser Grass schrieb nun auf, was, hätte es ein anderer aufgeschrieben, nie die Titelseiten der deutschen Top-Medien erreicht hätte… Mutig brach er das Tabu, das so lange gegolten hatte: „Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht“, lässt er seinen Ich-Erzähler sagen. Zuzugeben sei, so der Ich-Erzähler selbstkritisch „dass er gegen Mitte der sechziger Jahre die Vergangenheit satt gehabt, ihn die gefräßige, immerfort jetzjetzjetzt sagende Gegenwart gehindert habe, rechtzeitig auf zweihundert Seiten Blatt Papier… Nun sei es zu spät für ihn.“ Diese Gefühle trieben wohl auch Grass selbst um: Als er „Im Krebsgang“ 2002 veröffentlichte, war er schon 75 Jahre alt. Er wollte, bevor es zu spät war, darüber berichten, was immer in ihm gewühlt hatte. „Dieses Thema tickt bei mir schon sehr lange“, sagte er.
Das Schweigen der Literaten