In Frankreich hat eine unabhängige Untersuchungskommission zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche die schockierende Dimension dieser Verbrechen aufgedeckt. In COMPACT-Spezial Geheimakte Kinderschänder: Die Netzwerke des Bösen dokumentieren wir die unfassbarsten Fälle von staatlichem, kirchlichem und kriminell motiviertem Kindesmissbrauch. Hier mehr erfahren.

    Schon seit Jahren steckt die katholische Kirche Frankreichs in einer tiefen Krise. Diese wird teilweise durch Angriffe von außen provoziert – zahlreiche Kirchen sind in letzter Zeit zur Zielscheibe von Vandalismus und Zerstörung geworden. Sie wird aber auch durch einen schweren internen Missbrauchsskandal erschüttert.

    Zwei Faktoren lassen diese Krise besonders dramatisch erscheinen – nämlich die schiere Quantität dieser Verbrechen wie auch die lange Zeitdauer, in der die Fälle von den Kirchenoberen vertuscht und gedeckt wurden.

    Insgesamt mehr als 300.000 Fälle

    Bereits im März 2019 war Frankreich tief erschüttert, als mit Philippe Barbarin, dem Erzbischof des für die katholische Kirche besonders wichtigen Erzbistums Lyon – der zeitweise als potentieller Nachfolger von Papst Benedikt XVI. gehandelt – wurde, einer der prominentesten Geistlichen des Landes zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war.

    Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Barbarin einen Bericht über den Missbrauch von Minderjährigen durch den in seinem Verantwortungsbereich handelnden Priester Bernard Preynat nicht an die Behörden weitergeleitet, sondern den Kinderschänder im Talar bloß stillschweigend in den Ruhestand versetzt hatte.

    Ein Berufungsgericht kassierte dieses Urteil später wieder. Dennoch wühlte der Fall die ganze Nation auf, auch weil er in dem Spielfilm Grâce à Dieu (Gelobt sei Gott) des Regisseurs François Ozon behandelt wurde und ein großes Publikum erreichte. Preynat werden 72 Fälle von sexuellem Missbrauch vorgeworfen, ein rechtskräftiges Urteil steht bislang noch aus.

    Der Dom von Lyon, Sitz des Erzbistums Lyon. Foto: TMP – An Instant of time | Shutterstock.com

    Dieser Fall ist jedoch bloß die Spitze eines riesigen Eisbergs, wie sich nun zeigt. Die unabhängige Missbrauchskommission der katholischen Kirche Frankreichs hat in ihrem nun veröffentlichten Abschlussbericht auf 2.500 Seiten die unglaubliche Zahl von 216.000 Missbrauchsfällen innerhalb der Kirche dokumentiert, die sich seit den 1950er Jahren ereignet haben sollen.

    Die Zahl steige sogar auf 330.000, wenn man den Missbrauch durch kirchliches Laienpersonal, wie beispielsweise Katechismus-Lehrer oder das Personal bei Ferienfreizeiten dazuzähle. 80 Prozent der Opfer sind demnach Jungen im Alter von zehn bis 13 Jahren gewesen, bei einem Drittel der Fälle sei es zu Vergewaltigungen gekommen.

    In dem Missbrauchsbericht wird betont:

    „Die Kirche hat nicht sehen wollen, sie hat nicht hören wollen, sie hat die unterschwelligen Signale nicht wahrhaben wollen.“

    Und weiter stellte der Kommissionsvorsitzende Jean-Marc Sauvé fest:

    „Sexueller Missbrauch wurde als ‚Fleischessünde‘, als Verfehlung gegen das Keuschheitsgebot für Priester betrachtet, nicht aber als Angriff auf die physische und psychische Unversehrtheit der Person.“

    Kirche vor dem Aus?

    Das Beichtgeheimnis und eine „verkorkste Sexualmoral“ hätten zu diesem Debakel beigetragen, so die Kommission weiter. Die katholische Kirche in Frankreich steht nun vor einem Scherbenhaufen: Zum einen wird sie sich mit hohen Entschädigungsforderungen konfrontiert sehen, zum anderen muss sie in Frankreich ihre Finanzierung ohnehin schon ohne eine Kirchensteuer stemmen.

    In Deutschland sind die bislang ermittelten Zahlen zum Missbrauch von Minderjährigen in der katholischen Kirche zwar nicht so hoch wie in Frankreich, doch die nicht erfasste Dunkelziffer dürfte auch hierzulande groß sein.

    Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, einer der Protagonisten des deutschen Missbrauchsskandals. Von Reiner Diart, Erzbistum Köln, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons

    Missbrauch hinter Klostermauern

    In COMPACT-Spezial Geheimakte Kinderschänder: Die Netzwerke des Bösen heißt es über den Missbrauch in der katholischen Kirche:

    „Ende April 2020 wurde bekannt, dass sich nicht nur viele katholische Priester, sondern auch mindestens 654 Mönche und Nonnen in Deutschland an Kindern und Heranwachsenden vergangen haben. Ein entsprechendes Ergebnis lieferte eine Umfrage der Deutschen Ordensoberenkonferenz unter ihren Mitgliedsgemeinschaften. Demnach hatten sich 1.412 Männer und Frauen als Missbrauchsopfer gemeldet. Laut Bericht seien von den beschuldigten Mönchen und Nonnen etwa 80 Prozent bereits verstorben.

    95 mutmaßliche Täterinnen und Täter sollen nach wie vor Mitglied ihrer Ordensgemeinschaften sein, weitere 37 seien inzwischen ausgetreten. Die Vorfälle reichen bis in die 1950er und 1960er Jahre zurück, als noch viele Schulen und Internate von Patern oder Nonnen geführt wurden. Der Missbrauch hinter Klostermauern muss zu den bereits von der Deutschen Bischofskonferenz ermittelten Fällen hinzugezählt werden. Laut einer 2018 veröffentlichten Studie vergingen sich zwischen 1946 und 2014 in den deutschen Bistümern mindestens 1.670 Priester und Diakone an mindestens 3.677 Kindern. Aus der Studie ergibt sich, dass 4,4 Prozent aller katholischen Kleriker in der Bundesrepublik, deren Personalakte untersucht wurde (insgesamt wurden 38.156 Akten gesichtet), mutmaßlich Täter waren.“

    Fest steht, dass innerhalb der katholischen Kirche gigantischer Reformbedarf besteht, um den jahrzehntelang beschwiegenen massenhaften sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Täter aus den eigenen Reihen konsequent zu bekämpfen. Geschieht dies nicht, dann ziehen weitere düstere Wolken über dem Vatikan auf.

    In COMPACT-Spezial Geheimakte Kinderschänder: Die Netzwerke des Bösen durchleuchten wir den pädokriminellen Komplex bis in die letzten Winkel. Wir geben wir den Opfern eine Stimme, zerren die Täter an die Öffentlichkeit und decken die Strukturen der Kinderschänder auf. In dem Heft finden Sie Beiträge zum Missbrauch in der Kirche, im 68er-Milieu, in Hollywood und in höchsten gesellschaftlichen und politischen Kreisen. Hier bestellen.

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