Heutige Mainstream-Geschichtsinterpreten sind einig – wenn sie denn das Präventivkriegskonzept des Jahres 1933 überhaupt erwähnen –, dass dessen Umsetzung die Welt vor den Untaten des NS-Regimes bewahrt hätte. Mag sein. Doch wenn man schon spekuliert, ist die Frage sicher erlaubt, was das polnische Regime – es war diktatorisch, nationalistisch, militant und strikt antisemitisch – mit seiner Herrschaft in Mitteleuropa angestellt hätte. Gut, man weiß es nicht. | Fortsetzung von Teil 1.

    Die eigentliche Überraschung auf den polnischen Nichtangriff im März 1933 verursachte die deutsche Seite. Es waren die ersten außenpolitisch bedeutsamen Schritte des neuen deutschen Reichskanzlers: Er schloss mit Polen einen Nichtangriffspakt. Das war nach dem damaligen Stand der Dinge in der Tat eine Sensation, denn bis dahin waren sich während der gesamten Zeit der Weimarer Republik (1918-33) alle politischen Kräfte einig gewesen, dass es mit Polen solange keinen friedlichen Ausgleich geben werde, wie die Abtrennung von Westpreußen und Oberschlesien (deren Annexion, wie man sagte) nicht revidiert sei.

    Deutsch-polnischer Nichtangriffspakt: Hans-Adolf von Moltke, Józef Piłsudski, Joseph Goebbels und Józef Beck, 1934 | Foto: Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-293 / CC-BY-SA 3.0

    Mit diesem Grundsatz deutscher Außenpolitik brach Hitler radikal. Er entwickelte die Vorstellung, dass Polen ein willkommener Pufferstaat gegen das bolschewistische, nach Weltherrschaft strebende Regime in der Sowjetunion sei. Auch dies war ein Bruch mit den Aktionen der deutschen Diplomatie, die über ein Jahrzehnt lang, die sowjetische Karte als einen Trumpf im Ärmel beim Spiel gegen Polen betrachtet hatte.

    Das war jetzt passé. Zu ihrer Enttäuschung musste die Bevölkerung Danzigs 1933/34 bemerken, dass aus Hitlers Aktionen eines mit Sicherheit nicht resultieren würde, nämlich die baldige Wiedereingliederung dieser deutschen Großstadt ins Reich. Danzig war nämlich 1919 nach dem Siegerwillen aus dem deutschen Staatsverband herausgelöst und unter Mandat des Völkerbunds gestellt worden, um den Polen einen funktionierenden Freihafen an der Ostsee zu verschaffen. Diese blödsinnige Konstruktion sollte schließlich den Zweiten Weltkrieg auslösen.

    Angehörige der NS-Organisation Bund Deutscher Mädel (BdM) im Memelland, 1938. | Foto: Bundesarchiv, Bild 183-E20457 / Isenfels / CC-BY-SA 3.0

    Mit der deutschen Aufrüstung seit 1935 wurde der deutsche Diktator wagehalsiger. Sein außenpolitisches Ziel Nummer eins, die Folgen des Friedensdiktats von Versailles zu beseitigen, rückte in den Griffbereich der praktischen Politik: Erneut Seestreitkräfte nach einem entsprechenden Flottenabkommen mit Großbritannien, Rückholung der Saar nach einer Volksabstimmung, tatsächlicher Anschluss Österreichs, der dortzulande bereits Ende 1918 vom Parlament beschlossen, aber von den alliierten Siegern verboten worden war, Angliederung des Sudetenlandes mit britisch-französisch-italienischem Segen, erfolgreiche Rückforderung des Memellandes von Litauen. Doch dann kam Sand ins Getriebe des vermeintlichen Selbstläufers.

    Das fatale Jahr 1939

    Das Jahr 1939 wurde für das NS-Regime zum außenpolitischen Wendepunkt. Der Stolperstein trug den Namen Polen. Gleich nach der Einverleibung des Sudetenlandes im Herbst 1938 machte Hitler den Polen ein erstes Angebot zur Regelung der Korridorfrage. Hinter dem Stichwort verbarg sich das Problem, dass das Reich durch die Siegermächte in zwei nicht zusammenhängende Teile zerschnitten worden war, um Polen einen Landzugang zur Ostsee zu gewähren. So war Westpreußen polnisch geworden. Es lag als fremdes Territorium zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet. Die Polen taten in den 20 Jahren (1919-39), die dieser Zustand dauerte, alles in ihrer Macht stehende, um den Verkehr zwischen den beiden Reichsteilen zu behindern.

    Deutschland bot nun an, den Korridor mit einer exterritorialen Straße und einer eben solchen Eisenbahntrasse zu queren, die Polen hierfür finanziell zu entschädigen und die Abspaltung von Westpreußen an Polen völkerrechtlich anzuerkennen. Polen zeigte sich spröde. Daraufhin erhöhte Hitler im März 1939 das deutsche Angebot. Es betraf das bis dato auf tschechischem Territorium gelegene Gebiet von Teschen einschließlich der fast ausschließlich von Deutschen bewohnten Stadt Oderberg. Zu diesem Angebot konnte es nur deshalb kommen, weil Anfang März 1939 die Fliehkräfte des tschechoslowakischen Vielvölkerstaats zur Zersprengung des Staatsverbandes geführt hatten. Ermutigt durch das Beispiel der Sudetendeutschen beschlossen auch die Slowaken den Austritt aus der seit 20 Jahren bestehenden Republik und erklärten ihre Selbständigkeit.


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    An dieser Stelle griff das Deutsche Reich ein. Es anerkannte die slowakische Sezession und nötigte die Resttschechei, wie man das Gebiet damals nannte, sich unter deutsches Protektorat zu stellen. Wer dabei genau was tat, ist äußerst umstritten, jedoch hier nicht das Thema. Vielmehr erlaubte Hitler den Polen, die eigens zu diesem Zweck ihre Streitkräfte mobil gemacht hatten, den gewaltsamen Zugriff auf Teschen.

    Hitler sah das Teschen-Geschenk als eine Art Vorauszahlung für das Korridorgeschäft an. Damit sollte er sich gleich zweifach täuschen. 1.) Die Polen nahmen Teschen, gaben aber nichts zurück. 2.) Mit der Besetzung von Prag verließ Hitler das bis dato von den ehemaligen Siegermächten tolerierte Tableau einer Korrektur der Folgen von Versailles. Damit öffnete er zugleich ein Fenster ungeahnter Größe – und zwar für antideutsche Propaganda: Deutschland auf dem Weg zur Weltherrschaft bevölkerte fortan die Schlagzeilen anglo-amerikanischer Kriegspropaganda.

    US-Präsident Roosevelt betritt durch die Tapetentür die europäische Bühne

    Man kann die deutschen und die polnischen Ereignisse des Jahres 1939 nicht richtig verstehen, wenn nicht die Aktionen des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt mit ins Bild einfließen. Mittlerweile gibt es eine überbordende Vielzahl von Mosaiksteinchen, die ein recht genaues Bild entstehen lassen. Zu diesem Bild gehört, dass der US-Präsident im Jahre 1933 zur Macht kam, fast gleichzeitig mit dem späteren Erzfeind Adolf H. Die Laufbahn beider Politiker weist erstaunliche Parallelen auf. Beide wurden durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise an die Spitze ihrer Länder katapultiert. In beiden Ländern herrschte millionenfache Arbeitslosigkeit. Beide versprachen, damit aufzuräumen. Die Konzepte beider waren ähnlich, eine durch Planwirtschaftsvorgaben gelenkte Privatwirtschaft.

    US-Präsident Franklin D. Roosevelt. 1938. | Foto: U.S. National Archives and Records Administration, CC0

    In Deutschland funktionierte dieses Modell erstaunlich gut, nicht so in den USA. Dort stiegen gleich nach der Wiederwahl von Roosevelt im Herbst 1937 die Arbeitslosenzahlen wieder bedrohlich an. Nunmehr schaltete Roosevelt, der übrigens ein sehr aktiver Freimaurer war und während seiner Amtszeit zahlreiche Logen-Delegationen im Weißen Haus empfing, auf ein Patentrezept um, dessen Funktion er als junger aufstrebender Politiker im Ersten Weltkrieg kennengelernt hatte: Beteilige dich an einem fernen Krieg und die US-Wirtschaft boomt. An diese Erkenntnis hielt er sich. Weltschurken gab es genug: Deutschland, Italien, Japan – in dieser Reihe der Abscheubekundungen. Gegen sie würde man Krieg unterstützen. Roosevelt Kriegsambitionen waren in salbungsvollen Floskeln versteckt: Kranke müsse man in Quarantäne stecken.

    Von dem Geschenk, dass Hitler mit der Besetzung von Prag dem US-Präsidenten und seiner Propaganda vom Weltbösewicht überreichte, war schon die Rede. Sie füllte die Schlagzeilen. Doch unbemerkt vom Publikum lief eine ganz andere Geschichte ab. Das war eine US Kriegsanstiftungs-Geheimdiplomatie, die sich auf Roosevelts Lieblingsfeind Deutschland konzentrierte. Die einzelnen Schritte schälten sich nur für die notwendig Einzuweihenden in Großbritannien und Polen heraus. Ihr Zwischenziel auf dem Weg zum Krieg: Es muss jegliche Einigung über den Korridor zwischen Deutschland und Polen unterbunden werden.

    Um aus Briten und Polen deutsche Kriegsgegner zu machen, nutzen die US-Diplomaten unterschiedliche Instrumentarien. Das seit Jahren permanent klamme Großbritannien wurde mit dem Schuldenknüppel erpresst. Bei den ohnehin kriegsfrohen Polen genügten vage Versprechungen, vor allem, dass sie an der Spitze einer breiten antideutschen Koalition fechten würden. Letzteres glaubten Polens Obristen nur zu gerne, zumal die Briten im März 1939 etwas scheinbar unermesslich Wertvolles schenkten: Eine Bestandsgarantie für den polnischen Staat.

    Heute weiß man darüber zwei merkwürdige Dinge: 1. Der britische Premier Chamberlain hätte diese Bestandsgarantie ohne nötigende Aufforderung aus Washington nicht abgegeben. 2.) In einer geheimen Zusatzabrede zwischen Großbritannien und Polen war klargestellt, dass sich die Garantie nur auf einen Krieg mit Deutschland, also nicht auf die Hauptgefahr aus der Sowjetunion bezog.

    Die polnischen Obristen machen Druck

    Die Folgen der britischen Garantie ließen nicht auf sich warten. Fortan verweigerte sich Polens Außenminister Beck jeglichem Gespräch mit dem Deutschen Reich über die Korridor-Frage. Zeitgleich wurde die antideutsche Propaganda hochgefahren, die seit 1934 ein eher bescheidenes Dasein geführt hatte. Darauf folgte die Tat: Sie bestand aus schikanösen Maßnahmen gegen die Angehörigen der deutschen Minderheit, Schulschließungen, Gewerbeverboten, geduldeten körperlichen Übergriffen des Mobs und schließlich einem gezielten provokativen Eingreifen in Danzig.

    Der Leser erinnert sich: Die deutsche Großstadt Danzig war von den alliierten Siegermächten aus dem Reichsverband herausgelöst und völkerrechtlich dem Völkerbund unterstellt worden, an der Spitze ein Völkerbundkommissar. Dem Staat Polen waren weitgehende Rechte in Zoll-, Post und Hafenfragen eingeräumt worden. Nunmehr ging Polen dazu über, die Souveränität Danzigs vollends in Frage zu stellen und die Stadt als polnisch zu bezeichnen. Auf den Protest der Stadtorgane reagierten die Polen mit der Einstellung der Zollabfertigung, so dass eines der Danziger Hauptexport-Produkte, nämlich Margarine, in der Sommerhitze des Jahres 1939 für jedermann bemerkbar zu vergammeln begann. Als das Deutsche Reich eine erste Demarche an Polen absetzte, reagierte die Obristen Clique mit dem Hinweis, dass die Danziger Verhältnisse eine innerpolnische Angelegenheit seien, in die von außen einzugreifen, Krieg mit Polen bedeute.


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    Diese nachgerade selbstmörderischen Handlungen und Äußerungen speisten sich aus zwei Quellen: 1.) Die polnische Führung glaubte, eigentlich wider besseren Spionagewissens, dass die deutsche Wehrmacht nur ein Pappkamerad sei. Sie befeuerte die Kriegslust ihrer Truppen durch den Hinweis, dass die tapfere polnische Kavallerie ihre Pferde drei Tage nach Kriegsbeginn in der Havel würde tränken können. 2.) Den aktuellen Anstoß für die polnischen Aktivitäten hatte eine britische Geheimbotschaft ausgelöst. Diese besagte, das Kabinett in London habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit beschlossen, die britische Bestands-Garantie auf Danzig auszudehnen. Das war eine Lüge, denn der britische Premier hatte genau das nicht getan. Doch diejenigen, die die Lüge fabrizierten und transportierten, waren Kriegsfreunde aus dem Foreign Office und dem Auslandsdienst MI6. Ihnen lag daran, dass die Polen die Provokationen hin zu einem Casus Belli beschleunigten. Flankiert wurde dieses Tun durch das Auftreten des US-Botschafters in Warschau, der die polnische Führung beschwor, keinen Inch zurückzuweichen.

    Die Vorsehung greift ein

    Hitler berief sich bei seinen oft wenig rational erscheinenden Entscheidungen auf die Vorsehung. Das war eine Art übernatürliche Macht, von der er behauptete, dass sie ihn lenke. In diesem Fall gab ihm die Vorsehung ein, Polen mit Krieg zu überziehen.

    Heutige NS-Bekämpfer sind sich einig, dass der Angriffsbefehl gegen Polen ein Kriegsverbrechen gewesen sei, auf das der Diktator seit Jahren hingearbeitet habe. Man kann das vertreten, aber es stimmt mit den Fakten nicht so richtig überein. 1.) Die Kriegsvorbereitungen gegen Polen lassen sich ziemlich genau datieren und zwar anhand der Weisung Fall Weiß. Das war eine Kriegsvorbereitungsweisung für den Fall, dass Polen sich nach dem britisch-polnischen Bündnis feindselig zeigen sollte. Die einschlägige Weisung erging im April 1939. 2.) Es kommt bei der Beurteilung der Ereignisse des Jahres 1939 weniger darauf an, wie wir heutzutage einen derartigen Konflikt lösen würden, sondern man sollte zumindest erwähnen, was damals üblich war. Üblich war, dass eine Nation zu den Waffen griff, wenn ihre Landsleute durch einen anderen Staat misshandelt und die geltenden Regeln des staatlichen Miteinanders vorsätzlich und provokativ verletzt wurden.

    Mit dieser Feststellung wird nichts entschuldigt. Einen Angriff nur unter der Fragestellung zu bewerten, ob es hierfür nach den gelten völkerrechtlichen Vorstellungen eine Rechtfertigung gab, hat nichts damit zu tun, ob dieser Angriff angemessen und unter dem Gesichtspunkt des Wohls des eigenen Volkes klug war. Genau das ist – nun gut, wir kennen das Ergebnis – zu bezweifeln. Hitlers Angriffsbefehl löste einen Krieg ins Blaue aus. Einen Krieg, den Hitler in dem dann tatsächlich eintretenden Umfang nicht wollte. Er glaubte nicht daran, dass Frankreich und schon gar nicht Großbritannien Deutschland den Krieg erklären würden. Über diese Ignoranz sind wir durch zahlreiche Zeugen informiert.

    Hitlers Entschluss basierte auf einer sträflichen Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. So hatte er keine Ahnung von der Zerrüttung des polnisch-französischen Verhältnisses im Sommer 1939. Er hatte keine Ahnung davon, dass man nicht die Briten, sondern die Franzosen im September 1939 zum Jagen tragen musste, und er wusste nichts darüber, welchen amerikanischen Drucks es bedurft hatte, um den britischen Premier Chamberlain zum Kriegskurs gegen das Deutsche Reich zu veranlassen.

    Zählt man diese Faktoren zusammen, kommt für den deutschen Führer ein mindestens so verheerendes Bild heraus, wie das, was Mainstream so gerne von ihm zeichnet. Er, der sich eine Art Unfehlbarkeit zubilligte, beherrschte das nicht, war sein bewunderter Amtsvorgänger Otto von Bismarck aus dem Handgelenk konnte. Hitler beherrschte die Kunst des richtigen Augenblicks nicht. Er ließ sich durch polnische Aktionen zu einem förmlichen Krieg provozieren und tat damit genau das, was seine Feinde von ihm erwarteten, nämlich angreifen. Ein kaltschnäuziges Abwarten unter verbaler Bloßstellung der polnischen Unrechtsakte hätte seine Gegner vor unlösbare Probleme gestellt und die Polen, um das Gesicht nicht zu verlieren, vor die Notwendigkeit des vielfach angedrohten Angriffs gegen das Deutsche Reich – oder die Rückkehr an den Verhandlungstisch. Dazu kam es bekanntlich nicht, weil der angeblich geniale Führer ihnen zuvorkam.

    Lesen Sie demnächst die Teile 3 und 4: Der Zweite Weltkrieg und die Folgen.

    Bisher erschienen: Teil 1: Die Ursprünge des deutsch-polnischen Konflikts.

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