In den Zwanziger Jahren wimmelten die Straßen der deutschen Hauptstadt von Außenseitern, Grenzgängern, Berauschten und politischen Hasardeuren. Einer von ihnen war Ernst Jünger, dessen Geburtstag sich am 29. März zum 125. Mal jährt. Bekannt wurde der Literat vor allem durch seine Weltkriegserinnerungen In Stahlgewittern.

    _ von Jonas Glaser

    Im Jahr 1926 zog Ernst Jünger von Leipzig ins Auge des politischen Orkans: in die Hauptstadt Berlin. Erste Station war der Nollendorfplatz, ein Brennpunkt wilder Exzesse. Laut Erich Kästner hätte selbst ein Dante Gift genommen, um nicht sehen zu müssen, was sich ihm dort bot. Ein Jahr lang hielt es Weltkriegsleutnant an diesem Hotspot aus. Dann zog er in den Ostteil der Metropole, in den Arbeiter- und Ganovenbezirk Friedrichshain. Es hieß, nach Einbruch der Dämmerung sollte man dort verschwinden: zu gefährlich. Genau der richtige Ort für einen Abenteurer, der das Elementare suchte, dem der Ruf eines Terroristen vorauseilte: Angeblich öffnete er seinen Briefkasten mit einem Revolverschuss. Seine Wohnung in einem Gründerzeitbau, Stralauer Allee 36, 1. Stock, wurde Anlaufplatz der National-Bohemiens jener Zeit.

    Der Tierpark der Matriarchin

    Jünger vertrat zu Weimarer Zeiten nationalrevolutionäre Ideen und verachtete das Bürgertum. In der Erstauflage seines Buches «Wäldchen 125» bekannte er freimütig: «Ich hasse die Demokratie wie die Pest.» Foto: literaturport.de

    Eine passende Terroristenbraut fand Jünger in der Schauspielerin Gretha von Jeinsen. Die 20-jährige Provokateurin bediente mit Vergnügen das Gefährlichkeits-Image ihres Mannes: Bemerkte sie beispielsweise, dass die Polizei ihr Telefon abhörte, schwadronierte sie demonstrativ über (fiktive) Bombendepots. Für sie war Berlin eine «Alles-Ernährerin», die selbst den Abgedrehtesten nicht untergehen ließ, sondern gerade aus schrägen Typen «ihren vitalen Rhythmus» zog. Ihre Lieblingslektüre: Leo Tolstoi und Johann J. Bachofens Theorie über das prähistorische Matriarchat.

    Kein Wunder, dass Jüngers Friedrichshainer Wohnung bald wie ein Ort gynäkokratischer Urkultur erschien: Ernst von Salomon beschrieb sie als dunkel, «mit Büchern vollgestopft, mit Masken und seltsamen Figuren geschmückt». In den Regalen standen «Einweckgläser voll merkwürdigen Geschlings irgendwelcher fahlgrüner Substanzen». Alles durchzogen von Kochgerüchen und Kindergeschrei. Kurzum, weniger ein Stätte männlicher Rationalität, sondern Bachofen‘scher Matriarchats-Symbolik: Pflanzen, Wasser und Nebel. Da Gretha stets für Wahl und Gestaltung der Wohnungen zuständig war, ist ein Zufall fast ausgeschlossen.

    Jünger verschlang die Haschisch-Essays von Charles Baudelaire.

    Wenn der revolutionäre Männerzirkel, von der Dame des Hauses liebevoll als «Tierpark» bezeichnet, sich dort versammelte, war mit gepflegter Debattenkultur kaum zu rechnen: In einer kalten Winternacht ging das Feuerholz aus, die Temperatur sank. Man wickelte sich in Decken ein. «Da sah sich Ernst Jünger wie ein Feldherr in der Runde um, sagte, halb fragend, mit fröhlichem Unterton in der singenden Stimme: ”Wir sind doch Feinde der bürgerlichen Ordnung, nicht wahr?”» – und trat eine Holzkommode ein, zerlegte sie, um sie anschließend zu verfeuern. Währenddessen monologisierte der Gastgeber vom Verhältnis der Anarchie zum Chaos, das «in den Zerstörungen der Flamme, in der Fruchtbarkeit der Asche des im Herbste verbrannten Holzes und in den Gedichten und Feuersprüchen der Entflammten zu beobachten» sei. Heftige Diskussionen wechselten mit Piratenliedern aus Stevensons Schatzinsel. Schließlich begann ein Gast zu fantasieren: Er sah sich selbst in der Hölle, während eine Taube dem hoch über ihm stehenden Christus ein Auge aushackte. Alle wandten sich angeekelt ab, nur Ernst Jünger starrte fasziniert auf den Delirierenden…

    Psychonautische Reisen

    Diese Anekdote verweist auf eine weitere Dimension in Jüngers Leben jener Zeit: Waren ihm die Schlachten des Ersten Weltkriegs mystische Entgrenzung, in denen man «trunken ohne Wein» (Feuer und Blut, 1925) ist, suchte er in Friedenszeiten den entgrenzenden Rausch (auch) in Drogen. Die erschöpften sich keineswegs im Champagner, für dessen Konsum er in den 1920ern bekannt war. Schon in der Jugend entwendete der Erfahrungshungrige eine Ladung Haschisch-Paste aus der väterlichen Apotheke: In der Nacht hatte ihn ein Angsttraum, aus dem er panisch emporschoss, gequält. In den kommenden Jahrzehnten folgten Opium, Kokain, LSD, Peyotl und Meskalin – für Jünger der «Königstiger» unter den Drogen.


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    Literarischen Niederschlag fanden seine Rauscherfahrungen vor allem in den Annäherungen  (1970). Darin fordert er eine Kartografie jener Seelenlandschaft, die LSD freisetze: eine Suche nach dem «inneren Sinai». Zur Erforschung dieses Kosmos kreierte Jünger den Begriff der «Psychonautik». Sein freimütiges Bekenntnis, den eigenen Körper als Labor mystischer Drogenforschung zu verwenden, sorgte in den 1970ern beim bürgerlichen Publikum für Skandal, während sein Ex-Weggefährte Karl Otto Paetel ihn mit dem rauschaffinen Jazz-Star Charlie Parker verglich. Jüngers literarisch stärkstes Buch über Traum- und Rauscherfahrung aber hatte er bereits 1929 geschrieben: Das abenteuerliche Herz.

    Freizügig: Die Haller-Revue im Berliner Admiralspalast. Hier wird die Quadriga nachgestellt. Foto: bpkimages

    Zuvor hatte sich der Autor Fachliteratur über Spacetrips injiziert: die Haschisch-Essays von Charles Baudelaire, Thomas de Quinceys Memoiren eines englischen Opiumessers  und Dichtungen von Edgar Allan Poe. Jüngers bildhafte Sprache, beeinflusst vom damals aufkommenden Surrealismus, macht die Lektüre zum Horrortrip. Er führt den Leser in eine Schlachterei, wo Menschen hängen, oder zum Sturz in die Tiefe, bis das Bewusstsein zerschellt. Materie erfährt finstere Beseelung: Beim Theaterbesuch erklingt ein mikrokosmischer Chorus, wo «alles, was wir auf diese Weise umschreiben und einordnen, die Elemente, die Atome, das Leben, das Licht, seine eigene Stimme besitzt. Ja, wenn wir diese Stimme zu hören vermöchten, dann könnten wir auch fliegen ohne Flugzeuge, und die Körper würden unseren Blicken auch ohne Röntgens Strahlen durchsichtig sein».

    Sex und Spießertum

    Über Jüngers mystisch-allegorische Deutung modernen Lebens berichtet auch Ernst von Salomon: Beim nächtlichen Spaziergang durch die Berliner Friedrichstraße begriff der Rausch-Bohemien alle bonbonrot und eisblau glühenden Neonröhren als «Höllenlichter der Zivilisation»… Die Skizzen in Das abenteuerliche Herz  sind assoziativ montiert, beeinflusst vom Avantgardefilm. Das liest sich wie das Drehbuch eines frühen Luis-Buñuel-Streifens. Eine Notiz verknüpft die Libertins des Marquis de Sade mit den Anarchisten der Weimarer Republik – ein verkapptes Porträt des Dichters Erich Mühsam. Denn Jünger besaß als konsequenter Grenzüberschreiter politisch keinerlei Berührungsangst, traf sich mit Anarchos wie Mühsam oder dem Kommunisten Bertolt Brecht zum nächtlichen Kneipengespräch. Nicht Gesinnung, sondern Originalität und Intensität weckten sein Interesse.


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    Ernst Jüngers Faszination für das Elementare vertrug sich nicht mit bürgerlicher Sexualmoral. Vor allem die Flucht in Sublimierung oder Kompensation des Ungelebten empfand er als schädlich. So warf er den ihm als spießig erscheinenden Jugendbewegungen der 1920er Jahre in einem Brief an Ludwig Alwens (28.1.1928) vor:

    Offen gestanden ist mir (…) diese Pubertätsmondscheinschwärmerei und diese in das Gemüt verpflanzte Keimdrüsenkultur zum Kotzen. (…) Alle diese Leute sind ja prächtige Kerle, wenn man ihnen die Stelzen unter den Beinen wegschlägt und ihnen beibringt, dass ein gesunder Fick etwas viel Anständigeres und Natürlicheres ist als diese amerikanische Kameradschaftlichkeit mit nordischem Nackt-Kultur-Ethos vermischt, das die Epidermis zu Leder gerbt.

    Jüngers sieben Jahre in Berlin waren biografisch und literarisch «eine Spanne voll Traum» (Rudolf Kurtz), die von der Politik jäh beendet wurde. Schon nach Veröffentlichung der nationalbolschewistischen Vision Der Arbeiter  (1932) drohte der Völkische Beobachter, Jünger habe sich damit in die «Zone der Kopfschüsse» vorgewagt. So zog er es 1933 vor, diese «Zone» zu verlassen, sich ins stille Goslar zurückzuziehen.

    Dieser Artikel erschien im COMPACT-Magazin 03/202020. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form  hier bestellen.

     

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