Die Ungereimtheiten der Akte Hanau spitzen sich auch im Licht des Mainstreams weiter zu. Offenbar gab es insgesamt drei Waffen im Besitz Rathjens, eine davon des Fabrikats Česká, die in den sogenannten NSU-Morden Verwendung fand. Dazu eine kurzfristige Reise des mutmaßlichen Täters in die USA und FBI-Ermittlungen zu seiner Person. Auch die Unfähigkeit der Polizei, einen umherfahrenden Täter über eine Stunde lang nicht fassen zu können, wurde erstmals thematisiert: Beim gestrigen Innenausschuss stellte diesbezüglich ausgerechnet die Grünen-Bundestagsabgeordnete Filiz Polat die richtigen Fragen.

    Gestern tagte eine Sondersitzung des Innenausschusses, der sich mit der Bluttat in Hanau auseinandersetzte. Neben den Abgeordneten war hochkarätiges Personal anwesend: Bundesinnenminister Horst Seehofer, Generalbundesanwalt Peter Frank und die Chefs der Sicherheitsbehörden waren allesamt zugegen. Sie informierten über den Erkenntnisstand und referierten über den Tathergang des Massenmordes in Hanau.

    Einige Abweichungen der bisher gültigen Schilderung waren bereits auszumachen: So hatte Tobias Rathjen wohl zwei Waffen bei der Tat verwendet, eine Walther Kaliber 22 und eine SIG Sauer. Um 21:58 Uhr soll er das erste Opfer auf offener Straße erschossen haben, auf der Flucht dann eine zweite Person. Danach erst soll er zur Shisha-Bar Midnight gefahren sein, wo er vier Schüsse durch die Tür abgegeben haben soll, wobei eine weitere Person ums Leben gekommen sei. Dann sei Rathjen weitergefahren, habe einen weiteren Menschen und dann im Vorraum eines Kiosk vier, in der benachbarten Shisha-Bar eine weitere Person erschossen. Um 22:10 Uhr sei er dann zur Wohnung seiner Eltern gefahren. Nun aber das Unbegreifliche: Erst geschlagene fünf Stunden später verschaffte sich das SEK Zutritt zu dieser Wohnung. Da waren Rathjen und seine Mutter schon tot…

    Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Filiz Polat, wollte wissen, wie es sein könne, dass der mutmaßliche Täter in der überschaubaren hessischen Stadt „insgesamt eine Stunde Menschen ermordet hat“, ohne dabei von der Polizei aufgehalten worden zu sein. Eine gute Frage, die bisher nicht beantwortet werden konnte. Obendrein wurde der mutmaßliche Massenmörder anscheinend eine Stunde vor der Abgabe des ersten Schusses von der Polizei wegen Falschparkens kontrolliert. Sein BMW hätte in der Nähe des ersten Tatortes gestanden. Rathjen hätte dabei jedoch nicht aggressiv oder anderweitig auffällig gegenüber den Beamten reagiert. Sein Wagen wurde um 23:10 Uhr vor der Wohnung seiner Eltern festgestellt. Seltsamerweise erfolgte der Zugriff des SEK erst knappe vier Stunden später. Um 3:03 Uhr hätten die Beamten dann die Leiche der Mutter im Wohnzimmer und die des mutmaßlichen Täters im Kellerabgang gefunden. Die Polizei hätte aber vorher vergeblich an der Tür geklingelt. Harmloses Klingeln bei Gefahr im Verzug, nach neun Morden…

    Außerdem wurde festgestellt, dass Tobias Rathjen neben den zwei zur Tat verwendeten Waffen auch im Besitz einer Česká war, die er im Auto mitgeführt haben soll. Der Name lässt aufhorchen: Ein Modell Česká CZ 83, Kaliber 7,65 mm, wurde nämlich bei den sogenannten NSU-Morden verwendet. Rathjen soll das Modell CZ Shadow 2 von einem professionellen Verleiher für einen Monat geborgt haben. Auf dieser Waffe soll er tot gelegen haben, als die Polizei in die Wohnung eindrang. Parlamentarier der Grünen und CDU fragten deshalb, ob die Auswahl einer Waffe dieses Fabrikats eine Bewandtnis hat, da bei den NSU-Morden auch die Rede von der Česká-Mordserie geläufig ist.

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    Und selbst zum Massenmörder Anders Breivik und damit zum Tiefen Staat lässt sich womöglich eine Verbindung herstellen: Eine Reise des mutmaßlichen Täters von Hanau in die Vereinigten Staaten am 4. November 2018 wirft Fragen auf. Für gerade mal zehn Tage reiste er in das Land mit der kleinen Ortschaft Grand Encampment im Bundesstaat Wyoming als Ziel. Breivik wiederum zählte sich zu den Mitgliedern der unter anderem dort ansässigen selbsternannten „Tempelritter“. Ob Rathjen in Kontakt zu dieser oder einer anderen örtlichen Miliz stand, wird derweil vom deutschen Bundeskriminalamt und US-Ermittlern des FBI untersucht. Genaue Ermittlungshintergründe der amerikanischen Behörden sind allerdings noch nicht bekannt gegeben worden. Ob wir die „Akte Rathjen“ des FBI je zu sehen bekommen werden?

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