Ein 20-jähriger Deutsch-Iraner soll als Kopf einer sadistischen Online-Gruppe ein Kind in den Tod getrieben haben. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Spuren führen in die Schattenwelten des Internets – und zu satanischen Zirkeln, die wir in COMPACT-Spezial „Satan, Pop und Hollywood“ beleuchten. Hier mehr erfahren.
Es ist ein Fall, der einen fassungslos macht: Der 20-jährige Deutsch-Iraner Shahriar J. aus Hamburg sitzt seit Mittwoch in Untersuchungshaft, weil ihm unter anderem vorgeworfen wird, einen 13-jährigen Jungen aus den USA in einem Live-Chat in den Selbstmord getrieben zu haben. Einen weiteren Versuch in dieser Richtung soll es bei einem 15-jährigen Mädchen aus Kanada gegeben haben.
Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: Unter dem Pseudonym „White Tiger“ soll Shahriar J., der sowohl die deutsche wie auch die iranische Staatsbürgerschaft besitzt, als Hauptakteur einer sadistischen Gruppe namens 764 im Internet aufgetreten sein. „Mehr als 100 Taten werden dem Deutsch-Iraner vorgeworfen. Dabei geht es um 39 Fälle gefährlicher Körperverletzung, 20 Fälle des teils schweren sexuellen Missbrauchs sowie 42 Taten des Besitzes kinderpornografischer Daten und um mehr als 13.000 Dateien“, berichtet die Bild-Zeitung unter Berufung auf Ermittlerkreise.
Doch was steckt hinter diesem Fall, der die Grenzen des Vorstellbaren sprengt und über den Hamburgs Polizeipräsident Falk Schnabel sagt: „Dieses Verfahren zeigt uns Abgründe unfassbarer sexueller Gewalt. Das Maß an Verrohung ist schwer auszuhalten“?
Perverses Treiben in Suizid-Foren
Am Morgen des 17. Juni stürmten Spezialeinsatzkräfte der Hamburger Polizei die Wohnung des arbeitslosen 20-Jährigen im Stadtteil Altona. Der Zugriff erfolgte nach monatelangen Ermittlungen der Sonderkommission (SOKO) „Mantacore“, die im Januar 2025 gegründet worden war. „Es war ein präziser Schlag, basierend auf Informationen des FBI“, erklärte Polizeipräsident Falk Schnabel auf einer Pressekonferenz am Tag nach der Festnahme.

In der Wohnung, die Shahriar J. mit seinen Eltern teilte, beschlagnahmten die Ermittler mehrere Computer, externe Festplatten, zwei illegale Schusswaffen und Notizen mit „okkultem Bezug“, wie ein Polizeisprecher gegenüber dem Spiegel erklärte. Der außergewöhnliche Name der SOKO leitet sich von Mantikor („Menschenfresser“) ab. Dabei handelt es sich um ein mythisches Wesen aus der persischen Mythologie, oft dargestellt als Löwe mit menschlichem Kopf, Skorpionschwanz und Flügeln, Laut Spiegel soll dies ein gezielter Verweis auf die Grausamkeit und das schwer fassbare Wesen des Täters sein, der in Online-Foren wie ein Raubtier agierte.
In sogenannten Suzid-Foren im Internet sollen Shahriar J. und seine Komplizen laut Staatsanwaltschaft „psychisch labile“ Kinder und Jugendliche ausfindig gemacht und manipuliert haben – „mit dem Ziel, diese zu quälen und zu töten“. Zu den bekanntesten dieser Netzplattformen gehören „Sanctioned Suicide“, „Lost All Hope“ und bestimmte Telegram-Kanäle. Der Hauptverdächtige, der nicht vorbestraft ist und von Nachbarn als eher unscheinbar beschrieben wird, bestreitet alle Vorwürfe, doch die Beweislage ist erdrückend.
Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich erklärte laut Focus:
„Wir haben Videos, Chatprotokolle und Zeugenaussagen, die den Täter mit mindestens acht Opfern in Verbindung bringen, darunter ein Todesfall in den USA.“
Die Ermittlungen konzentrieren sich auf über 100 mutmaßliche Taten, die zwischen 2021 und 2025 begangen worden sein sollen. Die ersten Hinweise auf „White Tiger“ und sein pädokriminelles Netzwerk an die Hamburger Cyber-Fahnder kamen offenbar vom US-Geheimdienst FBI.
Der tote Junge
Der schwerwiegendste Vorwurf gegen den Internetkriminellen betrifft den Tod eines 13-jährigen Jungen in den USA im Sommer 2023. Laut FBI-Berichten, die der Hamburger Polizei im Dezember 2024 übermittelt wurden, zwang „White Tiger“ das Opfer, sich vor einer laufenden Webcam zu erhängen. „Der Täter hat das Video aufgezeichnet und als Trophäe in der Gruppe geteilt“, berichtet die New York Times. Der Junge, der unter Depressionen litt, war in einem Suizid-Forum auf Telegram aktiv, wo er Kontakt zur Gruppe 764hatte.
Kriminalpsychologin Lydia Benecke erklärt in einem aktuellen Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
„Der Täter suchte gezielt nach psychisch labilen Kindern, um sie zu manipulieren. Er nutzte Drohungen und Erpressung, um Kontrolle auszuüben.“
Die Hamburger Staatsanwaltschaft bestätigt, dass der Verdächtige das Opfer über Monate hinweg mit Drohungen bombardierte, darunter die Veröffentlichung kompromittierender Bilder, die der Junge zuvor geschickt hatte.

Die Gruppe 764
Die Gruppe 764, benannt nach der Postleitzahl des Wohnortes eines Gründers in Texas, operierte in den dunklen Ecken des Internets und auf der Plattform Telegram. Dort prahlte „White Tiger“ damit, „mehrere Terabyte Kinderpornografie“ zu besitzen und beschrieb sich selbst als „Pädophiler und Erpresser“. Er suchte gezielt nach Jugendlichen, die er dazu brachte, ihm Nacktbilder zu schicken – Material, das er als Druckmittel nutzte, um seine Opfer weiter zu quälen.
Das kriminelle Netzwerk wurde 2021 von einem damals 15-jährigen Amerikaner ins Leben gerufen. Ziel war es, maximale Grausamkeit zu verbreiten. „Die Mitglieder zwangen Kinder zu Selbstverletzungen, Tierquälerei und in mindestens einem Fall zum Selbstmord – alles gefilmt“, so Generalstaatsanwalt Fröhlich bei NTV. „Die ‚764‘ ist ein loses Netzwerk von Sadisten, die sich über gemeinsame Interessen an Gewalt und Kontrolle verbinden“, erklärte IT-Sicherheitsexperte Markus Fischer gegenüber dem Spiegel. Laut Ermittlungen umfasst die Gruppe weltweit mehrere Dutzend Mitglieder, von denen einige bereits in den USA und Griechenland verhaftet wurden.
Das Logo der Gruppe weist klare Bezüge zum Okkultismus auf: Neben einem auf der Spitze stehenden Pentagramm ist auch das sogenannte Leviathan-Kreuz zu sehen. Das auch Satanskreuz genannte Symbol besteht aus der Kombination von einem Doppelkreuz und dem Unendlichkeitszeichen. In der Alchemie ist es das Zeichen für Sulfur, also Schwefel. Das Symbol wurde geschaffen, um das christliche Kreuz zu verspotten und die Selbstvergöttlichung des Menschen, ein beliebtes Motiv satanischer Ideologien, zu illustrieren. Es befindet sich unter anderem über den neun satanischen Grundsätzen in der „Satanischen Bibel“ von Anton Szandor LaVey, dem Gründer der Church of Satan (mehr dazu in COMPACT-Spezial „Satan, Pop und Hollywood“).
Verbindungen zu Nazi-Satanisten?
Ein anderer Aspekt des Falls sind mögliche Verbindungen zu satanistischen oder okkulten Kreisen. Die Symbolik der Gruppe – etwa Pentagramme, das sogenannte Siegel Luzifers und Begriffe wie „Blutopfer“ in Telegram-Chats – und in der Wohnung aufgefundene okkulte Schriften deuten auf Bezüge zu dunklen Subkulturen hin.
In Online-Foren und der Black-Metal-Szene, zu der die Gruppe 764 laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Verbindung gestanden haben soll, sind Tiernamen und okkulte Symbole beliebt. „White Tiger“ könnte von der Ästhetik dieser Subkulturen inspiriert sein, wo Namen wie „Wolf“ oder „Serpent“ (Schlange) häufig vorkommen. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Hamburger Verdächtigen wurden Playlists mit Black-Metal-Bands wie Mayhem oder Burzum gefunden, die solche Symbolik nutzen.

Die Hamburger Polizei prüft nun, ob diese Symbolik Teil nur zu Provokationszwecken genutzt wurde oder auf eine gefestigte satanistische Ideologie hindeutet. „Wir haben Material gefunden, das auf eine Faszination für Gewalt und Okkultismus hindeutet, aber es gibt keine Beweise für eine Verbindung zu organisierten satanistischen Gruppen“, so ein Ermittler gegenüber Bild.
Die Ermittlungen in den USA hingegen deuten Medienberichten zufolge auf mögliche Verbindungen der 764-Gruppe zu anderen Netzwerken hin. Das FBI untersucht Parallelen zum sogenannten Order of Nine Angles (O9A), einer okkulten Loge, die Gewalt und Chaos propagiert.
Gegründet wurde die hochkonspirative Organisation, die auch Verbindungen zu Neonazi-Strukturen aufweist, in den 1960er Jahren vermutlich von dem Briten David Myatt, der später eine wichtige Rolle in der von Agenten des Geheimdienstes durchzogenen rechtsextremen Terrorgruppe Combat 18 spielte und sich danach dem Islamismus zuwandte. Der britische Guardian bezeichnet das 764-Netzwerk sogar als eine „Splittergruppe“ des O9A. Konkrete Beweise fehlen jedoch.
Globales Netzwerk
Die Festnahme von Shahriar J. war nur der Anfang. Die SOKO „Mantacore“ arbeitet eng mit dem FBI, Interpol und Behörden in Griechenland zusammen, um weitere Mitglieder der Gruppe 764 zu identifizieren. „Das Netzwerk ist global, und die Ermittlungen werden Monate, wenn nicht Jahre dauern“, so Generalstaatsanwalt Fröhlich.
Jugendschützer werten den Fall als alarmierenden Hinweis auf die Gefahren des Internets. „Eltern müssen wissen, wo ihre Kinder online unterwegs sind“, warnt Kinderpsychologin Sabine Müller. Auch die Hamburger Polizei ruft zur Wachsamkeit auf: „Wenn Sie Hinweise auf verdächtige Aktivitäten in Online-Foren haben, melden Sie diese sofort!“ Die Frage ist nun, wie weit sich die Kreise, die in die kriminellen Aktivitäten der Internet-Sadisten verwickelt sind, wirklich ziehen – und ob womöglich auch prominente Zeitgenossen nun nervös werden.
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