Argentinien hat am gestrigen Tag Dokumente über Nationalsozialisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in das Land flohen, digital veröffentlicht. Das war zuvor entsprechend angekündigt worden. In unserer aktuellen Mai-Ausgabe haben wir dieser Thematik ein ganzes Dossier gewidmet. Sehr spannend! Hier mehr erfahren.
Die jetzt zugänglichen Dokumente bieten Einblicke in die Aktivitäten von Personen wie Adolf Eichmann und Josef Mengele, die sich der Strafverfolgung in Europa einst entzogen. Es sind entsprechende 1.850 Akten, die jetzt auf digitalem Wege einsehbar sind.
Lebensumstände und Netzwerke
Die neu veröffentlichten Unterlagen umfassen Einreisedokumente, Aufenthaltsgenehmigungen, Berichte über polizeiliche Ermittlungen und Korrespondenzen, die Licht in die Lebensumstände und Netzwerke der NS-Täter in Argentinien werfen. Sie zeigen, wie diese Personen oft integriert wurden, teilweise mit Unterstützung lokaler Behörden oder einflussreicher Persönlichkeiten.
Die Dokumente waren seit 1992 ausschließlich in Papierform im argentinischen Bundesarchiv einsehbar, was den Zugang für Forscher und die Öffentlichkeit erschwerte. Laut der stellvertretenden Kabinettsleitung des Innenministeriums wurden „umfangreiche Restaurierungs- und Digitalisierungsarbeiten“ durchgeführt, um die Akten zu erhalten und online zugänglich zu machen.
Unwägbarkeiten und Lücken
Die Akten ermöglichen es Historikern, die Fluchtwege, Netzwerke und das Leben dieser Personen in Argentinien genauer zu untersuchen. Sie tragen zur Klärung offener Fragen bei, etwa zur Rolle argentinischer Behörden oder internationaler Organisationen.
Nicht alle Dokumente sind möglicherweise vollständig erhalten, und einige könnten aufgrund ihres Alters oder ihrer Sensibilität schwer zugänglich sein, so die Behörden in einer Stellungnahme. Zudem könnten die Akten Lücken aufweisen, da viele NS-Täter unter falschen Identitäten agierten.
Zum Hintergrund: Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ein verdecktes Netzwerk aufgebaut, um Nazis nach der sich abzeichnenden Niederlage des Deutschen Reiches außer Landes schmuggeln zu können. Dafür hat sich der Begriff der Rattenlinien eingebürgert. Schlüsselfigur war ein katholischer Geistlicher: der kroatische Pater Krunoslav Draganovic. Er organisierte – mit Rückendeckung des Vatikans – das geheime Netz, das mit Unterstützung des österreichischen Bischofs Alois Hudal unter anderem Plätze auf Auswandererschiffen, vornehmlich nach Südamerika, besorgen konnte. Bis 1962 arbeitete Draganovic auch mit dem amerikanischen Geheimdienst CIC zusammen.
Die katholische Kirche mit ihrer päpstlichen Hilfskommission sah sich in der Pflicht, den Millionen von Flüchtlingen zu helfen, die nach dem Krieg durch das verwüstete Europa zogen. Diese Flucht beruhte nicht zuletzt auf der Angst vor den Sowjets, die ihre Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa durchsetzten.
Da der Vatikan eine klare antikommunistische Position vertrat, hatte man wenig Skrupel, auch einige Kriegsverbrecher der Achsenmächte in Sicherheit zu bringen. Geografisch bot sich Südtirol als Anlaufpunkt an: Da Italien 1943 die Seiten gewechselt hatte, gab es dort keine alliierten Truppen, und Deutsche konnten sich weitgehend unbehelligt treffen. Danach ging es meist weiter nach Genua, dessen Hafen weniger stark kontrolliert war als etwa der von Hamburg.
Eichmann, Skorzeny, Rudel
Das Internationale Rote Kreuz stellte Papiere aus. Zielland war zumeist Argentinien mit seinem Staatschef Juan Peron, der den Deutschen positiv gegenüberstand und auch internationale Faschisten beherbergte. Spanien mit seinem Diktator Franco war ein beliebter Zwischenstopp, bot sich aber auch als Exil an.
Bekannte Nutzer der Rattenlinien waren, neben Adolf Eichmann, SS-Mann Otto Skorzeny oder der Stuka-Oberst Hans-Ulrich Rudel. Bemerkenswert ist, dass Draganovic das Netzwerk für massenweise Flucht aus Europa bereits seit 1943 vorbereitet hatte.
Vorbereitungen liefen auch an anderer Stelle. Das waren nicht die Rattenlinien im engeren Sinne, sondern eine von der NSDAP-Parteiführung in Gestalt von Martin Bormann vor Kriegsende eingeleitete Absetzbewegung. Spezialisten, Facharbeiter und vor allem Gold und Devisen sollten, entgegen der offi¬ziellen Regelung, außer Landes geschafft und vorzugsweise in Scheinfirmen im neutralen Ausland untergebracht werden.
Dies ließ Bormann führenden Industriellen am 10. August 1944 im Hotel Maison Rouge in Straßburg bei einer geheimen Konferenz verkünden. Unter Vorsitz des SS-Gruppenführers Hans-Wilhelm Scheidt erfuhren Vertreter von Messerschmitt, Krupp, Büssing und anderen Firmen, dass Berlin nicht mehr an den Endsieg glaube und nur noch weiterkämpfe, um die angesprochenen Absetzbewegung möglich zu machen. Aus Gründen der Geheimhaltung solle jedes Unternehmen Auslandsfilialen eröffnen oder mit dortigen Firmen zusammenarbeiten. Zugleich ließ Bormann finanzielle Unterstützung anbieten, wenn dafür Informationen flossen.
Regentröpfchen und Adlerflug
Der Zusammenhalt der Exilanten wurde durch Mitglieder der Auslandsorganisation der NSDAP hergestellt. Die Vorhaben liefen unter den Codenamen Aktion Regentröpfchen und Aktion Adlerflug. In Spanien wurde die Firma Sofindus gegründet, die dazu diente, die beträchtlichen Gelder zusammenzuführen.
Die entkommenen Nazis nahmen nach Ende der Kampfhandlungen eine neue Rolle an. Sie verwandelten sich von manifesten Nationalsozialisten mit Uniformen und Paraden in latente Nationalsozialisten mit Anzügen und Geschäftsbeziehungen. Ein wichtiger Faktor hierbei: Sie verzichteten auf Antisemitismus. Der mochte als Ideologie vorhanden gewesen sein, spielte an den neuen Wirkungsstätten allerdings keine Rolle mehr.
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