Der Regisseur Pier Paolo Pasolini saß zwischen allen Stühlen: Als bekennender Kommunist, Katholik und Homosexueller konnte er in keinem politischen Lager heimisch werden. Das machte ihn so produktiv – und brachte ihn in tödliche Gefahr. Der Artikel wurde erstmals in COMPACT 4/2014 veröffentlicht.

    2. November 1975, frühmorgens in Roms Vorort Ostia: Auf dem Sportplatz lag die entstellte Leiche eines 53-jährigen Mannes. Übersät von Platzwunden und blauen Flecken, die Nase zerschlagen, der Oberkiefer zertrümmert, das linke Ohr abgerissen, zehn Rippen gebrochen, Herz und Leber zerplatzt. Der Tote war kein Unbekannter, sondern ein weltberühmter Filmregisseur, Dichter, Schriftsteller, Journalist und Maler – es war Pier Paolo Pasolini.

    Unweit vom Tatort fand man den Strichjungen Giuseppe «Pino» Pelosi. Unter Schock saß er am Steuer eines Alfa Romeo, dem Auto des Opfers. Pasolini habe ihn am Bahnhof kontaktiert, ihm Geld geboten, ihn zu diesem Ort gefahren und dort mit einem Holzpfahl penetrieren wollen. Er, Pelosi, habe sich gewehrt und den Angreifer in panischer Flucht überfahren. – Schon damals verwarfen Gerichtsmediziner diese Aussage.

    Man rekonstruierte: Eine Gruppe von Tätern müsse Pasolini zusammengeschlagen und mehrfach überfahren haben: eher Kollektivmord als panische Notwehr. Auch Pasolinis Freunde, Mitarbeiter und kritische Intellektuelle schenkten Pelosi keinen Glauben. Trotzdem: Das Gericht verurteilte ihn (unter Hinweis auf unbekannte Mittäter) zu neun Jahren und sieben Monaten Haft.

    Besessen von Todessehnsucht

    Dass Pelosis Version sich offiziell durchsetzte und in Pasolini-Biographien Eingang fand, hat vor allem
    zwei Gründe: Erstens hielt er an ihr fest, auch nach seiner Entlassung. Zweitens hatte Pasolini den eigenen Straßentod literarisch antizipiert. In dem Gedicht Der Tag meines Todes schrieb er: «In einer Stadt, Triest oder Udine / werd‘ ich in einer Straße unter Linden, / wenn im Frühling die Blätter grünen, / tot niederfallen / unter der sengenden Sonne.» Und war sein filmischer Schwanengesang,  Salò oder die 120 Tage von Sodom (1975), nicht derart finster und hoffnungslos, dass nur ein tödlich Resignierter, ein Lebensmüder ihn drehen
    konnte?

    War Pasolini nicht besessen von Todessehnsucht, vom düsteren Drang nach Selbstzerstörung, der ihn gefährliche Situationen suchen ließ – und an jenem Novemberabend 1975 mit Erfolg? War dieser «gesuchte Tod» nicht die ultima ratio jenes autodestruktiven Impulses, der den Non-stop-Provokateur regelmäßig in zerreibende Konfrontationen trieb? Schließlich saß er als bekennender Marxist, Katholik und Homosexueller zwischen allen ideologischen Stühlen: Von Rechten wie Linken attackiert, gehörten Beschimpfungen und Morddrohungen zum Alltag, musste er etwa 40 Prozesse über sich ergehen lassen.

    Pasolinis Evangelium

    Begonnen hatte Pasolinis unermüdliche Opposition bereits in früher Jugend. Dem 1922 in Bologna Geborenen trat der Faschismus in Gestalt des eigenen Vaters, eines Offiziers und Mussolini-Anhängers, entgegen. Der Sohn stellte sich auf die Seite der unterdrückten Mutter. Als Teenager schrieb er Gedichte in ihrer Sprache, im friaulischen Dialekt. Deren Publikation war in den frühen 1940ern bereits ein oppositioneller Akt, hatte das Mussolini-Regime doch die Verwendung lokaler Dialekte als Affront gegen seine Einheits- und Großreichsphantasmen untersagt.

    Nach dem Krieg zog der junge Pasolini mit der Mutter nach Rom. Sein Debut als Regisseur, Accatone (1960), schildert das Leben eines vorstädtischen Zuhälters. Die kargen Schwarzweißbilder werden mit Passagen aus Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion untermalt, das Leiden des Zuhälters mit der Tortur Christi gleichgesetzt. Diese urchristliche Erhöhung der Verachteten sollte Pasolinis gesamtes Werk durchziehen.

    Das 1. Evangelium – Matthäus (1964) assoziiert Christus mit einem kommunistischen Kämpfer, ohne seine mythische Ebene (die Wundertaten) zu relativieren. Außerdem war der Film dem Reformpapst Johannes XXIII. gewidmet. Solche Verknüpfungen galten den Marxisten als inakzeptabel, führten zu Pasolinis Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Italiens. Dessen Verständnis von Kommunismus beinhaltete ohnehin wenig an rationalem Klassenkampf.

    Pasolinis Christus spricht den Zuschauer direkt an (Foto: Screenshot youtube)

    Umso mehr den Rückgriff auf das bescheidene, traditionelle Leben der Vorstädte Italiens, Afrikas und des Orients mit ihrer vorindustriellen Produktion, Religion und Folklore. Die Aneignung archaischer Mythen und Bilder stand für Pasolini nicht im Widerspruch zum modernen Denken, sondern war dessen Voraussetzung: «Ich bin eine Kraft der Vergangenheit. / Der Tradition allein gehört meine Liebe./ Ich handle moderner als alle Modernen, / indem ich die Brüder suche, die nicht mehr sind.»

    Der 1968er Bewegung gegenüber ablehnend, zeigte Pasolini in seiner Trilogie des Lebens (bestehend aus Decamerone, 1970, Pasolinis tolldreiste Geschichten, 1972, und Erotische Geschichten aus 1001 Nacht, 1973) eine traditionelle Welt der Volkskulturen mit ihrer Sinnes- und Lebenslust. Dann die bittere Enttäuschung: Bei den Dreharbeiten zu Erotische Geschichten aus 1001 Nacht wurde er Zeuge, wie man die historische Altstadt von Sanaa (Jemen) planierte – um Platz zu schaffen für kommerzielle Stadtentwicklung.

    Pasolini verzweifelte. Er begriff, dass der Konsumismus nicht mehr zu stoppen ist, dass er als globales Phänomen selbst in entlegenste Ortschaften eindringen und alle kulturelle Differenz einebnen würde. Resigniert drehte er Salò oder die 120 Tage von Sodom: Vier Amtsträger des Mussolini-Regimes lassen zwölf Vorstadtjugendliche verschleppen.

    In einer Villa unterwerfen sie die Gefangenen ihren brutalen Lüsten, bis zur finalen Tötung. Die Botschaft war eindeutig: Der Faschismus ist nicht tot, sondern lebt unter der Maske des Konsumismus fort. Der Einzelne fungiert darin als beliebig ausbeutbares Objekt der Mächtigen. Salò wurde Pasolinis größter Skandal. In zahlreichen Ländern beschlagnahmt und verboten, wagt bis heute – 39 Jahre später – kein TV-Sender die Ausstrahlung. Bei der Premiere war sein Regisseur bereits tot.

    Ein politischer Mord?

    Trotz des Furors um Salò mutierte Pasolini post mortem zu Everybodys Darling. Wer ihn zu Lebzeiten bespuckt hatte, versuchte jetzt, den Toten zu vereinnahmen. Man feierte einen neuen Heiligen. Lediglich die ungeklärten Umstände seines Todes lassen bis heute keine Ruhe. Neuere Spurensuche führt zu einer weniger bekannten Seite in Pasolinis Werk: seinem Journalismus. Als Dokumentarfilmer, Kolumnist und Essayist für Zeitschriften wie den Corriere della sera recherchierte und interpretierte er das Zeitgeschehen.

    Anfang der Siebziger begann die Arbeit an Petrolio, einem literarischen Monster, einer auf 2.000 Seiten angelegten Mischform aus Roman, Essay, politischer Reportage und antikem Mythos. Hauptcharakter ist Carlos, homosexueller Sohn eines Großindustriellen. Thematisiert werden Verwicklungen von Politik, Finanzwelt, Verbrechen und Geheimdienst. Ein Kapitel mit der Überschrift «Argonauten» basiert auf einem historischen Vorfall: dem Tod von Enrico Mattei, Manager des Ölkonzerns ENI, der das US-Erdölmonopol brechen wollte.

    Der Absturz seines Flugzeugs im Jahre 1962 wurde zunächst als Unfall, später als Mafiamord deklariert. Der Journalist Mauro De Mauro ging dem Fall nach und verschwand spurlos. Das Argonauten-Kapitel wurde noch zu Pasolinis Lebzeiten von Unbekannten gestohlen. Erhalten blieb eine Notiz. Darin geht Carlos einen politischen Teufelspakt ein, wird «gerade als Linker für eine Unternehmung der Rechten, der äußersten Rechten ausersehen (es handelt sich um eine Gegenleistung, um anschließend das zu bekommen, was er haben will):

    Die Komplizenschaft bei einem Verbrechen (die Ermordung Matteis am Ende der fünfziger Jahre datiert?), das ihn mit der CIA und der Mafia in Kontakt bringt.» Diese Verbindung von CIA, Mafia und Politik enttarnte Pasolini auch in einem Zeitungsartikel vom 28. September 1975: Darin verlangte er den Prozess gegen Politiker der Christdemokratischen Partei Italiens, darunter Giulio Andreotti. Anklage: Verwicklung in Verbrechen, Kooperation mit der Mafia, Decken neofaschistischer Anschläge in Mailand, Brescia und Bologna, sowie Zusammenarbeit mit Militär und CIA, um die aufsteigenden Linken zu stoppen. Einen Monat nach der Publikation wurde ihr Autor Pasolini ermordet.

    Der Widerruf

    2005 widerrief Pelosi, lange nach Verbüßung der Haftstrafe, sein Geständnis: Unbekannte hätten Pasolini ermordet. Er, Pelosi, habe nur als Lockvogel gedient: «Ich habe ihn nicht umgebracht, sie waren zu dritt, ich habe ihn verteidigt.» Laut Pelosi beschimpften die Täter ihr Opfer mit sizilianischem Akzent als «dreckigen Kommunisten» und als «Schwuchtel», was auf ein politisches Hassverbrechen schließen lässt. Sergio Citti, langjähriger Mitarbeiter Pasolinis, fand im gleichen Jahr ebenfalls neue Beweise: «Seit 30 Jahren sage ich es. Es war kein Streit mit einem Stricher. Pasolini ist hingerichtet worden.

    Pino, der Frosch, hat Pasolini nicht umgebracht, sondern ein falsches Geständnis abgelegt, weil ihm mit der Ermordung seiner Familie gedroht wurde.» Pasolini sei ihm auch nicht als Freier gefolgt, sondern Pelosi habe ihn zu einem Ort geführt, wo er die gestohlene Arbeitskopie seines Filmes Salò zurückerhalten sollte. Für Citti gab es keinen Zweifel, dass der Geheimdienst über den Mordplan informiert war:

    «Nicht Pelosi hat Pasolini ermordet, sondern die Staatsmacht.» Ein neues Verfahren wurde angesetzt. Zufällig erlag Citti am ersten Prozesstag einem Schlaganfall, der ihn zuvor bereits gelähmt hatte. Daraufhin wurde das Verfahren eingestellt.

    Der Artikel wurde erstmals in COMPACT 4/2014 veröffentlicht.

    4 Kommentare

    1. Ist das der moralische Ausverkauf? Auf der einen Seite Leute (z.B. Jeffrey Epstein) wegen ihrer sexuellen Perversitaeten verurteilen, auf der anderen Seite fuer einen schwulen Perversling eine anerkennende Biographie schreiben? Sind Strichjungen gesellschaftlich hoeher gestellt als minderjaehrige Maedchen? "Guter Mann" schreibt Wolfgang Eggert. Ich koennte kotzen. Gut dass dieser Perversling weg ist. Unter welchen Umstaenden auch immer. Schaemt euch!

      • wenn sie weiterkotzen möchten: friedrich der große, willi zwo, humboldt…. will sagen: selbst in der liste ihrer säuberlichen säulenheiligen dürfte es etliche helden geben, die in der horizontalen ihren mann gestanden haben (die aber nicht offen dazu standen)

    2. Guter Mann. Da blitzte immer wieder der Querfrontler durch, ein Dritter, Vierter oder Fünfter Weg, der dann aber immer authentisch Pasolini, immer abseits der ausgetretenen ideologischen Pfade, immer verfemten Idealen näher als Marx – was selbst die etwas beweglicheren Italo-Kommunisten nicht ausgehalten haben – weshalb sie ihn aus der Partei warfen. Seine Freibeuterschriften gehören zum Besten der politischen Analyse überhaupt – gibt´s antiquarisch (siehe Plattform ZVAB) ab 7,80 inkl. Lieferung.

      • Sollte sich Compact nicht langsam mal breitensichtbar des Themas "Kunst" annehmen? Dieser der Eroberung harrende Raum liegt noch vor "uns". Neuland für sogenannte Rechte, ich weiss. Aber man kann sich ja vorsichtig rantasten. Von der Foto-Ausstellung zum Filmfestival.