Tobias Rathjen, der angebliche Killer von Hanau, mordete und wohnte im Stadtteil Kesselstadt. Doch dort ist noch mehr Wahnsinn zu Hause.

    Im August 1988 stirbt in Hanau ein vierjähriges Kind unter mysteriösen Umständen. Eingeschnürt in einen Jutesack erstickt es qualvoll – und das im Haus einer Sektenführerin, die für ihre Anhänger auf einer Stufe mit Jesus steht. Gibt es Verbindungen zwischen diesem Fall und dem Amoklauf von Hanau am 19. Februar? Jetzt sind Hinweise aufgetaucht, die diesen Verdacht gar nicht so absurd erscheinen lassen wie er bei flüchtiger Beurteilung klingen mag. 

    Nach mehr als 30 Jahren eröffnet das Landgericht Hanau im Oktober 2019 den Mordprozess gegen Sylvia D., in deren Badezimmer der vierjährige Jan H. 1988 einen qualvollen Tod starb. Aussagen mehrerer Aussteiger zufolge soll die heute 72-Jährige das Kind als Schwein, als vom Bösen besessen und als Reinkarnation Hitlers betrachtet haben.  Sylvia D. war zentrale Figur einer über 30 Hanauer umfassenden Glaubensgemeinschaft, die nach den Regeln einer kruden esoterischen Lehre lebte. Glaubt man dieser Lehre, so ist der Mensch einem ewigen Widerstreit zweier gegensätzlicher Kräfte ausgesetzt: Auf der einen Seite beeinflussen ihn „die Dunklen“, also alle zerstörerischen und bösen Mächte. Auf der anderen Seite kann er durch „das Alterchen“, den großen Gott, Erlösung finden, dessen rettende Botschaften sich in den Träumen von Sylvia D. offenbaren. Die an sie gesandten göttlichen Botschaften hat die Sektenchefin von 1982-84 in vier Büchern publiziert. Darin heißt es: „Gott selbst hat sich mit seiner Vollmacht und Offenbarung in gleicher Weise hinter Sylvia D. gestellt wie damals hinter Jesus von Nazareth.“

    Das Hollywood der Hanau-Sekte

    „Hexe von Hanau“, so hat die Bild-Zeitung Sylvia D. in einem Artikel genannt . Mit grausamer Härte herrschte sie über die Gemeinschaft ihrer Anhänger. Aussteiger erzählen, sie hätten unter anderem verschimmeltes Brot essen oder bis zur völligen Erschöpfung in der Hanauer Medienfirma AEON arbeiten müssen. Besagte Firma wurde vom Ehepaar D. gegründet und diente der Sekte gleichermaßen als Einnahmequelle wie als bürgerliche Fassade. Angestellt wurden dort ausschließlich Sektenmitglieder. Durch deren private Erbschaften und Vermögen wurde die Firma zu einem beträchtlichen Teil finanziert. Und das Geschäft brummte: zu den Kunden gehörten etablierte Größen wie zum Beispiel der Hessische Rundfunk, BMW oder die Stadt Hanau. Auf op-online.de wurde  die AEON-Produktionshalle mit ihren schönen Filmkulissen und der riesigen Scheinwerferanlage noch im Jahr 2012 als „Studio der Superlative“ gepriesen.

    Aus Akten, die die Hessenschau für eine Dokumentation ausgewertet hat, geht hervor, dass Mitarbeiter der Firma bereits 1985 Privathäuser rund um die Produktionshalle und das Wohnhaus von Sylvia D. im Hanauer Stadtteil Kesselstadt erworben und einige Zeit später auf ihre Anführerin übertragen haben. Im Laufe der Jahre gelang es der selbsternannten Jesus-Nachfolgerin ein Spinnennetz aus materiellen und spirituellen Abhängigkeiten zu spinnen, in das sich ihre Gefolgsleute immer tiefer verstrickten und das sich immer engmaschiger über Hanau legte. Die Anhängerschaft wuchs, besonders Menschen mit akademischem Abschluss waren bei der Sekte gern gesehen, um nach außen hin seriös zu wirken und gegen Kritiker juristisch vorgehen zu können. So gehörte auch Dr. Claudia H. zum Kreis der Gläubigen, sie arbeitet noch heute als Geschäftsführerin  für die AEON-GmbH. Zusammen mit dem Co-Geschäftsführer Reinhold Gleisner unterzeichnete sie im Januar 2020 ein Schreiben, in dem die Berichterstattung über Sylvia D.s Machenschaften als „Rufmordkampagne“ gegen die Firma geschmäht wird.  

    Ein Sohn der Kesselstadt

    In der Hanauer Kesselstadt ist auch der mutmaßliche Amokschütze von Hanau, Tobias Rathjen, aufgewachsen. Sein Vater Hans-Gerd, ein Betriebswirt, bewarb sich 2011 als Kandidat der Grünen für den dortigen Ortsbeirat. In der Nachbarschaft soll Rathjen Senior gefürchtet gewesen sein, schreibt der Hanauer Anzeiger. Er habe Nachbarn drangsaliert und selbst den Oberbürgermeister bedroht. Interessant ist, dass nur wenige Straßenzüge vom heute verwaisten Haus der Rathjens entfernt, in der Keplerstraße, das Wohnhaus von Sektenchefin Sylvia D. steht. Nicht einmal hundert Meter weit entfernt wohnt der AEON-Geschäftsführer Gleisner. Und circa einen Kilometer weiter das frühere Sekten-Mitglied Erdmann. Oliver Janich spekuliert in einem Video über Verbindungen des Killers mit der Hexensekte. Doch die Beweislage gibt das nicht her. Fest steht nur: Kesselstadt ist eine Brutstätte für Verrücktheiten aller Art.

    GEHEIMAUFTRAG: MORD: Terroristen und Geheimdienste 1970 bis 2020.  Die ungeklärten Morde von RAF und NSU, dazu die Todesfälle Barschel, Möllemann, Haider ziehen eine Blutspur durch die bundesdeutsche Geschichte der letzten 50 Jahren. COMPACT hat seine Untersuchungen zu diesen Verbrechen in einem preiswerten Paket zusammengeschnürt: drei Spezialausgaben, 252 Seiten, nur 19,95 Euro (statt 27,50 Euro).
    Als Memento sei ein Diktum von Altbundeskanzler Helmut Schmidt vorangestellt: „Am Ende ist es gleichgültig, mit welcher Art von Terroristen wir es zu tun haben. Ob RAF, Araber, Nazis: Sie nehmen sich wenig in ihrer Menschenverachtung. Übertroffen werden sie nur von bestimmten Formen des Staatsterrorismus.“
    Dies muss man auch im Hinterkopf haben, wenn man die Blutspur untersucht, die die letzten 50 Jahre deutscher Geschichte durchzieht. In diesen drei COMPACT-Spezialausgaben– „Operation NSU“, „Politische Morde“, „Tiefer Staat“ – finden Sie – neben einer Analyse des bundesdeutschen Geheimdienst- und Verfassungsschutzsumpfes („Tiefer Staat“) – ein unersetzliches Kompendium der wichtigsten politischen Verbrechen seit 1970. Hier bestellen. 

     

    Kommentare sind deaktiviert.