Die Wiedervereinigung sei das Verdienst des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl gewesen, der zum richtigen Zeitpunkt den «Mantel der Geschichte» ergriffen habe – so die bundesdeutsche Legende. Aber stimmt das auch? Wir haben dazu den Top-Insider und ehemaligen Schalck-Golodkowski-Mitarbeiter Michael Wolski befragt, dessen nun in 2., erweiterter Auflage erschienenes Buch 1989: Mauerfall Berlin. – Auftakt zum Zerfall der Sowjetunion Sie hier bestellen können.
_ Michael Wolski im Gespräch mit Martin Müller-Mertens
War die deutsche Einheit das Ergebnis einer friedlichen Revolution – oder eines Komplotts der Sowjetführung, die ihren Bruderstaat DDR verraten hat?
Meine persönlichen Erfahrungen deuten auf eine früh angelegte Operation hin. Ich arbeitete 1986 im Internationalen Handelszentrum IHZ in Ostberlin, das unter Kontrolle der Kommerziellen Koordinierung, abgekürzt KoKo, von Alexander Schalck-Golodkowski stand. Die KoKo war schon Mitte der 1960er Jahre von der SED-Führung als kapitalistische Insel in der Planwirtschaft konzipiert worden, ihre Operationen wurden selbst vor der Stasi abgeschirmt.
Also eine Geheimstruktur.
Es gab zu DDR-Zeiten jedenfalls keine amtlichen Informationen zu den Sonderrechten der KoKo. Sie unterstand offiziell dem Ministerium für Außenhandel, ihre Aufgabe war Devisen-Erwirtschaftung um jeden Preis. Ohne KoKo wäre die DDR schon 15 bis 20 Jahre eher zerfallen, dann aber vermutlich blutig.
Peter-Michael Diestel bezifferte die Zahl KGB-Mitarbeiter in der DDR mit 50.000.
Bei uns im IHZ waren zahlreiche Firmen aus dem kapitalistischen Ausland angesiedelt, ich selbst arbeitete für die Schweizer Tochter eines US-Konzerns. Nachdem die Mauer am 9. November 1989 gefallen war, kam mein Schweizer Chef nach Berlin und verkündete, dass nun eine eigene Tochtergesellschaft in der DDR gegründet werde, ich solle schon mal alles organisieren.
Anfang Januar 1990 dann der Salto rückwärts: Ich solle alle Vorbereitungen einstellen, sagte er, denn die DDR werde bald aufhören zu existieren. Dabei war das damals noch überhaupt kein Thema in der Politik. Der sowjetische Deutschlandberater Nikolai Portugalow sollte erst 14 Tage später bekannt geben, dass Moskau sich nicht gegen eine Wiedervereinigung stemmen würde. Woher wusste die Konzernspitze in den USA schon viel früher, dass es bald keine DDR mehr geben würde?
Für mich ist ein Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse 1989/90, was der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse rückblickend über seine Strategie schon im Jahr 1986 gesagt hatte: «Die Existenz zweier deutscher Staaten im Herzen des Kontinents verwandelte sich unter den gegenwärtigen Bedingungen in eine Anomalie, die die Sicherheit Europas ernstlich bedrohte, und es kam darauf an, sich Gedanken darüber zu machen, wie eine gefährliche Unlenkbarkeit der Ereignisse mit politischen Mitteln zu vermeiden wäre.»
Wenn wir Ihrer These folgen, dass Moskau selbst den Prozess zur Wiedervereinigung in Gang gebracht hat: Über welche Strukturen und Personen soll das, gegen den Willen der SED, erfolgt sein?
Mir war schon 1986 auffällig, wie sehr man an der SED-Spitze den sowjetischen Genossen misstraute. Plötzlich brauchte man nämlich eine Genehmigung, um in das große Bruderland zu fahren – die Stasi fürchtete, dass der KGB DDR-Bürger anwerben könnte. Es gab auch DDR-Bürger, die für den Großen Bruder spionierten. Peter-Michael Diestel, der letzte Innenminister der DDR, bezifferte in einem Interview im Juni 2020 die Anzahl der KGB-Mitarbeiter in der DDR mit 50.000.
Selbst in seinem eigenen Ministerium tummelten sich sowjetische Agenten: »Zwei Generäle aus meiner unmittelbaren Umgebung offenbarten sich mir unter vier Augen. Ich bin der und der, habe das und das gemacht und bin auch Offizier der Sowjetarmee.»
Auch der Sekretär von Hermann Axen, dem Außenpolitikchef im Politbüro, hat für Moskau gearbeitet. Jedenfalls hatte, wie ich in meinem Buch gezeigt habe, der KGB am 9. November 1989 mithilfe seiner Agenten in den Behörden der DDR die Macht über die Medien und die Grenztruppen übernommen und durch Tricks und Täuschung die unblutige Grenzöffnung durchgesetzt.
Sie hatten auch dafür gesorgt, und zwar schon im April 1989, dass der Schießbefehl an der DDR-Grenze aufgehoben und den Volkspolizisten auch im Falle von Unruhen der Gebrauch von Schusswaffen untersagt worden ist. Somit war sichergestellt, dass am Abend des 9. November nichts Schlimmes geschehen konnte, als etwa 100.000 Ostberliner nach Westberlin strömten.
Warum wollte aus Ihrer Sicht die UdSSR die DDR überhaupt zur Aufgabe zwingen?
Vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Seit Anfang der 1980er Jahre rutschte die UdSSR immer tiefer in die roten Zahlen, hinzu kam das kostspielige Desaster in Afghanistan. Die Bruderstaaten, auch die DDR, hingen am sowjetischen Tropf, deshalb wollte man sie abstoßen.
Gorbatschow begann, vom «gemeinsamen Haus Europa» zu schwärmen, das die Bipolarität NATO/Warschauer Pakt ersetzen sollte. Übte er Druck auf Honecker aus?
Es gab Ende Mai 1987 ein Treffen zwischen SED und KPdSU in Ostberlin. Schewardnadse sagte den deutschen Genossen, die Mauer sei überflüssig geworden und müsse fallen. Im Protokoll seines Sekretärs wurde an dieser Stelle vermerkt: «Scharfe Reaktion unserer Freunde.» 14 Tage später war US-Präsident Ronald Reagan in Berlin und forderte vor dem Brandenburger Tor: «Mister Gorbatschow, tear down this wall!» Offensichtlich gab es da schon ein Einverständnis zwischen Washington und Moskau, die deutsche Teilung gemeinsam zu beenden.
Und deswegen hatten bereits 1985 mehrere US-Konzerne Niederlassungen im Internationalen Handelszentrum in Ostberlin eröffnet?
Gleich vier Konzerne kamen damals ins IHZ, vertreten durch ihre Ableger in der Schweiz, Österreich oder Luxemburg. Sie wollten explizit Ostberliner Mitarbeiter einstellen, obwohl sie auch Westberliner hätten nehmen können – die Visa-Beschaffung war für das IHZ kein Problem. Der Personalleiter des IHZ sagte mir, dass man «DDR-Bürger mit Zugang zu den Entscheidungsträgern» angeboten habe…
Anfang 1986 war der Andrang westlicher Firmen so stark, dass man ein weiteres Gebäude neben dem IHZ plante und rasch mit dem Bau begann. Es wurde dann 1989 fertig, wenige Monate vor Abwicklung des Bereichs KoKo. Wie heißt es in einem chinesischen Sprichwort? Ist das Haus fertig, kommt der Tod.
Hat nicht auch die SED, und eben nicht nur die KPdSU, in den 1980er Jahren einen Kurs Richtung Wiedervereinigung eingeschlagen? Selbst Honecker befürwortete sie in einer Rede, wenn auch nur unter sozialistischen Vorzeichen.
Nun, Schalck-Golodkowski hatte ja gute Beziehungen zu Franz Josef Strauß aufgebaut, der 1983 zwei Kredite à eine Milliarde Westmark vermittelte und dadurch den Bankrott der DDR verhinderte. Honecker selber wollte bereits 1984/85 nach Bonn kommen, das hat ihm Moskau verboten. Er durfte erst 1987 fahren…
Als sich Moskau und Washington wohl schon über das Ende der DDR verständigt hatten.
Die Details dazu werden wir hoffentlich erfahren, wenn Putin endlich die entsprechenden Archive freigibt.
_ Michael Wolski (* 1952) absolvierte in der DDR ein Studium für Außenhandel und arbeitete dann in diesem Bereich, von 1986 bis 1990 im Internationalen Handelszentrum in Ostberlin. Aufgrund seiner intimen Kenntnisse über Schalck-Golodkowskis KoKo-Imperium war er Berater für die TV-Serie «Deutschland 86». Der Zehnteiler – ausgestrahlt 2018 bei «Amazon Video» und RTL – hat eine wahre Begebenheit als Grundlage: 1986 lieferte die DDR unter Bruch des UN-Embargos Waffen ausgerechnet an den Klassenfeind, das Apartheid-Regime in Südafrika. Ziel war die Beschaffung von Devisen für den klammen sozialistischen Staat.
Spannend wie ein Krimi: Nachdem die Mauer gefallen war, begannen zügig Verhandlungen mit den Siegermächten über die Ausgestaltung der deutschen Einheit. Vieles, was damals eine große Rolle spielte, wird heute verschwiegen. In seinem nun in 2., erweiterter Auflage erschienenen Buch 1989: Mauerfall Berlin – Auftakt zum Zerfall der Sowjetunion deckt Michael Wolski, ehemaliger Mitarbeiter von Alexander Schalck-Golodkowski, diese Hintergründe auf. Hier bestellen.