Die deutsche Aufklärung musste nach Ansicht unseres Autors im Sommer 1940 von einer expansiven Außenpolitik der Sowjetunion ausgehen – das zeigen unter anderem die Beispiele Finnland und Rumänien. Teil 2 unserer Reihe zum Unternehmen Barbarossa. Mehr dazu lesen Sie in der bahnbrechenden Dokumentation Die Aufklärung der Bedrohung aus dem Osten, die Sie hier bestellen können.

    _ von Bernd Schwipper

    Lesen Sie auch Teil 1.

    2.2. Neue Aufklärungsergebnisse und die notwendige Erhöhung der Sicherheit Deutschlands im Osten durch Bildung der Heeresgruppe B

    Die Vortragsnotiz Halders vom 24. Juli 1940 sowie deren Ergänzung vom 1. August 1940 gehören zu den ersten Aufklärungsdokumenten, die belegen, dass Stalin nicht gewillt schien, sich mit dem Erreichten zufrieden zu geben und im Begriff war, zur Erweiterung der Expansionen in den Richtungen West, Nordwest und Südwest starke Kräfte der Roten Armee in den Grenzmilitärbezirken zu konzentrieren.

    Mit Weisung Stalins vom 4. Juli 1940 (Direktiven Timoschenkos vom 6. Juli 1940) erfolgte der Aufmarsch von 102 Divisionen sowie von 95 Fliegergeschwadern der Roten Armee in die neu konfigurierten Grenzmilitärbezirke der Sowjetunion.

    Durch die Fremden Heere Ost wurde dieser Aufmarsch der Roten Armee festgestellt und im Juli 1940 198 Berechnungsdivisionen im Gesamtbestand, davon 116 Divisionen in den westlichen Grenzmilitärbezirken, gemeldet. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt meldete die Aufklärung eine für Deutschland durch die Luftstreitkräfte (circa 5.000 Flugzeuge) der Roten Armee gegebene hohe Luftbedrohung.

    Die Oberkommandos der Wehrmacht und der Wehrmachtteile verfügten somit über zeitnahe Informationen, die den Aufmarsch der Roten Armee belegten und periodisch aktualisiert wurden.

    Stalin glaubte zunächst, dass diese im Sommer 1940 sich entwickelnde Lage für eine Offensive und die Eröffnung einer Ostfront gegen Deutschland außerordentlich günstig sei und sich ihm ein erstes Zeitfenster auftat, da die Wehrmacht weiträumig verteilt war und die Landung beträchtlicher Wehrmachtteile in England noch bevor stand. Es entstand ein Gefahrenmoment, das der deutschen Aufklärung, wie die folgende Grafik belegt, nicht entgangen war:

    8) Angaben nach den Dokumenten zur Verlegung der 18. Armee vom 29. Juni/9. u. 22. Juli 1940. Mueller- Hillebrand, Das Heer 1933-1945, Bd. II, S. 78 u.a.m. 9) Angaben nach dem Dokument der Fremden Heere Ost, Vortragsnotiz für Halder vom 24. Juli 1940. Grafik: Bernd Schwipper

    Der Vergleich der im Osten Ende Juli 1940 gegenüberstehenden Kräfte (15 abgekämpfte Divisionen der Wehrmacht gegen aufgeklärte 116 Divisionen der Roten Armee in den Grenzmilitärbezirken) ergab ein Kräfteverhältnis von 1 zu 7,73 zugunsten der Roten Armee und bestätigte den Aufmarsch und das Vorrücken der Roten Armee gegen Deutschland, eine für die Fortsetzung der durch Stalin in Richtung West angedachten Expansion, wie es der Operationsplanentwurf des Generalstabes der Roten Armee vom 19. August 1940 zur Einnahme Ostpreußens auch vorsah. (Vgl. Bernd Schwipper: Deutschland im Visier Stalins, S. 414 ff.)

    Stalin konnte dieses durch ihn erhoffte Zeitfenster jedoch nicht mehr nutzen, weil:

    • der Sieg der Wehrmacht in Frankreich unerwartet schnell errungen wurde und durch die Kapitulation Frankreichs am 22. Juni 1940 die kampferfahrenen wenn auch abgekämpften Verbände der Wehrmacht recht schnell nach dem Osten hätten verlegt werden können;

    • die für den Sommer 1940 (15. August 1940) geplante Landung der Wehrmacht auf der britischen Insel und somit deren weitere Zersplitterung (der Wunschgedanke Stalins) nicht zustande kam;

    • die Rote Armee für eine Auseinandersetzung mit der Wehrmacht in dieser dann möglichen Stärke noch nicht gerüstet war und

    • der zwischen Deutschland, Italien und Japan am 27. September 1940 abgeschlossene Dreimächtepakt den durch Stalin gefürchteten Zwei- oder Mehrfrontenkrieg bedeutet haben könnte. (Vgl. auch: Bernd Schwipper: Deutschland im Visier Stalins, S. 449)

    Die folgende Grafik 3 zeigt die Aufklärungsergebnisse der Wehrmacht anhand deutscher Aufklärungsdokumente im Vergleich mit den tatsächlich konzentrierten Divisionen der Roten Armee in den westlichen Grenzmilitärbezirken:

    Grafik: Bernd Schwipper

    Wie oben dargestellt und durch die Dokumente der Wehrmacht belegt, war diese gefährlich sich entwickelnde Lage im Osten ausreichend genau aufgeklärt und der politischen und militärischen Führung noch vor der Absichtsäußerung Hitlers vom 31. Juli 1940 bekannt geworden.

    Es war also nicht unbegründet, wenn Hitler angesichts der vorliegenden Erkenntnisse über die Westexpansion Stalins und der Meldungen seiner Aufklärungsorgane am 30. Juni 1940 geäußert haben sollte, „Augen stark auf den Osten gerichtet“, er es am 21. Juli 1940 für erforderlich hielt, „entsprechende politische und militärische Sicherungen“ zu treffen und und „russisches Problem in Angriff nehmen. Gedankliche Vorbereitungen treffen.“ Und am 31. Juli 1940 meinte er: „Bestimmter Entschluss, Russland zu erledigen.“

    Ein Entschluss, den man angesichts seiner politischen Äußerungen und Handlungen in den kommenden Monaten nur als eine Absichtsäußerung bezeichnen kann.

    Dokument (Auszug) 15 15 Aufklärungsinformation der Fremden Heere Ost vom 09. September 1940; in: Deutsches Historisches Institut Moskau, Dokumente der Wehrmacht, Bestand 500, Findbuch 12451-OKH, Akte 276.

    Die Fortschreibung der Information über Russland vom August 1940 und die im Operationsentwurf des Generalmajor Marcks vom 5. August 1940 enthaltenen Gegnerbeurteilungen (Erhöhung der Luftbedrohung, gefahrdrohende Handlungen der Sowjetunion in Skandinavien und auf dem Balkan) bildeten weitere Ursachen für den Entschluss, die Sicherheit im Osten zu erhöhen und stärkere Kräfte, die Heeresgruppe B, einzusetzen.

    Die nebenstehende Information der Fremden Heere Ost vom 9. September 1940 bestätigte nochmals nachhaltig alle sich entwickelnden Gefahrenpunkte, so auch in Skandinavien und auf dem Balkan.

    Unterstreichen muss man, dass diese Informationen durch ein Dokument belegt bereits im August 1940, also vor dem Erlassen der Anweisung zur Bildung der Heeresgruppe B vorlagen. Sowohl der Entwurf der Weisung über die Verlegung weiterer Kräfte nach dem Osten vom 1. September 1940 als auch die gültige Weisung vom 06. September 1940 beweisen mit der Formulierung „sofort“ die hohe Eile zur Durchführung dieser Verlegungen.

    Letztere Weisung legte auch fest, dass die der 18. Armee für die Besetzung der Demarkationslinie, zur Sicherung der Küste und zur Überwachung der befohlenen Sperrlinien bestehenden Anordnungen in Kraft bleiben, das heißt, auch der Heeresgruppe B wurde ein defensiver Auftrag erteilt.

    Die Lage im Osten – auch Ursache für den Abzug von Divisionen vom Unternehmen „Seelöwe“ und deren schnelle Verlegung nach dem Osten

    Die Entscheidung für „Seelöwe“ (Vorbereitung der Invasion Großbritanniens) wurde durch Hitler mit Weisung Nr. 16 am 16. Juli 1940 gefällt. Den für die Durchführung der Landung mit Weisung des Oberbefehlshabers des Heeres vom 17. Juli 1940 befohlenen Verbände wurden mit Anordnung des Oberkommandos des Heeres vom 30. August 1940 kurzfristig drei Divisionen den Landungstruppen entzogen und nach dem Osten verlegt.

    Da es sich um Divisionen des 1. Treffens (1. Panzer- und 31. und 32. Schützendivision) handelte, müssen triftige Gründe für deren Verlegung nach dem Osten vorgelegen haben, die eine Schwächung der Landungsfront rechtfertigten, zumal die später durch Hitler erlassene Weisung Nr. 18 vom 2. November 1940 über die Kriegsführung für die nächste Zeit den Schwerpunkt eindeutig auf den Kampf gegen den Hauptfeind England legte, während Handlungen gegen Russland mit dem Hinweis auf eingeleitete politische Besprechungen auf vorbereitende Maßnahmen beschränkt wurden.

    Die im Folgenden dargestellte periphere Bedrohungslage, wie die Aufklärungsergebnisse der Entwicklung der Handlungen Stalins gegen Finnland und auf dem Balkan beweisen, entsprach durchaus auch der durch den Aufmarsch der Roten Armee im Osten gegen Deutschland aufgeklärten gefährlichen Situation.

    Die Aufklärung der Bedrohung Finnlands

    Die Zunahme der Spannungen zwischen der Sowjetunion und Finnland, die Forderung Molotows nach Überlassung der Nickelerzkonzession, der militärische Ausbau der Fischer-Halbinsel in Vorbereitung einer geplanten Besetzung des bedeutsamen eisfreien Hafens Petsamo, die Forderung der Sowjetunion nach Entwaffnung der Aaland-Inseln, die militärische Besetzung der Halbinsel Hanko, die durch die Fremden Heere Ost gemeldete Konzentration von mehr als 19 Berechnungsdivisionen an der Grenze zu Finnland, Meldungen des Militärattachés aus Moskau und der finnischen Aufklärung waren ausreichende Gründe, die ernste und auch die Wehrmachtteile in Norwegen bedrohende Lage aufmerksam zu verfolgen und eventuell eine weitere Expansion Stalins gegen Finnland zu erwarten.

    Generaloberst Edualrd Dietl (l.) mit dem finnischen Oberst Oiva Willamo, 1943. Foto: Mikko Uola, CC0, Wikimedia Commons

    Die Möglichkeiten für Reaktionen der Wehrmacht in dieser sich zuspitzenden Situation waren allerdings äußerst begrenzt. So wurde vorgesehen, den nordnorwegischen Raum stärker auszubauen, die dortigen Fjorde und Straßenkreuzungen zu befestigen sowie eine Basis für eine zuvorkommende Besetzung Petsamos zu schaffen.

    Für die Sicherung des Raumes Petsamo (Unternehmen „Renntier“) vor einem russischen Zugriff im Falle einer Aggression erließ der Kommandeur des Gebirgskorps Norwegen, General Dietl, am 7. September 1940 seinen Befehl. Der Auftrag lautete, falls erforderlich: „Schnelle Besetzung des Raumes Petsamo.“

    Selbstverständlich werden diese durch die Handlungen der Sowjetunion erzwungenen Maßnahmen durch die etablierte Geschichtsschreibung bereits als Maßnahmen der Wehrmacht zur Vorbereitung einer ideologisch begründeten Aggression gegen die Sowjetunion gewertet.

    Die Aufklärung der Bedrohung Rumäniens

    Bereits am 5. Juli 1940 stellte die Seekriegsleitung die Gefahr eines baldigen weiteren Vormarsches der Roten Armee auf dem Balkan fest. Die Fremden Heere Ost meldeten am 24. Juli 1940 in der Gesprächsnotiz für Halder 29 Berechnungsdivisionen an der Grenze zu Rumänien, der estnische Generalstab am 01. August 1940 sogar 35 Divisionen. Auch Generalmajor Marcks sprach in seinem Operationsentwurf Ost von der Gefahr eines Einbruchs der Roten Armee nach Rumänien.

    Es darf also nicht verwundern, wenn der Generalstab am 30. August 1940 begann, eine militärische Intervention zur Sicherung des rumänischen Ölgebietes von Ploesti vor einem russischen Zugriff zu planen. Die Bereitstellung des XXXX. Armeekorps (im Bestand die 2. und 9. Panzer- und die 13. motorisierte Division) für diesen Sonderauftrag wurde mit der Weisung vom 06. September 1940 befohlen. Es blieb jedoch nur eine Planungsepisode.

    Die Entscheidung zur Entsendung einer Militärmission nach Rumänien wurde auf Wunsch des Königs Carol durch Hitler am 19. September 1940 gefällt mit der Aufgabe, das Erdölgebiet von Ploesti zu sichern. Auch hier können wir feststellen, dass die Wehrmachtmission einen defensiven Auftrag zu erfüllen hatte und keinen Aufmarsch gegen die Sowjetunion darstellte, wie immer wieder behauptet wird.

    Beweis ist die Einnahme einer Rundumverteidigung um das Erdölgebiet gemäß der Anlage 2 zum Befehl Nr. 1 der Deutschen Wehrmachtmission. Diese oben genannten Aufklärungsergebnisse der Entwicklung der Lage im Osten beweisen die Notwendigkeit einer verstärkten militärischen Sicherung des Deutschen Reiches im Osten durch die Bildung der Heeresgruppe B mit Weisung vom 6. September 1940.

    Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die politischen Informationen der diplomatischen Dienste, die Meldungen der Aufklärung der Wehrmacht in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Aufklärungsdiensten Finnlands und Rumäniens eine sich im Osten entwickelnde Gefahr bestätigten und die zu treffenden Entscheidungen und die Sicherungshandlungen der Wehrmacht in dieser Periode ausreichend sicherstellten.

    Wird fortgesetzt.

    _ Dr. rer. mil. Bernd Schwipper (*1941) ist Generalmajor a. D. der NVA und Militärhistoriker. Er war unter anderem Stabschef einer Division und Kommandeur der 3. Luftverteidigungsdivision der Nationalen Volksarmee. 1977 Promotion zu einem militärwissenschaftlichen Thema, 1990 Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst; seitdem als Autor zu militärhistorischen Themen tätig. Der Experte auf dem Gebiet des Zweiten Weltkriegs ist verheiratet und hat einen Sohn.

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