Ging die Wehrmacht schon 1940 von einem Angriff der Sowjetunion aus? Zumindest traf man – nach Erkenntnissen unseres Autors – auf deutscher Seite Vorkehrungen für einen solchen Fall. Teil 1 unserer Reihe zum Unternehmen Barbarossa. Mehr dazu lesen Sie in der bahnbrechenden Dokumentation Die Aufklärung der Bedrohung aus dem Osten, die Sie hier bestellen können.

    _ von Bernd Schwipper

    Während der vielfach bewiesenen Tatsache der Bereitstellung der Roten Armee für eine Offensive nach Deutschland nicht mehr widersprochenen werden kann, rettet sich die etablierte Geschichtsschreibung nun mit der widersinnigen These, es könne mit dem Angriff der Wehrmacht vom 22. Juni 1941 kein Präventivschlag gewesen sein, denn die deutsche Seite hätte keinerlei Bedrohung festgestellt.

    So äußert sich etwa Jürgen Förster in Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion (herausgegeben von Bianka Pietrow-Ennker, S. 211):

    „Zu keinem Zeitpunkt der militärischen Planung gab es auf deutscher Seite eine Bedrohungsvorstellung von der Roten Armee.“

    Und Bogdan Musial schreibt in Kampfplatz Deutschland (S. 457):

    „Entscheidend in der ganzen Debatte ist jedoch der Umstand, dass die deutsche Seite keinerlei Kenntnisse vom Stand der sowjetischen Streitkräfte, geschweige denn über den Stand der auf Hochtouren laufenden Vorbereitungen zum Angriffskrieg hatte. Somit bestand auf deutscher Seite kein unmittelbarer Anlass zum Präventivkrieg.“

    Diese Behauptungen hat der Verfasser nun im zweiten Teil seiner Studie Die Aufklärung der Bedrohung aus dem Osten (Zwei Bände mit 1.100 Seiten und mehr als 500 Dokumenten, Dokumentenauszügen, Tabellen, Grafiken und Zitaten, mehrfarbig) anhand einer Vielzahl von Aufklärungsdokumenten der Wehrmacht untersucht und bewiesen, dass die der Reichsregierung und den Oberkommandos der Wehrmacht und der Wehrmachtteile vorliegenden Aufklärungsergebnisse für den Entschluss, einen zuvorkommenden Schlag gegen die Rote Armee führen zu müssen, ausreichende und völlig eindeutige Informationen vorlagen.

    Es lagen rechtzeitig zuverlässige und umfassende Angaben über die Absicht einer Offensive Stalins vor, wenn auch nicht alles, insbesondere die Größenordnung seiner Vorbereitungen, aufgeklärt werden konnte.

    1. Allgemeine Feststellungen einer bedrohlichen Situation im Osten

    Prüfen wir also anhand der Aufklärungsdokumente der Wehrmacht, ob die durch die etablierte Geschichtsschreibung propagierten Behauptungen, auf deutscher Seite seien keinerlei Kenntnisse über den Stand der sowjetischen Streitkräfte vorhanden gewesen, zu keinem Zeitpunkt der militärischen Planungen habe es auf deutscher Seite Bedrohungsvorstellungen von der Roten Armee gegeben, die aktuellen Bedrohungen seien konstruiert gewesen, der Wahrheit entsprechen.

    Kolonne von Motorrad-Gespannen der Wehrmacht in Russland. Foto: Bundesarchiv, Bild 101I-078-3076-16A / Fischer / CC-BY-SA 3.0

    Da eine Analyse der Aufklärungsdokumente der Wehrmacht ohne Betrachtung des politischen Umfeldes nicht möglich ist, sollen die folgenden kurzen Überlegungen vorausgeschickt werden.

    In Erinnerung an die Politik der Einkreisung Deutschlands im Ersten Weltkrieg musste jeder Hinweis auf eine Erneuerung dieser Politik als ein Indiz der Wiederholung dieses Zieles gewertet werden. Die geheimen Planungen der Alliierten für einen Krieg gegen Deutschland wurden Hitler und der Regierung des Deutschen Reiches durch Botschaftsinformationen aus London, Paris und den USA sowie durch Dokumentenfunde (z.B.: Beutedokumente von La Charité vom 19.06.1940) frühzeitig bekannt.

    Aus einer Vielzahl diesbezüglicher Hinweise seien die folgenden Beispiele genannt, die gleichzeitig auch einen begründeten Verdacht einer Annäherung der Sowjetunion an die Alliierten und somit deren Teilnahme an der Einkreisung Deutschlands aufkommen ließen.

    • Am 2. Mai 1935 schloss Frankreich mit der Sowjetunion einen Beistandsvertrag ab, „der militärische Eingriffe ohne Konsultation des Völkerbundes vorsah. Dieser konnte nur gegen Deutschland gerichtet sein.“

    • Bereits zwei Wochen später wurde ein gleicher Vertrag zwischen der Sowjetunion und der Tschechoslowakei abgeschlossen, „und sofort wurde der Bau von 25 großen Flugplätzen geplant, von denen aus Berlin, Mittel- und Süddeutschland durch sowjetische Bomber erreichbar waren.“

    „In diesem Zusammenhang wurden Planungen bekannt, dass im Kriegsfalle Frankreich unter Nutzung der entmilitarisierten Rheinzone sofort bis nach Böhmen durchstoßen sollte.“ (Helmut Schröcke, Der Jahrhundertkrieg, S. 96)

    Die Pommersche Zeitung berichtete am 12. August 1935 über die Teilnahme sowjetischer Offiziere an den Herbstmanövern der tschechoslowakischen Armee und die Besichtigung von Fabriken der tschechischen Rüstungsindustrie. Dieser erkannten Gefahr einer Einkreisung begegnete die Reichsregierung im März 1939 durch die Besetzung der Tschechoslowakei.

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    Damit galt schon frühzeitig das Trauma der Deutschen, ein Bündnis zwischen Frankreich und Russland, als erfüllt. Eine Entwicklung, die auch der Bevölkerung bekannt wurde und insbesondere nach der Besetzung und nachfolgenden Eingliederung der baltischen Staaten in die UdSSR und der Besetzung Bessarabiens und der Nordbukowina größeres Aufsehen selbst unter weiten Teilen der Bevölkerung erregte und in den Stimmungsberichten deutlich wurde.

    Diese Expansionen Stalins im Sommer 1940 wurden als neue Tendenz in der russischen Politik, als „russischer Schritt“ bewertet und führten besonders in Ostpreußen und im Generalgouvernement Polen zu ernsthaften Ängsten.

    Begründet durch eine Flut von Gerüchten wurden erste Befürchtungen über die Notwendigkeit einer möglichen militärischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion ausgesprochen. Auch mehrten sich Zweifel, ob mit Russland in seiner heutigen Form und unter diesen gegebenen Umständen eine deutsch-russische Freundschaft wirklich von langer Dauer sein könnte. (Heinz Boberach, Hrsg.: Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS 1938–1945, Bd. 5, S. 1334–1364)

    2. Die Aufklärung gefahrdrohender Handlungen der Roten Armee und die Reaktionen der Wehrmacht Juni bis November 1940

    Diese oben genannten außenpolitischen Vorgänge waren selbstverständlich auch in den Oberkommandos der Wehrmacht und der Wehrmachtteile bekannt und rückten die Sowjetunion und die Rote Armee und deren bedrohliche Machtausdehnung mehr in das Interesse der Aufklärung und der Handlungen der Wehrmacht.

    Angesichts dieser Entwicklung wurden erste Dekade Juli 1940 erste Bedenken gegen eine zu starke Teildemobilisierung im Oberkommando des Heeres ausgesprochen, da eine schnelle Verwendungsbereitschaft der demobilisierten Divisionen nicht mehr gegeben wäre. Gründe waren die Absicht Hitlers, den Kampf gegen das nicht friedenswillige England vom „Nordkap bis nach Marokko“ auszudehnen, aber auch die sowjetischen Expansionsbestrebungen, die, wie die oben genannte Beispiele belegen, alte Grundbefürchtungen erneut bestätigten.

    2.1. Kein Aufmarsch der Wehrmacht, sondern die Wiederherstellung der Sicherheit im Osten und die Erwartung möglicher expansiver Handlungen der Roten Armee

    Die Ostgrenze war während des Westfeldzuges der Wehrmacht nahezu entblößt und die Sicherheit des Deutschen Reiches im Osten nicht mehr gewährleistet, wie Keitel bei den Verhören vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg aussagte.

    „Während des Westfeldzuges waren es … sieben Divisionen. Sieben Divisionen von Ostpreußen bis an die Karpaten, von denen sogar noch zwei während des Westfeldzuges nach dem Westen transportiert, aber nachher wieder zurückgeführt wurden.“ (Protokolle des Prozesses gegen die Hauptangeklagten vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg, Bd. 10, S. 571–600)

    Der Befehl zur Umgruppierung des Heeres vom 26. Juni 1940 mit Abschluss des Westfeldzuges diente der normalen Dezentralisierung und Rückführung der Truppen. Erst mit Beendigung des Westfeldzuges erfolgte die Wiederherstellung der Sicherheit im Osten durch 15 Infanteriedivisionen der 18. Armee, die aber der Auffrischung bedurften.

    Jedoch zeigen die Weisungen an die 18. Armee und die Entschlussmeldung des Oberbefehlshabers der 18. Armee bereits Anzeichen einer ersten Reaktion auf eine sich im Osten möglicherweise entwickelnden Gefahrensituation. Waren doch die Ereignisse der Annexion der baltischen Staaten im Zeitraum vom 15. bis 17. Juni 1940 durch die Sowjetunion, die bereits zum Ausrücken der Truppen in Ostpreußen an die Grenze zu Litauen zwangen, in den Oberkommandos der Wehrmacht sofort bekannt geworden.

    Notgedrungen wurde nun durch den Oberbefehlshaber des Heeres den nach dem Osten in ihre alten Standorte zurückkehrenden Divisionen der 18. Armee am 29. Juni 1940 die Aufgabe gestellt, die deutschen Ostgrenzen gegen Russland und Litauen zu sichern, ein Vorgehen feindlicher Kräfte zum Stehen zu bringen und nach Zuführung von Verstärkungen zum Angriff überzugehen. Panzerverbände, die zur Auffrischung in ihre ostwärts gelegenen Heimatstandorte zurückkehrten, hatten kampfkräftige Teile für die Sicherung der Ostgrenze bereitzuhalten, waren der 18. Armee jedoch nicht unterstellt.

    Nürnberger Tribunal: Acht der 24 Hauptangeklagten in Nürnberg: Göring, Heß, von Ribbentrop, Keitel (vordere Reihe von links), Dönitz, Raeder, von Schirach und Sauckel (dahinter). Foto: United States Government, CC0, Wikimedia Commons

    Im Entschluss des Oberbefehlshabers der 18. Armee vom 09. Juli 1940 wurden bereits Schlussfolgerungen aus diesem Vorrücken von 18-20 Divisionen der Roten Armee in die baltischen Staaten, das zur Auslösung der oben genannten Verteidigungsmaßnahmen in Ostpreußen zwang, sowie aus der Besetzung Bessarabiens und der Nordbukowina (28. Juni 1940) gezogen.

    So entschloss sich der Oberbefehlshaber, seine Divisionen im Ostteil so bereitzustellen, dass ein weiteres Vorrücken der Roten Armee verhindert und russische Angriffsvorbereitungen schon jenseits der Interessengrenze zerschlagen werden können, also präventiv handeln zu wollen.

    Dieser Entschluss fand die Bestätigung Halders, der sich bereits am 3. Juli 1940 mit der Frage des Ostens beschäftigt hatte und am 4. Juli 1940 durch Kinzel über die „Truppenverteilung Russland“ berichten ließ.

    Somit widerspiegelt bereits dieser Entschluss des Oberbefehlshabers der 18. Armee die Aufklärung einer möglicherweise im Osten sich entwickelnden Gefahr und die Erkenntnis eventuell notwendig werdender präventiver Handlungen gegen einen möglichen Angriff der Roten Armee.

    Wird fortgesetzt.

    _ Dr. rer. mil. Bernd Schwipper (*1941) ist Generalmajor a. D. der NVA und Militärhistoriker. Er war unter anderem Stabschef einer Division und Kommandeur der 3. Luftverteidigungsdivision der Nationalen Volksarmee. 1977 Promotion zu einem militärwissenschaftlichen Thema, 1990 Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst; seitdem als Autor zu militärhistorischen Themen tätig. Der Experte auf dem Gebiet des Zweiten Weltkriegs ist verheiratet und hat einen Sohn.

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