Die Rechtskulturen der Römer und Germanen waren so unterschiedlich wie ihre Gesellschaften selbst. Erstgenanntes bestimmt noch immer unsere heutige Rechtskultur, letzteres entreißt Frühgeschichtsexperte Linus Ammer mit seinem Werk „Das alte germanische Recht“ nun endlich dem Vergessen. Hier mehr erfahren.
Während das römische Recht durch seine systematische und schriftliche Überlieferung bekannt ist und universell anwendbare Geltung beansprucht, wurde das germanische Recht mündlich überliefert, zeichnete sich durch seine lokale Vielfalt und eine mehr soziale als formelle Rechtsfindung aus.
Das stellt auch Frühgeschichtsexperte Linus Ammer in seiner Neuerscheinung „Das alte germanische Recht“ klar heraus ein Werk, das auch für Laien verständlich ist und einen faszinierenden Einblick in die vorchristliche Jurisdiktion bietet. Ammer zeigt auf, wie sehr das germanische Recht mit den kulturellen, religiösen und sozialen Aspekten der germanischen Stämme verknüpft ist.
Kollektive Urteilsfindung
Der Autor beginnt in Neuerscheinung „Das alte germanische Recht“ mit einer Einführung in die rechtlichen Grundstrukturen der Germanen, die weit entfernt von den formalisierten Gesetzen der Römer oder späteren europäischen Rechtssystemen liegen.
Der Corpus Iuris Civilis von Kaiser Justinian ist ein Paradebeispiel für die Kodifizierung des römischen Rechts. Diese Gesetzessammlungen ermöglichten eine einheitliche Anwendung über das riesige Imperium hinweg. Die germanische Tradition hingegen führte zu einer größeren Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, aber auch zu einer gewissen Unbeständigkeit. Die Lex Salica und andere frühe Gesetzestexte sind eher Sammlungen von Sitten und Gebräuchen als kodifizierte Gesetze.

Die römische Rechtsfindung war formalistisch und basierte auf Logik und Präzedenzfällen. Juristen wie Gaius oder Ulpian hatten durch ihre Schriften wesentlichen Einfluss auf die Rechtsentwicklung. Streitigkeiten wurden oft vor formalen Gerichten ausgetragen, die durch eine klare Hierarchie und Prozeduren gekennzeichnet waren.
Das germanische Recht war hingegen, wie man in Ammers Neuerscheinung nachlesen kann, stark von der Gemeinschaft beeinflusst. Es war hart, aber herzlich: Das zeigte sich etwa in der Praxis der Thingversammlung, wo Recht durch Konsens und nicht durch formale Richtlinien gesprochen wurde. Diese Versammlungen waren ebenso Gericht wie Gesetzgeber, und die Entscheidungsfindung war kollektiv, oft durch direkte Beteiligung der betroffenen Parteien und der Gemeinschaft.
Wiedergutmachung durch Blutgeld
Ammer beleuchtet in „Das alte germanische Recht“ aber nicht nur die Normen und die Rechtsprechung, sondern auch die moralischen und sozialen Dimensionen, die die Gesetze unserer Ahnen prägten. Im römischen Recht war die Strafe oft abschreckend und exemplarisch. Es gab harte Strafen wie die Todesstrafe oder die Verbannung, die weniger darauf abzielten, Wiedergutmachung zu leisten, sondern das Verbrechen zu bestrafen und die öffentliche Ordnung zu wahren.

Die germanische Rechtsauffassung indes betonte die Wiedergutmachung. Das Konzept des Wergeldes oder Blutgeldes ist hierfür besonders charakteristisch: Ein Verbrechen wie Mord führte nicht zur Hinrichtung, sondern zur Zahlung einer Entschädigung an die Familie des Opfers.
Von Island bis in die Lombardei
Schon anhand dieser Beispiele lässt sich erkennen: Die Unterschiede zwischen römischem und germanischem Recht sind tiefgreifend und spiegeln die unterschiedlichen kulturellen, sozialen und politischen Strukturen wider. Zweifelsohne legte das römische Recht eine fundamentale Basis für moderne westliche Rechtssysteme, doch das germanische Recht brachte Elemente wie die Wiedergutmachung und die kollektive Rechtsfindung ein, die auch heute noch in bestimmten Kontexten anerkannt werden.
Ammer arbeitet dies gut heraus. Ein großer Vorteil seines Werkes „Das alte germanische Recht“ ist die umfassende Auswertung von Quellenmaterial. Die zahlreichen Gesetzestexte germanischer Stämme, die glücklicherweise überliefert sind, werden zusammengetragen und auf ihre Gemeinsamkeiten und Ursprünge hin untersucht.
Ammer zeigt in seinem Buch, wie diese Texte ein kohärentes Bild von germanischem Rechtsdenken zeichnen, das trotz regionaler Unterschiede eine archaische Klarheit und Konsequenz aufweist. Dieses Verfahren erlaubt es dem Leser, einen tiefen Einblick in das germanische Denken und Fühlen zu bekommen – von Island bis in die Lombardei und von der Eisenzeit bis ins Hochmittelalter.
Unsere Ahnen, unser Erbe, unser Stolz: In „Das alte germanische Recht“ lässt Linus Ammer ein Stück deutscher Vorzeit wieder ins Bewusstsein der Gegenwart treten und stellt mithilfe eines umfangreichen Quellenschatzes neben das praktizierte römische das alte germanische Recht in all seiner Urwüchsigkeit. Dieses Buch und andere Werke über unsere Vorfahren können Sie hier bestellen.