Millionen von Heimatvertriebenen landeten nach dem Krieg als völlig Besitzlose in beiden Teilen Deutschlands. Sie bauten sich mit ungeheurer Energie eine neue Existenz auf und wurden zum Motor des Wirtschaftswunders. Mit unseren Silbermedaillen „Deutsche Ostgebiete“ würdigen wir ihre Leistungen und erinnern an die alte Heimat. Hier mehr erfahren.
Blasmusik, «Glück Auf, der Steiger kommt», Bergmänner in ihren alten Uniformen, die mit Pfeifen, Pauken und Trompeten durch das weihnachtlich geschmückte Bochum zur Propsteikirche ziehen, um dort der heiligen Barbara zu gedenken. Noch mehr Ruhrpott als bei dem alljährlich stattfindenden Knappentag geht nicht. So denkt man jedenfalls. Doch die wenigsten dürften wissen, dass der Kult um die christliche Märtyrerin erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Bergleuten aus Oberschlesien in den äußersten Westen Deutschlands gebracht wurde – so wie einiges, was wir heute als typisch für die Bundesrepublik empfinden.

Die kulturelle Identität, die für das Revier in Nordrhein-Westfalen heute bestimmend ist, wurde nicht unwesentlich durch Heimatvertriebene aus den früheren deutschen Ostgebieten und Osteuropa mitgeprägt. Daran war unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch überhaupt nicht zu denken gewesen. Viele der etwa 15 Millionen Menschen hatten die Besatzungszonen erst gar nicht erreicht, zwei Millionen waren bei Flucht und Vertreibung umgekommen.
Sie kamen aus Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen sowie aus der brandenburgischen Neumark, aber auch aus einigen jahrhundertelang deutsch geprägten Gebieten des alten Österreichs, die heute meist unter dem Sammelbegriff Sudetenland zusammengefasst werden. Dazu kamen Hunderttausende weiterer deutscher Vertriebener aus den Siedlungsgebieten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, insbesondere aus Rumänien, Ungarn und dem früheren Jugoslawien. Ihre Odyssee endete in Okkupationsgebieten, in denen die Behörden nicht wussten, wie sie diese Menschen unterbringen sollten und wo in den Städten Hunderttausende von Ausgebombten selbst verzweifelt nach Wohnraum suchten.
Die schier ausweglos erscheinende Katastrophe wurde im Hungerwinter 1946 weiter gesteigert. Unter den Augen der Besatzungsmächte verloren noch einmal schätzungsweise zwei Millionen Deutsche ihr Leben, und nicht wenigen schien es, als sei das Finis Germaniae nun endgültig gekommen. Zusätzlich verkompliziert wurde die Lage durch die enorm ungleiche Verteilung der Vertriebenen innerhalb der drei Westzonen. Die höchsten Bevölkerungszuwächse durch Flüchtlinge aus dem Osten gab es im heutigen Bundesland Schleswig-Holstein. Im Kreis Eutin belief sich das Einwohnerplus zwischen Mai 1939 und Oktober 1946 auf 118 Prozent, in Segeberg auf 111 Prozent und in Eiderstedt auf 96 Prozent.
Im Rückblick mutet es wie ein Wunder an, dass die Dinge noch einmal zum Besseren gewendet werden konnten. «Die große Hoffnung – Ruhrkohle» titelte der Spiegel im Dezember 1947, und tatsächlich ermöglichte das Schwarze Gold es den Deutschen, sich wie der Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten in diesem arbeitsintensiven Sektor belief sich 1946 auf 43 Jahre, weshalb eine Aufstockung und Verjüngung der Belegschaften auch von der britischen Besatzungsmacht zu den wichtigsten Aufgaben gezählt wurde.
Die Behörden bemühten sich – teilweise in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz – um eine Anwerbung neuen Personals unter den vielen Arbeitssuchenden aus Ostdeutschland. Dies führte dazu, dass zwischen 1950 und 1961 jeder vierte bis fünfte Bergmann an der Ruhr einen Vertriebenenhintergrund aufwies, alleine zwischen 1947 und 1950 verdreifachte sich der Anteil dieses Personenkreises in den Belegschaften. Im Rahmen von sogenannten Großbedarfsträger-Programmen fand in den frühen Fünfzigerjahren außerdem eine innerbundesdeutsche Umsiedlung statt, um die Belastung der Hauptaufnahmeländer zu mindern und gleichzeitig Bereichen wie dem Bergbau, der nun ebenfalls wiedererstehenden Stahlindustrie sowie der Bundesbahn und der Bundespost die benötigten Arbeitskräfte zuzuführen.
Die Vertriebenenstädte
In fast jeder größeren Gemeinde entstanden nun Vertriebenensiedlungen, die unschwer an ihren häufig auf ostdeutsche Städte verweisenden Straßennamen zu erkennen waren. Ein einzigartiger Fall ist bis heute Neugablonz geblieben. Die Siedlung entstand erst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im bayerischen Allgäu auf dem verwüsteten und teilweise gesprengten Ruinengelände der Dynamit AG, einer alten Sprengstofffabrik, die im Hartwald bei der Stadt Kaufbeuren lag.Hier siedelten sich ab 1945 Tausende von Heimatvertriebenen aus der nordböhmischen Stadt Gablonz an der Neiße an, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem weltberühmten Zentrum der Mode- und Glasschmuckindustrie geworden war.
Ihre Glasrezepturen hatten sie sich in das Futter ihrer Kleidung eingenäht oder auf Stoffstreifen um die Füße gewickelt und so mit in das Ostallgäu gebracht. In der Folgezeit entstand hier die größte geschlossene Siedlung von Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik, die schon in den frühen Fünfzigerjahren mit dem Slogan «Die Stadt, die den Eisernen Vorhang durchbrach» für sich warb. Mit Fleiß und Geschick arbeitete man sich wieder ganz nach oben, entwarf Colliers für das Modeimperium von Christian Dior und eine Brosche für Marlene Dietrich. Heute sorgen die mehr als 100 Unternehmen, die im Bundesverband der Gablonzer Industrie zusammengefasst sind, für einen Jahresumsatz von fast 300 Millionen Euro und sind ein wichtiger Innovationsmotor für die Region geworden.
Seine Erfolgsgeschichte fortführen konnte auch der in Warnsdorf im Sudetenland gegründete Strumpfhersteller Kunert, der sich schon 1938 an die Spitze der europäischen Hersteller setzte und im März 1946 mit 24 Mitarbeitern aus der Heimat und gemieteten Maschinen in einem Fabriksaal in Immenstadt im Allgäu weiterproduzierte. Schon vier Jahre später war die Zahl der Arbeitskräfte auf 600 angewachsen, ab den 1970er Jahren expandierte man ins Ausland und hatte es wieder zum europäischen Branchenführer gebracht.Mit Blick auf den Beitrag der Ostflüchtlinge zum Wiederaufbau in der Bundesrepublik stellte der Wirtschaftshistoriker Gerold Ambrosius in einer Studie aus dem Jahr 1996 fest, «dass Vertriebene und Flüchtlinge das Wachstum des Sozialprodukts-pro-Kopf zweifellos beschleunigten, dass mit ihnen der Wohlstand des Einzelnen in Westdeutschland schneller stieg als ohne sie».
In einer weiteren Arbeit führten die drei Ökonomen Thomas Bauer, Sebastian Braun und Michael Kvasnicka dies darauf zurück, dass die Neubürger aus den Ostgebieten dazu gezwungen waren, sich nach Arbeit außerhalb der Landwirtschaft umzuschauen und stärker in ihre Bildung zu investieren. Die schnelle Integration war die Folge einer Anpassungsleistung, deren Schattenseite nicht selten in der Verdrängung erlebter Traumata bestand. Bei vielen Heimatvertriebenen blieb selbst in der zweiten Generation in manchen Momenten noch ein Gefühl des Fremdseins zurück. Unnachahmlich festgehalten hat das der Liedermacher Heinz Rudolf Kunze, dessen Familie aus dem heute polnischen Teil von Guben in der Niederlausitz stammt und der 1956 in einer westfälischen Planstadt für die Ausgewiesenen geboren wurde.
In seinem Song «Vertriebener» heißt es: «Ich bin nicht aus Bochum und nicht aus Berlin, / nicht aus Frankfurt und erst recht nicht aus Köln. (…) Ich wurde geboren in einer Baracke / im Flüchtlingslager Espelkamp. / Ich wurde gezeugt an der Oder-Neiße-Grenze, / ich hab’ nie kapiert, woher ich stamm’. (…) Alle gießen ihre Wurzeln, alle reden Dialekt. / Niemals Zeit gehabt, einen zu lernen. (…) / Ich bin auch ein Vertriebener, nirgendwo Gebliebener. / Zuhause ist, wo man mich hört.»
Späte Besinnung
Der im Zuge der 68er-Bewegung sich vollziehende Linksruck der Gesellschaft und die Neuorientierung der SPD, die in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Gründung der Bundesrepublik noch die politische Schutzmacht der Heimatvertriebenen gewesen war, machten es für die Betroffenen nicht leichter, über ihr Schicksal zu sprechen. Sie sahen sich nun oftmals pauschal dem Vorwurf ausgesetzt, sogenannte Revanchisten zu sein, obwohl sie in einem historisch einmaligen Akt in der Stuttgarter Charta schon 1950 auf jede Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer Rechte verzichtet hatten.

Der Danziger Günter Grass bezeichnete in seiner späten Novelle Im Krebsgang das «Versäumnis», eine angemessene Erinnerungskultur für die Vertriebenen zu finden, als «bodenlos», und der damalige Bundesinnenminister Otto Schily nannte den Umgang der politischen Linken mit dem Thema bei einer Veranstaltung des Bundes der Vertriebenen im Jahr 1999 «mutlos und zaghaft». Umso wichtiger war es, dass es gerade in den vergangenen beiden Jahrzehnten nochmals gelang, die Geschichte der Deutschen aus dem Osten in einer Vielzahl von Filmen, Dokumentationen, Ausstellungen und Büchern zu erzählen.
Heute sind es vor allem auch die Heimatvertriebenen und ihre Nachkommen, die hunderttausendfach Kontakte in ihre alte Heimat unterhalten und dort viele Initiativen gestartet haben. Ein besonders prominentes Beispiel ist TV-Moderator Thomas Gottschalk, der aus der schlesischen Herkunft seiner Familie nie ein Geheimnis gemacht hat und durch eine großzügige Spende die Eröffnung des Eichendorff-Kultur-und-Begegnungszentrums in Lubowitz – also im Geburtsort des Dichters – ermöglichte. Menschen wie er sind ein wichtiges Korrektiv in einer Gesellschaft, die viel zu häufig nur in den Westen schaut, statt den Blick in den Osten zu wagen.
Ostpreußen, Pommern, Schlesien und das Sudetenland – unvergessen! Mit unseren neuen Silbermünzen „Deutsche Ostgebiete“ erinnern wir an die alte Heimat und das Schicksal der Heimatvertriebenen. Hier bestellen.