Die Entdeckung einer Verteidigungsanlage mit Kloster in Chichester elektrisiert nicht nur die Fachwelt und wirft ein Schlaglicht auf die Eroberungsfeldzüge der Normannen, deren Geschichte wir in unserer Sonderausgabe „Die Germanen“ aufbereitet haben. Hier mehr erfahren.
Eine verschlafene Stadt im Süden Englands, idyllisch gelegen in der Grafschaft West Sussex, ist zum Schauplatz einer archäologischen Sensation avanciert. In der Nähe von Chichester, einer Stadt mit römerzeitlicher Vergangenheit, stießen Forscher bei Ausgrabungsarbeiten auf etwas, das zunächst wie eine einfache hölzerne Konstruktion aussah.
Doch was sie fanden, übertraf alle Erwartungen: Zum Vorschein kamen die massiven Fundamente eines Festungsturms – eine sogenannte Barbakane, ein vorgelagertes Verteidigungswerk aus dem 12. Jahrhundert. „Sehr aufregend“, findet James Kenny, einer der beteiligten Archäologen vom Chichester District Council. „Die zum Teil sehr gut erhaltenen Strukturen freizulegen, ist ein absoluter Glücksfall!“
Die Ausmaße dieser Entdeckung sind beeindruckend: Der Grundriss des Turms misst sechs mal zehn Meter, wie die Distriktverwaltung von Chichester mitteilte. Doch das ist noch nicht alles: Neben dem Turm fanden die Archäologen die Überreste eines Klosters, in dem einst Franziskanermönche lebten – verborgen unter meterdicken Erdschichten.
„Dieser Fund ist ein Meilenstein für unser Verständnis der normannischen Architektur und ihrer Präsenz in England“, so Helen Clarke, Historikerin von der University of Southampton, im Interview mit dem britischen Guardian. „Solche Barbakanen sind extrem selten, und die Größe dieses Bauwerks deutet auf eine zentrale Rolle in der Verteidigung der Region hin.“ Auch deutsche Medien berichten. „Ein Fenster in die Welt der Normannen“, schreibt die Süddeutsche Zeitung und meint, dass dieser Fund „die Geschichte des mittelalterlichen Englands greifbar macht“.

Krieger, Baumeister, Eroberer
Um die Bedeutung des Fundes zu verstehen, müssen wir zurückreisen – in eine Zeit voller Krieg, Eroberung und kühner Visionen. Die Normannen, Nachfahren nordischer Wikinger, die sich im 10. Jahrhundert in der Normandie im heutigen Frankreich niederließen, waren eine Streitmacht, die Europa veränderte.
„In der Schlacht von Hastings besiegte Wilhelm der Eroberer den englischen König Harald – Enkel von Knut dem Großen, der im 11. Jahrhundert ein nordisches Großreich errichtet hatte, das neben dem Stammland Dänemark auch Südschweden, Norwegen und England umfasste – und setzte sich auf den Königsthron“, heißt es dazu in COMPACT-Geschichte „Die Germanen“.
Doch die Normannen waren mehr als nur große Krieger – sie waren geniale Baumeister, brillante Strategen und Meister der Anpassung. Nach der Eroberung Englands errichteten sie mächtige Burgen, um ihre Herrschaft zu sichern. Sie hinterließen Festungen – Symbole ihrer unerschütterlichen Macht!
„Die Normannen revolutionierten die mittelalterliche Architektur“, betont Martin Biddle, Archäologe und emeritierter Professor an der University of Oxford, in einem Beitrag für die Fachzeitschrift Medieval Archaeology. „Ihre Burgen, wie die in Chichester, waren nicht nur Verteidigungsanlagen, sondern auch politische Statements: ‚Wir sind hier, und wir bleiben!‘“
Die Barbakane von Chichester war Teil dieser Planungen. Sie schützte die Hauptburg und bot den Verteidigern einen strategischen Vorteil gegen Angreifer. Doch warum wurde sie verlassen? Warum unter Erdschichten begraben? Waren es Kriege, wirtschaftlicher Niedergang oder gar eine plötzliche Katastrophe? Die Antworten lauern noch in den Tiefen der Ausgrabungsstätte.
Glaube und Geheimnisse
Doch auch die Entdeckung des verschütteten Franziskanerklosters in der Nähe des normannischen Verteidigungswerks ist von großer Bedeutung. Die Ruinen erzählen eine Geschichte von tiefem Glauben und gut gehüteten Geheimnissen. „Die Kombination aus militärischer Festung und klösterlicher Anlage ist faszinierend“, erklärt Sarah Kerr, Archäologin und Spezialistin für mittelalterliche Klöster, in einem Bericht der BBC. „Es könnte darauf hindeuten, dass die Normannen hier nicht nur militärisch, sondern auch spirituell ihre Präsenz festigen wollten.“

Die Historikerin Judith Bennett von der University of Cambridge schreibt in der Fachzeitschrift Antiquity: „Dieser Fund zeigt, wie die Normannen ihre Macht in den eroberten Gebieten etablierten. Die Größe der Barbakane und die Nähe zum Kloster deuten auf eine komplexe Infrastruktur hin, die weit über reine Verteidigung hinausgeht.“
Doch Fragen bleiben: Waren die Mönche Verbündete der normannischen Eroberer? Und warum wurde die gesamte Anlage aufgegeben? „Die gut erhaltenen Strukturen bieten uns eine einmalige Chance, diese Rätsel zu lösen“, so Archäologe Kenny vom vom Chichester District Council.
Rollos Eroberungsfeldzug
Die neuen Funde in Südengland werfen ein Schlaglicht auf die Geschichte der Normannen. Ursprünglich Wikinger aus Dänemark und Norwegen, fielen sie um 900 ins Westfrankenreich ein. Was dann an der Atlantikküste geschah, schildert der Historiker Arnulf Krause in seinem Buch „Die Welt der Wikinger“ (2006) auf Grundlage des zeitgenössischen Berichts eines Mönches wie folgt:
„Die Zahl der Schiffe wachse immer weiter, und der schier endlose Strom der Räuber schwelle ohne Unterlass an. Überall würden die Christen massakriert, seien sie Opfer von Brandschatzungen und Plünderungen. Sie verschonten nichts auf ihrem Wege und stießen nirgends auf Widerstand.“
Den weiteren Verlauf schildert COMPACT-Geschichte „Die Germanen“:
„Rollo forderte von Westfrankenkönig Karl III., genannt ‚der Einfältige‘, Siedlungsland, schloss mit ihm 911 einen Vertrag und bekam ein Gebiet zugesprochen, das später noch einmal deutlich erweitert werden konnte, nachdem die Wikingerkrieger von der Seine aus weiter westwärts ausgriffen, bis sie in den Besitz der Städte Caen und Bayeux sowie der gesamten Halbinsel Cotentin gekommen waren.
Das entspricht ungefähr dem Gebiet der heutigen Normandie – und trägt seinen Namen aufgrund der Neusiedler, die später Normannen genannt wurden. Der zum Herzog ernannte Rollo ließ sich im Gegenzug taufen, wie Fans der aus den Werner-Filmen bekannten norddeutschen Kultband Torfrock wissen. Sie widmeten dem Jarl (Anführer) der Nordmänner zwei ihrer bekanntesten Lieder, in denen – historisch korrekt – deutlich wird, dass der Norweger den Übertritt zum Christentum nicht aus innerer Überzeugung, sondern aus Pragmatismus vollzog.“
Was weiter geschah, schildert Mediävist Krause so: „Während sich die Normannen in all den Jahren gegen äußere Feinde wie französische Heere und Krieger zur Wehr setzten, bereiteten innere Fehden dem jungen Fürstentum größere Probleme. Die Herrscher sahen sich wie die Könige Skandinaviens dem energischen Widerstand einzelner Adliger gegenüber, die traditionell über beträchtliche Freiräume verfügten.“
Da solche aber auch von den führenden Männer in der Normandie beansprucht wurden, „kam es zu Konflikten, schließlich sogar zur Ermordung von Wilhelm Langschwert, des Sohnes und Nachfolgers von ‚Staatsgründer‘ Rollo. Erst danach, um die Mitte des 10. Jahrhunderts, beruhigten sich die Verhältnisse und führten zur eigentlichen Herausbildung der Normandie.“
Bleibendes Erbe
Nach der Eroberung Englands 1066 veränderten die Normannen das Land für immer. Sie führten das Feudalsystem ein, bauten Kathedralen wie die von Durham und Burgen wie den Tower of London. Ihre Architektur, geprägt von massiven Steinbauten und innovativen Verteidigungsanlagen wie der Barbakane von Chichester, prägte das mittelalterliche Europa.
In seinem Buch „The Normans and Empire“ schreibt der Historiker David Bates: „Die Normannen waren Meister darin, Macht und Kultur zu verbinden.“ Zur aktuellen Entdeckung in der Grafschaft West Sussex sagt er, diese zeige, „wie sie ihre Präsenz in den eroberten Gebieten festigten – militärisch, religiös und administrativ“.
Doch die große Zeit der Normannen ging vorbei. Ihre Burgen, einst Symbole der Stärke, wurden in späteren Jahrhunderten oft verlassen, zerstört oder überbaut. Der Fund in Chichester wirft ein neues Licht auf diese dynamische Epoche – und lässt uns ehrfurchtsvoll auf die alten Nordmänner blicken.
Unsere Ahnen, unser Erbe, unser Stolz: In COMPACT-Geschichte „Die Germanen“ zeichnen wir die Historie unserer Vorfahren nach – von den Kimbern und Teutonen über den Freiheitskampf des Arminius und die Völkerwanderung bis zu Sachsenkriegen und Wikingern. So glanzvoll und wahrhaftig wurden unsere Ahnen noch nie dargestellt. Hier bestellen.