Die Reichsidee blieb auch nach 1945 in Deutschland virulent. Künstler, Politiker und Historiker wollten mit ihr erstarrte Fronten aufbrechen und Alternativen zur Teilung Europas entwickeln.

    Es folgen Auszüge aus dem Artikel „Ein Traum, der niemals endet: Die Reichsidee nach 1945“, den Sie vollständig in COMPACT 10/2020 lesen können.

    _ von Sven Reuth

    Quedlinburg war zu DDR-Zeiten für die meisten Bundesbürger gefühlt weiter weg als Teneriffa oder die Toskana. Dabei lag die Stadt im Harzvorland nur zwei Dutzend Kilometer von der Zonengrenze entfernt. Hier hatte die deutsche Nationalgeschichte ihren Ausgang genommen, als im Jahr 919 Heinrich I. auf seiner Lieblingspfalz die Kunde von seiner hohen Kür zum König des Ostfrankenreiches überbracht wurde.

    Cover_COMPACT_Geschichte_
    Wir tauchen in deutsche Mythen ein: Diese prachtvolle Sonderausgabe ist unter compact-shop.de erhältlich. Foto: COMPACT

    Im Mai 1981 lenkte eine Gruppe junger Männer aus Thüringen ihre Schritte durch das verwinkelte Zentrum des Ortes mit seinen verfallenden Fachwerkhäusern hin zum Schlossberg, der wie eh und je gekrönt von der Stiftskirche über einem Meer spitzer Dächer und Türme thronte. Als sie am Ziel angekommen waren, erhob der Anführer seine Stimme und trug einen Essay vor, in dem er geradezu ungeheuerliche Dinge äußerte:

    Er beschwor – mitten im Arbeiter- und Bauernstaat und ausgerechnet an diesem symbolhaften Platz – ein «Holdes Reich», das «drei Elemente» in sich trage, «das Nationale, das Irrationale und das Aristokratische». Für den Lyriker Rolf Schilling, der diese Worte sprach, blieb der Auftritt nicht folgenlos: Die Stasi setzte zeitweise gleich zwei Spitzel auf ihn an.

    (…)

    Die Potsdam-Deutschen

    Diese Episode macht deutlich, dass die Reichsidee auch nach der totalen Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg unter allen politischen Systemen ein meist subkutanes, manchmal aber auch offen zutage tretendes Eigenleben führte. In der frühen Bundesrepublik war sie bis weit über die Mitte der 1950er Jahre hinaus sogar ein zentraler Bezugspunkt des politischen Lebens.

    Nicht die Kommunisten waren nämlich entgegen einer weitverbreiteten Auffassung Adenauers stärkster innenpolitischer Gegner bei dessen Projekt der Westbindung, sondern die sogenannten Potsdamdeutschen. Diese Bezeichnung verwendete Karlheinz Weißmann in seinem 1992 bei Ullstein erschienenen Buch Rückruf in die Geschichte  für jene noch im Kaiserreich sozialisierte und auf die preußische Idee hin orientierte Gruppe an Entscheidungsträgern, die nach Auffassung des Göttinger Historikers «die letzte gesamtdeutsche Generation im eigentlichen Sinne» bildete.

    Einer ihrer hervorragendsten Repräsentanten war der erste SPD-Nachkriegsvorsitzende Kurt Schumacher. Der «Löwe aus Kulm», wie er von vielen Zeitgenossen genannt wurde, beschimpfte Adenauer als «Kanzler der Alliierten» und sagte: «Wir wollen doch gerade ein starkes Reich.» Ähnliche Töne kamen auch von Martin Niemöller, einem der prominentesten Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, der kurz nach der Verabschiedung des Grundgesetzes feststellte, dieses sei «in Rom gezeugt und in Washington geboren».

    Hans-Joachim Schoeps wollte die Monarchie wiedereinführen.

    Den stärksten Aktivismus für eine Restauration der Hohenzollerndynastie entfaltete freilich der deutsch-jüdische Historiker Hans-Joachim Schoeps, der von Prinz Louis Ferdinand, dem Enkel Kaiser Wilhelms II., einmal als «Verkörperung der Zivilcourage» bezeichnet wurde. Noch lange nach der Machtergreifung Hitlers hatte sich der Sohn eines Berliner Oberstabsarztes für eine Zukunft seiner Glaubensgemeinschaft im Dritten Reich stark gemacht.

    Am 18. Januar 1951 rückte er plötzlich in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, als er nur fünf Jahre nach seiner Rückkehr aus dem schwedischen Exil im mit 1.500 Zuhörern überfüllten Audimax der Universität Erlangen zum 250. Geburtstag des preußischen Staates einen Vortrag hielt, der unter dem Titel «Die Ehre Preußens» als gedruckte Broschüre bald zehntausendfachen Absatz finden sollte.

    Mit Blick auf die Bundespräsidentenwahl 1954 plante er, im Rahmen eines Volksbundes für Monarchie genügend Unterstützer zu finden, um Prinz Louis Ferdinand per Akklamation zum neuen Amtsinhaber bestimmen zu lassen. Obwohl Schoeps sehr viele diskutable Argumente für die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie vorbringen konnte, gelang es ihm am Ende nicht, genügend Wahlmänner der Bundesversammlung auf seine Seite zu ziehen.

    (…)

    In Laufe der 1960er Jahre übernahm dann mit den sogenannten Flakhelfern über kurz oder lang die erste echte Nachkriegsgeneration das politische Ruder. Im Rückblick lässt sich feststellen, dass insbesondere die bürgerliche Rechte im Laufe dieses Prozesses auf alle weiter gespannten deutschlandpolitischen Ambitionen verzichtete und sich immer stärker dem Primat der NATO-Westbindung unterordnete.

    Ausgerechnet den angeblich vaterlandslosen Gesellen der 68er-APO blieb es vorbehalten, Alternativen zum Status quo zu formulieren. Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, beide Spitzenleute des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, legten schon im Juni 1967 einen Plan für eine schrittweise Überwindung der deutschen Zweistaatlichkeit vor: Ein von den Besatzungsmächten freies und basisdemokratisches Berlin sollte der «Transmissionsriemen» für die nationale Einheit werden.

    Verkünder des Holden Reiches: Der Dichter Rolf Schilling (r.) mit dem Jahrhundertschriftsteller Ernst Jünger. Foto: Black Wizard~dewiki, CC-BY-SA 4.0)

    (…)

    Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera, der mit seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984) zum Bestsellerautor werden sollte, eröffnete 1983 mit seinem im französischen Magazin Le Débat  (Die Debatte) publizierten Aufsatz über das gekidnappte Abendland eine Diskussion, die von den Machthabern des Ostblocks nie wieder gestoppt werden konnte. In dieser Szene wurde auch der heutige ungarische Staatspräsident Viktor Orban sozialisiert, der sich Mitte der 1980er Jahre die Haare lang wachsen ließ, wilde Untergrundmusik der Budapester Alternativrockszene hörte und Arthur Koestler und Franz Kafka las – damals Kultautoren für die oppositionelle Intelligenz jenseits des Eisernen Vorhangs.

    Ermuntert wurden die Widerständler von Otto von Habsburg, dem ältesten Sohn des letzten österreichischen Kaisers, der in seinem 1986 erschienenen Buch Die Reichsidee eindringlich auf den Föderalismus und die kulturelle Toleranz der k.u.k. Doppelmonarchie verwies. (Ende der Auszüge)

    Dieser Artikel erschien ungekürzt im COMPACT-Magazin 10/2020. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form  hier bestellen.

    Kommentare sind deaktiviert.