Die Ablehnung jedes Friedensprozesses machte Benjamin Netan-jahu zwei Mal zum Ministerpräsidenten von Israel. Im Amt sorgt er für Skandale, sozialen Verfall des Landes und Krieg. Selbst mit dem Hauptverbündeten USA liegt er längst über Kreuz.

    _ von Volkmar Johanssen

    Es war eine denkwürdige Szene. Im Mai 2011 weilt Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu im Weißen Haus. Die Kameras laufen: Gelegenheit für unverbindliche diplomatische Höflichkeiten. Doch der Gast aus Jerusalem mimt ungeniert den Oberlehrer. «Präsident Barack Obama saß teilnahmslos in seinem Oval Office, als ihn der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu (…) langatmig und zuweilen herablassend über die jüdische Geschichte, die Niedertracht der Araber und die existenzielle Bedrohung Israels belehrte», beschrieb der Publizist Jeffrey Goldberg bei Bloomberg, wie Netanjahu jedwede Contenance verlor.

    Netanjahu war stolz auf das Ende des Oslo-Friedensprozesses.

    Seit 31. März 2009 ist der heute 63-jährige Ne-tanjahu erneut Regierungschef. Bereits zwischen Mai 1996 und Mai 1999 bekleidete er das höchste Regierungsamt, war ab 2002 für ein Jahr Außen-, dann bis 2005 Finanzminister, bis er aus Protest gegen die Räu-mung des Gazastreifens durch Premier Ariel Scharon zurücktrat. Keine ungewöhnliche Kabinettskarriere in der israelischen Politik. Längst wirkt Bibi, wie Freund und Feind ihn nennen, zunehmend von der Realität seines Landes entfernt. Seine Sozialpolitik — explodie-rende Mieten, Sparorgien im Gesundheits- und Sozialsystem — sorgten 2011 für die mit 450.000 Teilnehmern größten Proteste seit Jahrzehnten. Netanjahu ficht es nicht an.

    Kind des Zionismus

    Netanjahu steht für einen Generationswechsel: Als erster Ministerpräsident wurde er nach der Staatsgründung geboren. Netanjahus direkter Vorgänger in den 1990er Jahren, Schimop Peres, stammt aus Polen und kämpfte nach seiner Auswanderung nach Palästina ab 1947 in der jüdischen Miliz Hagana. Der mehrfache Premier der 1980er und 1990er Jahre, Jitzchak Schamir, soll im deutsch besetzten Polen vom Deportationszug gesprungen sein. In Palästina war er Mitglied der Stern-Bande, die im Kampf gegen die englische Mandatsmacht eine Zusammenarbeit mit den Natio-nalsozialisten sondierte. Diese Männer mochten fanatische Zionisten gewesen sein — doch zugleich war ihnen bewusst, dass der jüdische Staat nur eine von mehreren historischen Möglichkeiten darstellt. Netanjahu sog wie Muttermilch das unhinterfragte Selbstverständnis des erfolgreichen Siedler- und Militärstaates auf — trotz Rufwachsens hauptsächlich in den USA. Sein Vater Benzion Netanjahu war dort Sekretär des zionistischen Hardliners Wladimir Zeev Jabotinsky, der jeglichen Kompromiss mit den Arabern ablehnte. Vater Netanjahu bekämpfte den UN-Teilungsplan vehement, der 1948 zur Gründung des jüdischen Staates führte — er und Jabotinsky wollten Eretz Israel, ein Großisrael ohne Araber vom Mittelmeer bis mindestens zum Jordan. Als die Familie nach Israel zurückkehrte, lehnte selbst der Gründer der Likud-Partei, Menachem Begin, die Zusammenarbeit mit dem alten Netanjahu ab — der war ihm zu extremistisch.

    Sie schauen sich schon lange nicht mehr an: Barack Obama und Benjamin Netanjahu im Weißen Haus. Foto: Pete Souza, White House Photo

    In diesem Geist wuchs der Sohn Benjamin auf. Den Gründungsmythos des Staates hinterfragt er nicht. «Jakob und seine zwölf Söhne durchstreiften die gleichen Hügel von Judäa und Samaria vor 4.000 Jahren und es gibt seither eine kontinuierliche jüdische Präsenz in diesem Land», belehrt er im September 2011 die UN-Vollversammlung. Krieg als politisches Argument erlebt Netanjahu bereits als junger Mann. In der Spezialeinheit Sajeret Matkal steigt er zum Hauptmann auf. «Frieden wird mit Stärke gekauft, nicht mit Schwäche oder einseitigen Rückzügen», sagt er Jahrzehnte später. Ein einschneidendes Erlebnis war der Tod von Bruder Jonathan, gefallen 1976 als Kommandeur der gleichen Elitetruppe bei der Befreiung einer entführten Air-France-Maschine am 4. Juli 1976 im ugandischen Entebbe.

    Als Parlamentsabgeordneter für den rechten Likud ab 1988 und später als Vize-Außenminister profiliert sich Netanjahu früh als Mann der Siedler — jener teils religiös, teils politisch motivierten Erbauer jüdischer Ortschaften in den illegal besetzten Gebieten, die bis heute massiv jeden Friedensprozess torpedieren. Fernsehbilder der 1990er Jahre zeigen ihn auf den Schultern von Siedlern. «Bibi, Bibi Netanjahu» skandiert eine fanatisierte Menge, als trüge sie ihren Heros. Im Mai 1999 gewinnt Netanjahu die Direktwahl zum Premier mit 50,5 Prozent.

    «Lügner, Hurensohn»

    Netanjahu ist selbst bei seinen Unterstützern unbeliebt. Eine Zitatenlese:

    • «Tatsache ist, dass er gegen die Prinzipien des Likud arbeitet. Er hat gar keine Prinzipien. Ich sehe keine Prinzipien.» (Jitzchak Schamir, ehemaliger Premier-minister, in einem Interview mit der Tageszeitung Maariv, 1997)
    • «Dieser Hurensohn will doch gar nicht verhandeln.» (Bill Clinton, Spiegel, 22.6.2009)
    • Nicolas Sarkozy: «Ich kann Netanjahu nicht ertragen, er ist ein Lügner.» Barack Obama: «Du hast ihn satt? Ich habe jeden Tag mit ihm zu tun.» (Heimlich aufgenommene Privatunterhal-tung auf einem G20-Gipfel, The Daily Mail, 9.11.2012)
    • «Wie können Sie es wagen! Sie sind derjenige, der uns enttäuscht hat. Sie haben keinen einzigen Schritt getan, um den Friedensprozess voranzubringen.» (Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Telefongespräch mit Netanjahu, Guardian, 25.2.2011)
    • «Wer zum Teufel denkt er, wer er ist? Wer ist denn die verfickte Supermacht hier?» (US-Präsident Bill Clinton 1996, BBC, 2.3.2009)

    Damit war der vom ermordeten Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und PLO-Chef Yassir Arafat 1994 eingeleitete Friedensprozess praktisch am Ende. Zwar handelt Netanjahu widerwillig das nie umgesetzte Wye-Abkommen aus, welches die Übergabe von weiteren 27 Prozent des Westjordanlandes an die palästinensische Autonomiebehörde vorsieht… Zugleich hebt er den Baustopp für Siedlungen auf. 2001 brüstet sich Netanjahu während eines Besuchs in der Siedlung Ofra im Westjordanland, den Oslo-Friedensprozess gestoppt zu haben. «Der Mistkerl will kein Abkommen», sagt nach Angaben des Publizisten Erich Follath der frühere US-Präsident Bill Clinton. Netanjahus Weltbild kennt nur Schwarz und Weiß. «Wenn Israel die Waffen niederlegt, würde es kein Israel mehr geben. Wenn die Araber die Waffen niederlegen würden, würde es keinen Krieg mehr geben», fordert er 2006 im Parlament die willenlose Unterwerfung der Palästinenser. Nach einer Reihe von Affären, insbesondere Korruptionsvorwürfen, verliert er 1999 sein Amt mit 43,9 Prozent an den Sozialdemokraten Ehud Barak. Zehn Jahre später ist Netanjahu wieder da. Im März 2009 zimmert er eine Patchwork-Koalition, die von der Einwandererpartei Jisra’el Beitenu des Rassisten Avigdor Lieberman über die orthodoxe Schas-Partei bis zu den Sozialdemokraten des um seinen Ministersessel bangenden Barak reicht.

    Krieg mit Iran

    Zentrales Ziel von Netanjahus zweiter Amtszeit ist ein Krieg gegen den Iran, dessen mutmaßliches Atomprogramm er zur endzeitlichen Bedrohung stilisiert. Doch die kriegsmüden USA setzen auf Verhandlungen und bremsen Israel aus — für Netanjahu eine Todsünde. Nach der Einigung der fünf ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat und Deutschlands sowie des Iran in der Atomfrage verweigert Netanjahu US-Außenminister John Kerry im November 2013 auf dem Tel Aviver Flughafen den Handschlag. Ein Pressetermin wird kurzfristig abgesagt — nach einem verbalen Aufein-anderprallen beider Politiker. Zur Kriegslust kommen Skandale. 2012 verklagt eine Haushälterin Ehefrau Sara Netanjahu. Diese soll ihr den Mindestlohn und das Urlaubsgeld vorenthalten, «sie öffentlich schikaniert, gedemütigt und sie als Person und als Arbeitnehmerin seit Jahren systematisch und unbarmherzig erniedrigt haben». Über den großen Einfluss Sara Netanjahus, deren Wutausbrüche und Anmaßungen bereits in den 1990er Jahren Thema des Boulevardklatsches waren, auf die israelische Politik wurde wiederholt spekuliert. Die Wahlen am 22. Januar 2013 geraten zum Debakel für Netanjahu. Sein Likud-Block sackt um zehn auf 23 Prozent in den Keller. Doch noch einmal zimmert sich das politische Stehaufmännchen eine Koalition zusammen. Ein gutes Jahr später folgt sie ihm in den Gazakrieg.

    _ Volkmar Johanssen schrieb in COMPACT 712013 über die doppelte Staatsbürgerschaft.

    Dieser Artikel erschien im COMPACT-Magazin 09/2014. Diese Ausgabe können Sie in digitaler oder gedruckter Form hier bestellen.

     

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