Ist China die kommende Supermacht – oder ein Koloss auf tönernen Füßen? Dazu hat Peter Steinborn von METAPOL den Historiker und Geopolitik-Experten Dominik Schwarzenberger befragt. Nachfolgend veröffentlichen den dritten Teil des Gesprächs, das in drei Teile untergliedert ist. Über chinesisch-globalistische Allianzen klären wir auf in COMPACT-Spezial Geheime Mächte – Great Reset und Neue Weltordnung. Hier mehr erfahren.

    _ Dominik Schwarzenberger im Gespräch mit Peter Steinborn

    Teil 1 des Interviews finden Sie hier, Teil 2 können Sie hier lesen.

    Die Neue Seidenstraße ist das gigantischste Projekt des Jahrhunderts, wenn nicht gar des Jahrtausends. Sollte China hierbei Erfolg haben, dürfte seine wirtschaftliche Vorreiterrolle kaum in Frage gestellt werden können. Gemäß der Heartland Theory (Mackinder) würde das Reich der Mitte damit die Welt beherrschen. Wieso machen bei diesem Projekt so viele Länder mit, die eigentlich auch in Konkurrenz mit der Regionalmacht China stehen? Zum Beispiel unterstützt Russland dieses Projekt, obwohl der Erfolg den Chinesen zur Supermacht verhelfen könnte. Wirkt sich das geopolitisch nicht kontraproduktiv für Russland aus oder hat Putin schon gar keine andere Wahl mehr?

    An die Neue Seidenstraße glaube ich nicht. Peking strebt dieses Projekt deshalb an, weil es von fragilen Handelsrouten zur See umgeben ist. Die interessierten Teilnehmerstaaten haben einfach zu große Erwartungen. Es kann unmöglich nur Gewinner geben. An eine Umsetzung glaube ich deshalb nicht, weil solche Staaten untereinander rivalisieren, wankelmütig und labil sind.


    Einige Beispiele: Peking hegt Begehrlichkeiten in Sibirien, Zentralasien und der Mongolei. Russland wird zum Juniorpartner und Rohstofflieferanten reduziert. Trotz militärischer Kooperation mit Moskau mausert sich China zum von Russland unabhängigen Rüstungsproduzenten. Dann haben wir die völlig unberechenbaren Räume Zentralasien und Balkan, die ethnisch und religiös vor Bürgerkriegen beziehungsweise zwischenstaatlichen Kriegen stehen und eine schwankende Außenpolitik betreiben.

    Momentan engagiert sich Peking in Afrika, wo es vom Westen besonders gefürchtet wurde. Inzwischen stellt sich Ernüchterung ein: Afrika entwickelt sich zum Fass ohne Boden, nach Vorschusslorbeeren für das kolonial unbelastete, politisch unaufdringliche China erleben wir eine Welle antichinesischer Ressentiments. Das kommt vom offenen chinesischen Rassismus, der Ausbeutung der Einheimischen, die nicht ansatzweise human erfolgt, und der zunehmenden Einwanderung chinesischer Vertragsarbeiter, die mit ihrem mäßigen Lohn großzügig in Afrika leben können.

    Afrika sieht sich wieder einmal zum Rohstofflieferanten degradiert – und als Absatzgebiet für chinesischen Ramsch und Billigtextilien, die einheimische Textilmanufakturen verdrängen. Eine Niederlage musste das Reich der Mitte auch schon hinnehmen: 2011 wurde der Failed State Südsudan unabhängig. Die Chinesen paktierten mit dem vormals geeinten Sudan, einem sogenannten Schurkenstaat, der im Süden über wertvolle Ölreserven verfügte.

    Der schwarze Kontinent: In Afrika tritt China nicht nur als wirtschaftlicher Kooperationspartner, sondern auch als neuer Kolonialherr auf.

    Bisher war es afrikanische wie westliche Doktrin, keine neuen Staaten in Afrika anzuerkennen, um keine Präzedenzfälle zu schaffen. Unter Washingtons Druck wurde der zweifelhafte Staat Südsudan dann doch in die Unabhängigkeit entlassen, offiziell natürlich um den grausamen Sezessionskrieg zu beenden, in Wirklichkeit, um Peking vom Öl fernzuhalten.

    Die Neue Seidenstraße bleibt Utopie und scheitert letztlich an der Heterogenität der Teilnehmerstaaten – genau wie die ersehnte alternative Entwicklungsbank der BRICS-Staaten.

    In einem früheren Gespräch erwähnten Sie einmal, dass China nun das durchmache, was der Westen schon hinter sich habe, und das das mit vielen Verwerfungen gekoppelt sei. Können Sie uns das einmal näher erläutern?

    Zu Beginn unseres Gesprächs sagte ich, China habe seine Seele verloren, das Alte China existiert nur noch in Nischen. Nicht nur China, sondern alle Kontinente durchleben das in unterschiedlicher Intensität im Zeitraffer, was Europa und die weißen Kolonien in 200 Jahren erschütterte: einen fundamentalen sozioökonomischen Wandel.

    In Vorträgen wie Artikeln beschrieb ich mehrfach diesen globalen Trend, von dem es keine Ausnahmen gibt. Dazu zählen Geburtenrückgang, auch wenn das Bevölkerungswachstum noch weitergehen kann, Überalterung, Landflucht und Urbanisierung, Säkularisierung, Erschütterung identitärer Gewissheiten und traditioneller Werte, Individualisierung, ein Pluralismus an Lebensstilen und so weiter. Aufgrund der Größenverhältnisse und des Tempos wirken sich solche Erosionen auf anderen Kontinenten viel stärker aus.

    Unsere eurozentrische Sicht verfälscht diese Entwicklung: Wir vergleichen uns mit anderen Kontinenten. Stattdessen sollten wir die heutigen Länder China, Kongo, Grönland und so weiter mit denen von 1950, 1900 et cetera vergleichen. In Chinas Megastädten findet ein Kulturkampf statt, auch dort gibt es Emanzipationsstreben sexueller Sondergruppen, Feminismus oder Forderungen nach Genderisierung – oder wenigstens wird das diskutiert.

    LGBT-Kult: Auch China gibt ist nicht vor Dekadenz westlichen Typs gefeit. Ansätze Foto: LIOX | Shutterstock.com

    Der liberal-kapitalistische Westen hat die Menschheit geistig erobert, aber die Gegenkräfte erstarken ebenso. Aufgrund dieser Polarisierung, begrenzter Ressourcen und Überbevölkerung stehen noch unsere europäischen Bruderkriege bevor – auch die Selbstzerfleischung Asiens, Lateinamerikas und Afrikas. Ich erwarte weniger zwischenstaatliche Konflikte als Bürgerkriege. So manche Rechnungen sind nicht beglichen.

    Was speziell die Volksrepublik angeht, so erwarte ich ein ähnliches Szenario wie zwischen 1911, dem Revolutionsjahr, und 1949, dem Sieg Maos. Diese Zeit war von regionalen Bürgerkriegen zwischen Kommunisten und Nationalisten geprägt, von erfolgreichen Sezessionsbestrebungen einzelner Regionen und Ethnien sowie regionalen Kriegsherren. Bemerkenswert waren zwei Phänomene: Die junge Republik bestand noch als Rahmen mit eigener Währung, diplomatischen Außenvertretungen und so weiter fort, während im Inneren alles im Umbruch war. Bei einem solchen Riesenstaat waren natürlich auch ganze Landstriche nicht von Bürgerkrieg und Chaos betroffen, und so manche Region wurde unfreiwillig in die Autonomie getrieben.

    Immer wenn ein regionales Machtvakuum auftrat, füllte sich dieses mit lokalen unpolitischen Kriegsherren und Großgrundbesitzern, die die seltsamsten Allianzen eingingen. Das Riesenreich implodierte also räumlich wie zeitlich sehr unterschiedlich und phasenweise, was im kleinräumigen, überschaubaren Europa so nicht passiert wäre. Das zweite Phänomen besteht in der regional sehr unterschiedlichen Penetrierung durch Japan, die Sowjetunion und Großbritannien, die separatistische Bestrebungen unterstützten. Japan hätte mit mehr Zeit mehrere Marionettenstaaten à la Mandschukuo schaffen können.

    Am Platz des Himmlischen Friedens ist Mao bis heute präsent. Foto: Ekrem Canli, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons

    Übrigens waren solche Szenarien in Chinas Geschichte die Regel und mit Maos Sieg keinesfalls beendet. Gerade Maos irrsinnige Programme, der „Große Sprung nach vorn“ und die „Kulturrevolution“, bargen Bürgerkriegspotenzial, phasenweise entglitt Peking das Ruder.

    Sie sind ja ein richtiger Untergangsprophet!

    Ja, ich kann es nicht leugnen. Meine Theorie des Mangels zwingt mich dazu. Es ist kein Wunschdenken, denn antichinesische Ressentiments einer sogenannten Gelben Gefahr sind mir fremd. Allerdings gibt es keinen Tag X, an dem alles im Chaos und Krieg versinkt, sondern verschiedene Phasen wechseln sich ab.

    China existiert als Zivilisation seit Jahrtausenden. Hier kann tatsächlich von einem Reich gesprochen werden. Die Europäer dachten über Jahrhunderte, der Nabel der Welt zu sein. Auch heute noch verlieren sie sich in ihrem Flickenteppich der eurasischen Halbinsel. Wenn, dann scheint der Blick nur gen Westen zu reichen. Hat Europa hier eine Entwicklung verschlafen?

    Schwierig zu urteilen. Als Ethnopluralist sehe ich die Erde mit ihrer völkischen und kulturellen Vielfalt als Ganzheit, daher ist für mich alles erhaltenswert. Die europäischen Staaten sollten sich um einen Ausgleich zwischen Eigenem und Fremdem, in jedem Fall aber Achtung gegenüber anderen, bemühen. Isolation wie blinde Nachahmung sind Gift. Die chinesische Zivilisation war schon alt, als das antike Griechenland noch jung war. Demut schadet nicht.

    Schwer wiegen die Narrative „Gelbe Gefahr“ und „Mongolensturm“. Asien war und ist immer noch gleichermaßen spirituelle Verheißung und Nemesis, dabei war Europa auch immer eine Gefahr für andere – und für sich selbst. Einige europäische Länder und Völker litten lange an einer Hybris, das kann nie gut enden. Zwei unnötige Bruderkriege waren die logische Folge. Diese Schwächung nutzten die eurasischen Russen, US-Amerikaner und die antikolonialen Bewegungen anderer Kontinente. Alles hausgemacht.

    Biomedizinisches Labor in China: Trotz technischer Innovationen hat es der rote Riese schwer, an die Weltspitze zu gelangen. Foto: Tom Robertson | Shutterstock.com

    Nach 1900 gab es unter einigen westeuropäischen Intellektuellen sogar die Erkenntnis, unser Säkularismus und Materialismus zerstöre das menschliche Leben. Sehr gut! Aber diese Intellektuellen orientierten sich dann kritiklos nach China, Indien und manchmal auch am Islam. Das war das andere Extrem, wenn auch sympathischer. Wir Europäer müssen lernen, unsere eigenen geistigen Quellen freizulegen, denn man kann sich immer nur selbst helfen. Dann werden wir merken, dass das attraktive traditionale asiatische Denken, nur in anderer Form, unserem ursprünglichen Denken doch recht ähnlich ist.

    Wir sollten China, Indien und auch die USA gleichermaßen beachten und uns keinesfalls ein Feindbild China oder Islam einreden lassen. China als neuer Hegemon ist eine Sackgasse, es hat in dieser Form keine Zukunft. Unser Feindbild müssen die angeblich westlichen Werte sein, denen es global gemeinsam zu widerstehen gilt. Der antiweiße Rassismus unserer Tage speist sich eben auch aus dem Umstand, Europa habe die Seelen seiner kolonialisierten Völker vergiftet. Die haben sich aber auch manchmal ganz gern vergiften lassen.

    Wo sehen Sie Europa in den nächsten 20 Jahren?

    Zeitlich kann ich keine Prognosen abgeben. Ich sehe zunächst ein demografisch, wirtschaftlich und machtpolitisch arg geschwächtes Europa. Die EU hat keine Zukunft. Ich erwarte dagegen ein sich aus schweren Krisen und Kämpfen regenerierendes Europa. Ohne Karfreitag keine Auferstehung! Für sehr wahrscheinlich halte ich ein Europa der Räume, denn die momentane Staatenwelt ist den globalen Herausforderungen nicht gewachsen – und ein vereintes Europa ist noch nicht reif.

    Sollte sich Europa mehr gen Osten orientieren? Ist China ein besserer Leviathan für uns als die USA?

    Diese Frage stellt sich nicht, da die momentanen Systeme Westeuropas betont antichinesisch ausgerichtet sind. Für manche Staaten Osteuropas und des Balkans kann das jetzt durchaus sinnvoll sein. Da ich, wie schon gesagt, allenfalls einen temporär begrenzten chinesischen Hegemon erwarte, gibt es langfristig diese Option gar nicht. China wäre insofern erträglicher, als dass es noch keinen Ideologieexport betreibt und sich nicht in innere Angelegenheiten einmischt.

    Das Corona-Virus beherrscht seit nunmehr fast einem Jahr die Öffentlichkeit und offenbar auch das komplette Leben von uns allen. Während die gesamte Welt im Lockdown ist – mit allen negativen Folgen, die sich daraus ergeben – , haben die Chinesen das Virus, die Ausbreitung sowie seine Folgen weitestgehend in den Griff bekommen. Die chinesische Statistikbehörde berichtete erst kürzlich, dass China wohl als eine der wenigen großen Volkswirtschaften gewachsen ist. Man rechnet dort für 2021 mit einem Plus von circa zwei Prozent. Zwar sind die Zahlen aus China immer mit Vorsicht zu genießen, aber insgesamt wirkt das Reich der Mitte als wäre es längst über dem Berg, während uns der große Anstieg – oder besser der gewaltige Einbruch – noch bevorsteht. Hat der Zentralismus hier über die dezentral gesteuerten liberalen Demokratien gesiegt?

    Wie Sie selber eingestehen, sind solche Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Sollte das Virus so sein, wie es uns die heimische Propaganda predigt, kann China bei solchen Menschenmassen und Ballungsräumen nicht über den Berg sein. Darüber kann ich momentan nicht urteilen.

    Lockdown in China: Dystopische Szenerie in Shanghai. Foto: Robert Way I Shutterstock.com

    Das Problem Westeuropas liegt in der Planlosigkeit und Arroganz der Herrschenden, nicht im Dezentralen. Schon Frankreich muss sich nicht mit profilneurotischen Ministerpräsidenten rumärgern.

    Zu China: Das Land ist theoretisch so zentralistisch, dass es praktisch dezentral, ja, sogar föderalistisch arbeitet. Warum? Bei Staaten kontinentalen Ausmaßes wie China, Russland, Indien, USA oder Brasilien muss jeder Zentralismus scheitern. Die geografischen und demografischen Ausmaße sind einfach zu gigantisch. Im Falle Pekings wurden die Kommunikationswege der Kaiserzeit übernommen. Von der Regierung bis hinunter auf die unterste Verwaltungsebene.

    Dieser extreme Zentralismus verkehrt sich aber ins Gegenteil, weil niemand die Wirksamkeit dieser Kanäle überprüfen kann. Es fehlen die für uns typischen Kommunikationswege zwischen gleichen Ebenen. Gerade das machte den Hitler-Staat so effektiv wie effizient, mehrere Vertreter der gleichen Ebene wurden mit den gleichen Aufgaben betraut und wetteiferten untereinander. In China ist die Regierung vom Wohlwollen der Regionen und Provinzen abhängig: „Die Berge sind hoch und der Kaiser ist weit.“ Ich erinnere an meine vorherigen Ausführungen zu den widerspenstigen Regionen.

    Europa galt bisher immer als der Hort des faustischen Menschen, der nach immer mehr Wissen und Macht strebt. Nun scheinen diese Zeiten weitestgehend der Vergangenheit anzugehören – und China nimmt diesen Platz ein. Würden Sie diese Entwicklung als faustisch bezeichnen? Und wenn ja, wie kam es dazu, dass diese eigentlich einmal als konservativ sowie zurückhaltend geltende Kultur eine solche Transformation durchmachte?

    Zunächst: Europa und auch Nordamerika sind immer noch faustisch und missionarisch, heute heißt ihre Heilsbotschaft Transhumanismus – eine gotteslästerliche Hybris.

    Ja, ich sehe China inzwischen als faustisch an. Die Veranlagung dazu lag im praktischen und diesseitigen Charakter von Konfuzianismus, Taoismus und sinisiertem Volksbuddhismus. Über Jahrtausende dominierte allerdings eine fatalistische Haltung, wie wir sie zeitweise in den christlich-orthodoxen Ländern Osteuropas und auf dem Balkan finden: Erfindungen wurden zufällig gemacht und nicht weiterentwickelt oder blieben unter Verwahrung. Ein Beispiel mag das Schwarzpulver sein: Es diente kultischen Zwecken, nicht als Sprengstoff für Krieg und Bergbau, obwohl man dessen Wirkung wohl kannte.

    Erstens war das konfuzianische China pazifistisch und zweitens wolle niemand so brachial in die Berge einbrechen. Denn dort lebten Geister und Berge, die zum Weltganzen gehören wie der Mensch selbst. Das hat sich ja grundlegend geändert. Das Raumfahrtprogramm zeugt davon.

    Konfuzius: Seine Lehre war pazifistisch. Noch heute wirkt dies in China nach. Foto: XiXinXing / Shutterstock.com

    Die Wende zum Faustischen erkenne ich in jenen Intellektuellen des späten 19. Jahrhunderts, die die Lehre Darwins gesellschaftlich interpretierten. Gerade der Darwinismus bot die Erklärung für Chinas Rückständigkeit und Schwäche. Die ursprünglich von Studenten getragene Bewegung des 4. Juni von 1919 gegen den Versailler Vertrag beinhaltete Forderungen, sogenannte westliche Werte einzuführen und den verkrusteten Konfuzianismus zu zertrümmern.

    Mao übernahm die sehr einseitig ausgelegte Lehre Darwins: Alles ist Kampf: die Geschichte Klassenkampf, Technisierung ist Kampf gegen Naturgewalten und so weiter. Daher auch der Experimentiercharakter seiner Politik. Zudem kommt noch der Glaube an die Formbarkeit des Menschen mit dem unvermeidlichen „Neuen Menschen“. Letzterer wohnt allerdings in milder Form auch dem Konfuzianismus inne.

    In den Ballungsgebieten des ostasiatischen Landes gibt es mittlerweile Zustände, die dem dystopischen Roman von Goerge Orwell hätten als Vorlage dienen können: Ein Sozialpunktesystem, regelmäßige Gesichtsscans, zum Beispiel, wenn man eine Mobilfunknummer haben will, und kaum ein Ort, an dem man unbeobachtet vom Staat agieren kann. Schauen wir uns die Freiheitseinschränkungen in der westlichen Welt wegen Corona an: Bekommen wir chinesische Verhältnisse? Wie beobachten Sie diese Entwicklung? Lassen sich solche gravierenden Einschränkungen in einem Land durchsetzen, das bis vor Kurzem noch auf dem gesellschaftlichen Narrativ der freiheitlichen Demokratie basierte?

    Solche Maßnahmen zur totalen Überwachung und Erfassung sind in der Tat zwar erschreckend, doch sehe ich sie noch gelassen. In Europa und besonders Deutschland werden sie die Völker viel mehr plagen als in China. Das liegt an den Größenverhältnissen von Raum und Bevölkerung. Ob das immer schlampiger agierende Deutschland das überhaupt hinbekommt, bleibt offen. Man denke nur an den Flughafen Berlin-Brandenburg und ähnliches Versagen.

    Schauen wir nach China: Da gibt es relativierende Aspekte, die auch auf uns zutreffen beziehungsweise zutreffen werden. Das Sozialkreditsystem existiert momentan auf einem niedrigen Niveau und nur in den Ballungsgebieten. Es funktioniert nur in Wohlstandszeiten und Zeiten des sozialen Friedens. Da gibt es nur wenige offen auftretende Nonkonformisten, und das wäre somit gar nicht nötig. Sobald die schon aufgezählten sozioökonomischen Auflösungsprozesse zunehmen, steigt deren Zahl. Wer soll all die Menschen erfassen? Wer soll die Daten auswerten? Wie soll schnell reagiert werden?

    Werden die Ursachen für die Mangelerscheinungen nicht gelöst, wächst und erneuert sich das Heer der sich zwangsläufig radikalisierenden Unzufriedenen. Keine Repression kann das stoppen. Ich erinnere an die erwähnten jährlichen 90.000 noch regional begrenzten Massenproteste, die meist mit Geld befriedet werden. Ich erinnere an meine Ausführungen zum zentralistischen Schlendrian, an die zunehmend regionalistische, ideologische und personalistische Fraktionierung von Partei und Verwaltung, die wachsenden soziale Desintegration, Korruption und Cliquenwirtschaft.

    Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang den für uns ungewohnten Klartext regionaler Zeitungen, deren unzählige Redaktionen von der staatlichen Zensur nicht erfasst werden können. Für solch einen Aufwand fehlen die Ressourcen. China ist immer noch ein Zeitungsland, beliebteste Sensationsthemen sind Korruption und politische Skandale. Aber noch beschränkt sich das aufs Lokale.

    Die Frage ist, was China eigentlich zusammen und die Bevölkerung ruhig hält. Es ist, wie bei uns, der immer noch herrschende Wohlstand, der Zweifel, dieser könne einmal schwinden und der Rückzug in die familiäre Festung, was oppositionelles Organisieren erschwert und die Solidarität mit Nonkonformisten verhindert. Aber gerade die Bande mit der Großfamilie lösen sich ja durch Wanderung und Ein-Kind-Politik auf.

    Die USA und China: Zwei Riesenreiche, die dem Untergang geweiht sind?

    Der wichtigste Grund für Chinas Scheinstabilität liegt – wie bei uns – in der Angst vor einer ungewissen, chaotischen Zukunft. Die Opposition ist ideologisch und strategisch zerstritten. Wie soll China aussehen? Soll man mit der KP kooperieren? Es ist die chinesische Urangst vor Rebellion, Bürgerkrieg, Sezession und ausländischer Intervention – also der chinesische Normalfall seit Jahrtausenden. Das jetzige Regime nutzt die Angst und gebärdet sich nationalistisch. Mit den Uiguren hat es schon den ersten inneren Feind entlarvt, daher auch die harten Repressionen.

    Also: Die Beständigkeit eines Systems hängt gerade nicht von Repression und totaler Überwachung ab – das sind schon Rückzugsgefechte –, sondern vom Entfremdungsgrad zur Volksmasse, von Brüchen innerhalb der herrschenden Klasse, vom Fortschreiten sozioökonomischer Verwerfungen, von der Attraktivität politischer Alternativen und der Tauglichkeit des sozialen Kitts.

    Wo steht Eurasien im Jahr 2035? Welche Rolle werden die USA dann noch spielen – und wo steht dann das Reich der Mitte? Sehen Sie vielleicht ganz andere unerwartete geopolitische Akteure, die von der Politikwissenschaft übersehen werden?

    Wie gesagt, zeitlich festlegen lässt sich nichts. Berücksichtige ich die angesprochene Polarisierung plus die sozioökonomischen Trends aller Staaten, dann erwarte ich eine Neugestaltung der Staatenwelt. Die heutigen zombiehaften Failed States, die nur von mächtigen Ländern und manchmal der UNO erhalten werden, müssen zerfallen. Unsere gegenwärtige Weltordnung wurde vom Westen geschaffen und von der UNO sowie Regionalorganisationen bewahrt.

    Der Rückzug des Westens stellt auch dessen Ordnung infrage. Das hinterlassene Machtvakuum wird von keiner neuen Supermacht gefüllt, sondern von mehreren Regionalmächten, die jedoch ebenso im Inneren erschüttert werden. Es gibt zur Zeit keinen Modellstaat, der als Alternative dienen kann, wie früher die Sowjetunion, die Roosevelt-USA, Hitler-Deutschland oder der islamisch-revolutionäre Iran.

    Anders als die Welt nach der Wirtschaftskrise von 1929, als die meisten Staaten und Kolonien nur wirtschaftlich und ideologisch zeitversetzt erschüttert wurden, kommen heute die sozialen Verwerfungen und die extreme Polarisierung hinzu. So eine Situation ist neu. Ausnahmslos alle Staaten werden folglich in ihrer Entwicklung zurückgeworfen. So eine globale Paralyse verläuft natürlich nicht synchron und mit gleicher Intensität. Von einer Art Apokalypse kann keine Rede sein. Phasen von Chaos, Regeneration und Neuordnung lösen sich ab. Am Ende steht wieder keine gerechte ewige Weltordnung. Der Mensch bleibt der alte, und das Geschichtsrad dreht sich weiter. Alles wiederholt sich, nur die Namen ändern sich.


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    Die USA implodieren und hinterlassen mehrere Nachfolgestaaten. China kann sich zu einem Commonwealth chinesischer Staaten mausern, das wenigstens seinen Großraum in Ordnung hält. Indien, Russland und Brasilien haben mit analogen inneren Problemen zu kämpfen und werden bestenfalls zu regionalen Ordnungsmächten oder zerbrechen – vielleicht auch nur vorübergehend.

    Ich glaube nicht an die Theorie, wonach das heutige China anstelle der USA als Vollstrecker einer globalen Arbeitsteilung unter Führung der Big-Tech-Konzerne nach dem Great Reset werden soll. Ich fürchte eher, solche Konzerne und der „Geist von Davos“ füllen vorübergehend das globale Machtvakuum nach Rückbildung der aktuellen Staatenwelt. Aber auch die Klaus Schwabs sind nur Menschen, deren Ordnung vergeht.

    _ Dominik Schwarzenberger ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er forscht auf den Gebieten der Ethnologie, Religionswissenschaft und zu allgemeinen Identitätsfragen, was ihn zu einem ausgewiesenen Analysten zu geopolitischen Aspekten macht. Aufgrund seiner diversifizierten Studienausrichtungen berät er zudem internationale Denkfabriken. Seine Analysen wurden in zahlreichen Magazinen und Zeitschriften wie Neue Ordnung, Hier & Jetzt und Agora Europa veröffentlicht. Des Weiteren erschienen mehrere Veröffentlichungen im Jungen Forum. Zu seinen Buchveröffentlichen gehören Paneuropa und totaler Mensch. Das politische Denken Richard Coudenhove-Kalergis (Archiv der Zeit, 2008) sowie, zusammen mit Wolfgang Bendel, Terra Incognita – Das andere Amerika. Identitäre Strömungen und Bestrebungen in Lateinamerika (Regin, 2009). Das Interview erschien zuerst bei METAPOL. Die Übernahme erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

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