Mittels Künstlicher Intelligenz und moderner Technologie konnten beim Vesuv-Ausbruch verkohlte Papyri nach über 2.000 Jahren entziffert werden. Sie werfen ein ganz neues Licht auf die Antike. Weitere Rätsel entschlüsseln wir in unserer Sonderausgabe „Geheime Geschichte – Von den Pharaonen bis zur Kabale im Vatikan“. Kommen Sie mit in längst vergangene Zeiten – und erfahren Sie die Wahrheit.
Es war im Jahr 79 nach Christi Geburt, als der Vesuv seine Lavaströme in die Ebenen am Golf von Neapel ausgoss und Orte wie Pompeji, Oplontis oder das rund zwölf Kilometer entfernte Stabiae unter Staub- und Aschemassen vollständig begrub. Neben zahlreichen Menschen und ihren Häusern fiel auch eine einzigartige Schatzkammer der Antike dem verheerenden Vulkanausbruch zum Opfer: die Bibliothek der Villa dei Papiri in Herculaneum.
Hunderte Papyrusrollen, eng beschrieben mit dem Wissen der antiken Welt, verkohlten und schienen für immer verloren. Doch fast 2.000 Jahre später steht die Wissenschaft vor einer Sensation: Dank modernster Röntgentechnik und Künstlicher Intelligenz (KI) beginnen die verbrannten Relikte aus vergangenen Zeiten, ihre Geheimnisse preiszugeben. Was verbirgt sich in den Texten? Und: Könnte nun eine „zweite Renaissance“ bevorstehen?
Die große Katastrophe
Die Villa dei Papiri in Herculaneum war kein gewöhnliches Gebäude. Archäologen vermuten, dass sie dem römischen Aristokraten Lucius Calpurnius Piso Caesoninus gehörte, dem Schwiegervater von Julius Caesar. In ihrer Bibliothek lagerten schätzungsweise 1.800 Papyrusrollen, überwiegend in Griechisch und Latein verfasst.
Diese Schriften, entdeckt im 18. Jahrhundert, sind ein einzigartiger Fund. „Es handelt sich um ein Kulturerbe, das seines Gleichen sucht: die einzige vollständig erhaltene Bibliothek der Antike mit überwiegend griechischen und lateinischen Texten, die in ihrem ursprünglichen Fundkontext entdeckt wurde“, erläutert Dr.-Ing. Vincent Christlein vom Lehrstuhl für Mustererkennung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU).

Doch eines trübte die Freude über den Fund von Anfang an: Die Papyri waren durch die Hitze des Vesuv-Ausbruchs verkohlt, die Schichten wie Jahresringe eines Baums fest miteinander verklebt. Versuche, sie physisch zu entrollen, zerstörten viele der fragilen Relikte. Schätzungen zufolge umfassen die Texte mindestens 4,5 Millionen Wörter, mehr als das Sechsfache der Bibel. Von den ursprünglich etwa 1.800 Papyri sind heute noch rund 600 intakt, und bis vor Kurzem galten sie als unlesbar.
Auf Spurensuche
Die Herausforderung, diese Texte zu entziffern, ist enorm. Die Papyrusrollen sehen aus wie halb verbrannte Äste oder Kohlebriketts, und die Tinte, die aus Kohlenstoffpigmenten besteht, ist auf dem verkohlten Hintergrund kaum zu erkennen.
Doch die Hoffnung starb nie. Im Jahr 2002 begann der Informatiker Brent Seales von der University of Kentucky in Lexington (USA), das Problem mit modernen Bildgebungsverfahren anzugehen. Der Experte stellte sich die Frage: Könnte in den hochauflösenden Scans nicht doch ein „morphologischer Kontrast“ verborgen sein – dreidimensionale Strukturen der Tinte, die von den Röntgenstrahlen erfasst werden könnten? Jahrelang blieb der Erfolg aus, doch die rasante Entwicklung im KI-Bereich brachte nun die Wende.
Hochtechnologie trifft Antike
Im März 2023 startete die sogenannte Vesuvius Challenge, ein von Tech-Unternehmern finanzierter Wettbewerb, der die Entzifferung der Papyrusrollen beschleunigen sollte. Mit Preisgeldern von insgesamt über 700.000 US-Dollar lockte der Contest Wissenschaftler, Studenten und Hobbyforscher weltweit an.
Der Durchbruch kam schneller als erwartet: Zwei Informatikstudenten gelang es, mithilfe von KI-Algorithmen und hochauflösenden CT-Scans, die mit einem Teilchenbeschleuniger aufgenommen wurden, erste Buchstaben und sogar ein Wort zu entziffern. Luke Farritor studiert in den USA an der University of Nebraska-Lincoln und absolvierte 2023 ein Praktikum bei Elon Musks Raumfahrtunternehmen Space X, Youssef Nader stammt aus Ägypten und ist Doktorand im Bereich Biorobotik an der FU Berlin. Letzterem gelang es schließlich, einen ganzen Textabschnitt mit mindestens vier Spalten und sechs Zeilen zu entschlüsseln – der Durchbruch!

„Das ist der Wahnsinn“, so die Papyrologin Federica Nicolardi von der Universität Neapel bei einer Pressekonferenz. Die Texte stammen vermutlich aus der epikureischen Schule, einer philosophischen Strömung, die sich mit Themen wie Freude und Sinneswahrnehmung befasste.
Ein rekonstruierter Textabschnitt spricht von „musischen Quellen der Freude“, wie Musik, dem Geschmack von Kapern und purpurner Farbe. Doch das ist erst der Anfang. Die bislang entzifferten Passagen machen nur etwa fünf Prozent aus und zwar einer einzigen Rolle. Die Wissenschaftler werden also noch Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte damit beschäftigt sein.
Computertomografie und Künstliche Intelligenz
Die Entschlüsselung der Rollen ist letztlich auch ein Triumph der Technologie. Der Schlüssel liegt in der Kombination von Micro-Computertomografie (Micro-CT) und KI. Die Micro-CT erzeugt hochauflösende 3D-Bilder der verkohlten Rollen, die dann per Software „virtuell entrollt“ werden. „Dazu werden die verkohlten Papyrus-Rollen mit einem so genannten Micro-CT durchleuchtet. Dabei handelt es sich um ein Röntgenverfahren, das sehr fein aufgelöste dreidimensionale Bilder liefert“, so Computer-Ingenieur Christlein von der FAU.
Die wahre Magie vollbringt dann die KI. Diese wird mit Tausenden von Papyrus-Bereichen trainiert – einige mit Schrift, andere ohne –, um Muster zu erkennen, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. Zusätzlich experimentieren die Forscher mit fotoakustischen Verfahren, bei denen Laserimpulse Ultraschallwellen erzeugen, die tiefere Strukturen der Rollen sichtbar machen.
Auch 3D-Mikroskopaufnahmen helfen, Fragmente zuzuordnen, die beim physischen Entrollen falsch zugeordnet wurden. Das internationale Projekt UnLost zielt darauf ab, diese Techniken in den nächsten sechs Jahren zu perfektionieren. Die Nationalbibliothek in Neapel, die die meisten Rollen verwahrt, ist ein zentraler Partner.
Eine zweite Renaissance?
Die Bedeutung der Herculaneum-Papyri geht weit über die Archäologie hinaus. „Wir hoffen auf eine zweite Renaissance“, sagt Papyrologe Kilian Fleischer laut einem Bericht des Bayerischen Rundfunks. Die Texte könnten nicht nur unser Wissen über die antike Philosophie erweitern, sondern auch unbekannte Werke ans Licht bringen. Historiker spekulieren, dass die Rollen Schriften von Seneca, Cicero oder Epikur und sogar bislang unbekannten stoischen Philosophen enthalten könnten.
Fleischer betont:
„Im Grunde geht es um Wiederentdeckung verloren geglaubten antiken Wissens und Schriften in einem unglaublich großen Umfang.“
Die Entzifferung könnte auch neue Grabungen in Herculaneum anregen. Archäologen vermuten, dass tausende weitere Rollen in der Villa dei Papiri verborgen liegen. Jede entschlüsselte Rolle ist ein Fenster in eine Welt, die seit fast zwei Jahrtausenden verschlossen war. „Wer weiß, welche Geheimnisse diese Schriftrollen noch enthüllen können“, sagt Bob Fowler, Juror der Vesuvius Challenge.
Die Reise hat gerade erst begonnen
Die verkohlten Papyrusrollen von Herculaneum sind ein Mysterium, das die Menschheit seit Jahrhunderten fasziniert. Mit jeder entschlüsselten Zeile wächst die Hoffnung, dass wir nicht nur die Gedanken der Antike, sondern auch die Grenzen der modernen Technologie neu definieren können. Die Kombination von KI, Röntgen- und Lasertechnologie zeigt, wie weit die Wissenschaft gekommen ist – und wie nah wir daran sind, die Vergangenheit wiederzubeleben.
Doch das größte Rätsel bleibt: Welche Geheimnisse verbergen die noch unentzifferten Papyri? Werden wir bald die Worte eines längst vergessenen oder nie entdeckten Philosophen lesen können? Oder gar ein Werk entdecken, das die Geschichte der Antike komplett umschreibt? Die Reise in die Welt der alten Europäer hat gerade erst begonnen.
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