30. August 1995: Deutschland meldet sich als kriegführende Macht auf der Bühne der Weltpolitik zurück. Auslöser war die Eroberung einer ostbosnischen Stadt durch die Serben. Viele Fragen bleiben offen. In unserer aktuelle Juli-Ausgabe „Der Brandstifter“ zeigen wir auf, wie real Kriegsgefahr heute ist und warum die deutsche Rolle passiv sein muss. Hier mehr erfahren.
Die Archäologen einer künftigen Zivilisation werden einmal im Schutt unserer Städte wühlen, in den Katakomben unter der Reichshauptstadt, im Kanzlerbunker, und sie werden über den Fragen brüten, die sich unsere Historiker über Karthago stellten: Warum ist dieses Reich verschwunden? Warum sind seine Bürger nach dem zweiten, als ihr Land noch bewohnbar war, in den dritten Krieg marschiert?
Am 11. Juli 1995 drangen Einheiten der bosnisch-serbischen Armee unter Führung von General Ratko Mladic in das ostbosnische Srebrenica ein. Dabei sollen sie nach westlicher Darstellung die 8.000 männlichen Bewohner, derer sie habhaft werden konnten, ermordet haben. In Serbien wird dies bestritten.
Als der Widerstand gegen Kriegstreiber zusammenbrach
Die eine Denkschule des „post-karthagenischen“ Zeitalters wird auf den Untergang der Bonner Republik im Zuge der Wiedervereinigung verweisen. Ab diesem Zeitpunkt sei die genügsame Außenpolitik einem neuen imperialen Machtanspruch gewichen. Andere werden dagegenhalten, dass doch zu diesem Zeitpunkt die republikanische Machtbalance noch intakt gewesen sei – den Legionären auf der Hardthöhe habe immer noch ein kräftiger sozial-ökologischer Widerpart Paroli geboten. Einer von dessen Sprechern, ein gewisser Joschka Fischer sei deutscher Außenminister und Vizekanzler geworden.
Ein sensationeller Fund halbgeschmolzener Computerfestplatten in der atomar verseuchten Sperrzone rund um den Bendlerblock barg des Rätsels Lösung: Parlamentsprotokolle, Zeitungsausschnitte, Fernsehmitschnitte aus dem Jahr 1995. Seinerzeit brach der Widerstand der moderaten Kräfte gegen die Kriegstreiber zusammen, oder genauer gesagt: die vormaligen Opponenten wechselten die Seite. Es war der letzte Sommer der alten Republik.

Bis zum Juni 1995 galt in der deutschen Politik das vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) verkündete Axiom: Niemals Bundeswehrsoldaten in Gebieten einzusetzen, die einst die Wehrmacht okkupiert hatte.
Vorstößen aus der Union und aus dem konservativen Medienkartell, dieses Axiom aufzuweichen und deutsche Soldaten zum dritten Mal in jenem Jahrhundert gegen Serbien in Marsch zu schicken, standen ebenso starke Widerstände der rot-grünen Opposition entgegen.
So versuchte etwa die SPD, der Beteiligung der Luftwaffe an den NATO-Überwachungsflügen in Bosnien durch Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht einen Riegel vorzuschieben, und die Bündnisgrünen unterstrichen ihr kategorisches Nein zu allen Out-of-area-Einsätzen – auch UN-Blauhelmmissionen! – bisweilen sogar durch außerparlamentarischen Protest.
Der 30. Juni 1995 markiert das Ende des Kohl-Axioms, der Bundestag gab grünes Licht für den ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr. Zur Unterstützung einer britisch-französischen Bosnien-Eingreiftruppe wurden die Luftwaffe und Sanitätszüge bereitgestellt. Jörg Schönbohm, Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, betonte, „dass es diesmal nicht um eine humanitäre Operation wie in Somalia oder Kambodscha“ gehe. „Sondern jetzt werden deutsche Soldaten außerhalb des NATO-Verteidigungsgebietes eingesetzt, mit der Möglichkeit, kämpfen zu müssen.“
„Historische Zäsur“
Der amerikanische Verteidigungsminister, William Perry, gab bei einer Anhörung vor dem Militärausschuss des US-Senates am 7. Juni 1995 an: 1992 hätten die Verluste „nach besten Schätzungen“ etwa 130.000 betragen, 1993 lagen sie bei 12.000 und 1994 bei 2.500. Am 18. Oktober 1995 hingegen sprach Perry vor dem Ausschuss für internationale Beziehungen des Abgeordnetenhauses von mehr als 200.000 Toten, Präsident Clinton kam am 27. November 1995 sogar auf 250.000. Diese Zahl wurde bis Anfang des 21. Jahrhunderts ständig wiederholt.
Viele Jahre später wurde sie um mehr als die Hälfte nach unten korrigiert: Das bosnische Untersuchungs- und Dokumentationszentrum IDC hat 2007 die Zahl von 97.207 Toten für den bosnischen Bürgerkrieg ermittelt.
Doch die Abwehrfront von SPD und Grünen stand, abgesehen von einigen Abweichlern, noch immer. Fischer etwa bezeichnete den Bundestagsentscheid als „historische Zäsur“ und als „Debakel, für das noch viele politisch und manche vielleicht auch mit ihrem Leben bezahlen müssen“.
Bereits zuvor hatte er erläutert: „Ich bin der festen Überzeugung, dass deutsche Soldaten dort, wo im Zweiten Weltkrieg die Hitler-Soldateska gewütet hat, den Konflikt anheizen und nicht deeskalieren würden. (…) All diese Einsätze und die Debatten darum werden von der Bundesregierung als Türöffner benutzt. Das vereinigte Deutschland soll in seinen außenpolitischen Optionen voll handlungsfähig gemacht werden.“
SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen kritisierte, dass „die Koalition uns in eine Prä-Vietnam-Situation gebracht [hat], und wir rutschen immer tiefer in die Grauzone (…) und befinden uns irgendwann, ohne es recht bemerkt zu haben, im Krieg“.
Aber als zwei Monate später die Kohl-Regierung unter Berufung auf den Bundestagsbeschluss vom 30. Juni grünes Licht zum Angriff gab, war von der Opposition nichts mehr zu hören. Am 30. August begannen NATO-Kampfflugzeuge einen vierzehntägigen Bombenkrieg gegen serbische Stellungen in Bosnien. Tornados der Bundesluftwaffe bombten fleißig mit.
Die größte Vertreibung nach 1945
Dies, und nicht der Angriff auf Jugoslawien 1999, war der erste Kriegseinsatz des westlichen Bündnisses und der Bundeswehr – aber kaum jemand hat es gemerkt, denn die Öffentlichkeit war durch die Zustimmung von SPD und Grünen eingelullt. Den Angriffen, bei denen auch Munition aus abgereichertem Uran eingesetzt wurde, fielen mehrere hundert Menschen zum Opfer.
Kurz nach den blutigen Ereignissen in Srebrenica fanden blutige Ereignisse in der Krajina statt. Da dort die Opfer Serben waren, war die Berichterstattung bescheiden. Die kroatische Armee unter US-Kommandeuren vertrieb von 4. bis 7. August 1995 etwa 200.000 Serben aus ihren historischen Siedlungsgebieten, dabei wurden zwischen 214 (kroatische Angaben) und 1.192 (serbische Angaben) Menschen getötet. Es war die größte Vertreibung in Europa nach 1945.
Das Einknicken der parlamentarischen Kriegsgegner zwischen 30. Juni und 30. August wurde durch ein einziges Ereignis ausgelöst: die Eroberung der ostbosnischen UN-Schutzzone Srebrenica durch die Serben am 11. Juli 1995. „Seit Srebrenica habe ich meine Position verändert“, sagte Fischer im Rückblick. Auf dem grünen Parteitag im Dezember 1995 erhielten Anträge, die sich in unterschiedlicher Radikalität für deutschen Interventionismus gegen die „marodierende Soldateska“ (Ludger Volmer) der Serben aussprachen, erstmals mehr Stimmen als die der Interventionsgegner und Pazifisten.

In den Tagen nach dem 11. Juli 1995 habe sich „Europas schlimmstes Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg“ ereignet, resümierte der Spiegel. Die bosnischen Serben hätten 8.000 Muslime ermordet – so die bis heute in westlichen Medien gängige Standardzahl.
8.000 Ermordete? Das Internationale Rote Kreuz hat bis zum Sommer 2001 insgesamt 7.475 aus Srebrenica Verschwundene registriert. Wie viele von diesen Verschwundenen tot sind, ist nicht geklärt. Auch für die wichtigsten westlichen Untersuchungsberichte wurden zu dieser Frage leider keine eigenen Nachforschungen vorgenommen. Das trifft sowohl auf die 1.200 Seiten starke Studie einer Kommission des französischen Parlaments (vorgelegt im November 2001) als auch auf den 3.500 Seiten starken Report des niederländischen Armeeinstituts NIOD (vorgelegt im April 2002) zu.
Wahrscheinliche Opferzahl
Zum niederländischen Bericht stellt das Wochenmagazin Elsevier kritisch fest: „Die Schuld der bosnischen Serben wird nicht geringer, wenn keine siebentausend, sondern zwei- oder dreitausend Muslime abgeschlachtet wurden. Aber eine genauestmögliche Feststellung der Anzahl der Todesopfer ist von Bedeutung, wenn es um die Wahrheitsfindung geht. Und genau hier wird die Untersuchung (…) den Anforderungen nicht gerecht.“
Die Zahl „zwei- bis dreitausend“ kann als wahrscheinlich gelten, da sie von den Ergebnissen der Leichensuche gestützt wird. Das UN-Tribunal in Den Haag, das die entsprechenden Grabungsarbeiten in und um Srebrenica koordiniert, gab im August 2001 die Gesamtzahl der gefundenen Leichen mit „mindestens 2.028“ an. Diese seien aus 21 Massengräbern geborgen worden, 18 weitere seien noch nicht untersucht.
Strittig ist, wie viele dieser Toten „abgeschlachtet“ wurden. Die Richter in Den Haag stellten dazu im Verfahren gegen den bosnisch-serbischen Armeegeneral Radislav Krstic fest: „Der Gerichtshof kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass ein Prozentsatz der in den Gräbern gefundenen Leichen Männer sein könnten, die im Kampf getötet wurden.“
Der Haager Chefermittler Jean-René Ruez geht davon aus, dass alle 2.628 Toten der 28. moslemischen Division bei den Gefechten zwischen Srebrenica und Tuzla „im Kampf umgekommen“ sind (Interview im Buch von Julija Bogoeva/Caroline Fetscher, Srebrenica – Ein Prozess).
Selbst wenn man von 8.000 angeblich „Abgeschlachteten“ die Verschwundenen, die noch am Leben sind, und die Opfer militärischer Auseinandersetzungen abzieht, bleibt Srebrenica ein schreckliches Massaker an Wehrlosen. Schätzungsweise 1.500 Muslime dürften außerhalb jeder Kampfhandlungen exekutiert worden sein. Deren Ermordung war ein Kriegsverbrechen, für das die serbischen Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen. So gerechtfertigt das weltweite Entsetzen über die Gräuel war, so propagandistisch war aber auch der Versuch der NATO, sie als singulär darzustellen.
Eiskalte West-Propaganda
Zum Vergleich: Wenige Wochen nach Srebrenica – und noch vor dem NATO-Eingreifen in Bosnien – eroberte die kroatische Armee die serbische Krajina. 200.000 Menschen wurden vertrieben – mehr als je zuvor in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Belgrader Menschenrechtsorganisation Veritas hat ermittelt, dass im Zuge der Offensive etwa 2.000 Zivilisten verschwanden oder ermordet wurden, der kroatische Helsinki-Ausschuss für Menschenrechte hat 410 Tote namentlich identifiziert. Hans Koschnick (SPD) aber rühmte die Operation als „Versuch, eine Rechtsordnung, eine staatliche Einheit wiederherzustellen“.
Die binäre Struktur der westlichen Propaganda – gute Kroaten und Muslime, böse Serben – war kühl kalkuliert: Nur durch die Darstellung des gegenseitigen Gemetzels als Aggression nur einer Partei war ein Kriegseintritt auf der Seite der angeblichen Opfer zu rechtfertigen. Fischer kritisierte ganz richtig, „wie die Bundesregierung den Bundestag (…) an der humanitären Nase in den Bosnienkrieg führen will.“ So sprach er allerdings im Dezember 1994 – sieben Monate vor Srebrenica.
Morde einer moslemischen Mafiagruppe an den eigenen Leuten während der Flucht aus Srebrenica: „Über die Morde darf man auch heute noch nicht sprechen. Einige radikalere Kenner der militärischen und politischen Verhältnisse in Srebrenica wagen es zu behaupten, dass ‚Zeugen‘ sogar liquidiert worden sind, als sich das Hauptkontingent aus Srebrenica herausgekämpft hat.
Zeugen zum Schweigen gebracht
Während dieses Durchbruchs auf freies Territorium wurde auf dem Gebiet von Baljkovici Azem Bajramovic, ein Präsidiumsmitglied der [regierenden Moslempartei] SDA, getötet. Sein Tod wird als Beispiel angeführt, wie man Zeugen aus Srebrenica zum Schweigen bringt.“ (Die moslemische Wochenzeitung Ljiljan aus Sarajevo, Ausgabe vom 7. August 1996)
Tote und Verschwundene: „Ich habe von Leuten, die der kroatischen Staatssicherheit nahestehen und Kontakte zu den Serben haben, gehört, dass sich an verschiedenen Orten noch 5.600 Überlebende aus Srebrenica befinden.“ (Ibran Mustafic, Vorsitzender der regierenden Moslempartei SDA in Srebrenica, von den Serben nach dem Fall der Stadt gefangengenommen und trotz seiner hohen Position wieder freigelassen, im Interview mit der muslimischen Wochenzeitung Slobodna Bosna, 14. Juli 1996)
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