Wissenschaftler aus München und Bagdad haben einen Schlüsseltext des Altertums rekonstruiert – mit viel Puzzlearbeit und Künstlicher Intelligenz. Die Verse öffnen ein Fenster in die Vergangenheit. In unserer Sonderausgabe „Geheime Geschichte – Von den Pharaonen bis zur Kabale im Vatikan“ gehen wir den Rätseln des Altertums auf den Grund. Hier mehr erfahren.

    Vor fast 3.000 Jahren, in den blühenden Gärten und prächtigen Palästen der antiken Stadt Babylon, sangen Dichter von der Herrlichkeit ihrer sagenumwobenen Metropole. Ihre Verse, in Keilschrift auf Tontafeln verewigt, schienen für Jahrtausende verloren – bis jetzt. Doch nun wurde mittels Künstlicher Intelligenz (KI) die uralte „Hymne an Babylon“ wieder zum Leben erweckt. Dieser Text, der einst von Schülern kopiert wurde, öffnet ein Fenster in eine längst vergangene Welt und wirft zugleich Fragen zur Mystik der babylonischen Kultur auf.

    Ein verschollenes Meisterwerk

    Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München und der Uni Bagdad haben den rund 3.000 Jahre alten Lobgesang auf die antike Stadt rekonstruiert. „Es handelt sich um einen faszinierenden Hymnus, der Babylon in seiner größten Blütezeit beschreibt und Einblicke in das Leben seiner Einwohner und auch seiner Einwohnerinnen gibt“, so Enrique Jiménez, Professor für altorientalische Literaturen an der LMU, gegenüber der Schwäbischen Zeitung. Das Gedicht mit etwa 250 Zeilen, ursprünglich auf einer Keilschrift-Tafel aus der Zeit um 1.000 v. Chr.  verfasst, wurde durch Digitalisierung und KI-gestützte Analyse von weltweit verstreuten Textfragmenten entschlüsselt.

    Botschaft aus der Vergangenheit: Tonfragment mit babylonischer Keilschrift. Foto: Metropolitan Museum of Art, CC0, Wikimedia Commons

    Die Entdeckung begann mit einem unscheinbaren Fund: einer Tontafel, die nur einen Teil des Textes enthielt. Doch Jiménez und sein Team identifizierten mithilfe von KI 30 weitere Manuskripte, die zur „Hymne an Babylon“ gehören – „ein Prozess, der in der Vergangenheit Jahrzehnte gedauert hätte“, so der Forscher aus München. Die Fragmente, verstreut in Museen und Sammlungen auf der ganzen Welt, fügten sich wie ein Puzzle zu einem vollständigen Gedicht zusammen. Die Verse, so Jiménez, waren in der Antike weit verbreitet:

    „Die Hymne wurde von Kindern in der Schule kopiert. Es ist außergewöhnlich, dass ein damals so beliebter Text bis heute unbekannt war.“

    Doch worum geht es in dem Text? Er beschreibt die Stadt in ihrer Blütezeit, umgeben von den fruchtbaren Ufern des Euphrat. „Auf seinen Feldern blüht es und grünt’s“, heißt es in der Hymne, „es schillern die Augen vor frischem Getreide“. Der Fluss Euphrat wird als Gabe des „Nudimmuds, der Weisheit Herr“ besungen – ein Hinweis auf den babylonischen Gott Ea (Enki), Herr der Weisheit. Die hochpoetischen Zeilen zeugen von einer Kultur, die hochentwickelt war. Doch warum verschwand ein so bedeutender Text für Jahrtausende?

    Ein Imperium der Wunder

    Die Stadt Babylon, etwa 90 Kilometer südlich vom heutigen Bagdad im Irak gelegen, war das pulsierende Herz Mesopotamiens. Um 2.000 v. Chr. entstand das Babylonische Reich, das unter Königen wie Hammurabi (ca. 1792–1750 v. Chr.) zu einer der mächtigsten Zivilisationen der Antike aufstieg. Die Stadt war berühmt für ihre monumentale Architektur, darunter die Zikkurat Etemenanki – möglicherweise der biblische Turm zu Babel – und die prächtige Prozessionsstraße, die zum Ischtar-Tor führte.

    Publikumsmagnet: Der rekonstruierte vordere Teil des Ischtar-Tores im Berliner Pergamonmuseum. Foto: LBM1948, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons

    Diese Bauwerke, heute UNESCO-Weltkulturerbe, zeugen von einer Gesellschaft, die Wissenschaft, Kunst und Religion in einzigartiger Weise verband. Die Babylonier waren Meister der Astronomie und Mathematik. Ihre Keilschrift, in Tontafeln eingeritzt, bewahrte nicht nur Verwaltungsdaten, sondern auch epische Dichtungen wie das Gilgamesch-Epos und spirituelle Texte.

    Die Hymne an Babylon reiht sich in diese Tradition ein und bietet seltene Einblicke in die Beschreibungen von Flora und Fauna der Zeit. „Aus Mesopotamien sind bislang nur wenige Beschreibungen der Natur überliefert“, so Jiménez gegenüber dem Deutschlandfunk, was die Bedeutung der Entdeckung unterstreicht. Die Hymne beschreibt nicht nur die Schönheit der Landschaft, sondern auch das Leben der Bewohner, einschließlich der Priesterinnen, die eine zentrale Rolle im religiösen Leben spielten.

    Die dunkle Faszination für Babylon

    Doch Babylon war mehr als eine Stadt der Pracht. Es war ein Ort, an dem sich die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Mensch und Göttlichkeit, zu verwischen schienen. Die babylonische Religion war tief von Mystik durchdrungen, mit Göttern wie Marduk, Ischtar und Ea, die das Schicksal der Menschen lenkten. Rituale, Opfer und Weissagungen waren allgegenwärtig, und die Stadt galt als spirituelles Zentrum, das weit über die Region hinausstrahlte.

    Aleister Crowley und der Ordo Templi Orientis. Auszug aus COMPACT-Spezial „Satan, Pop und Hollywood“. Foto: COMPACT.

    Die Faszination für Babylon überdauerte seinen Untergang um 539 v. Chr., als die Perser die Stadt eroberten. Sie sollte Jahrtausende später in esoterischen und okkulten Kreisen eine neue Bedeutung erlangen. In der jüdischen und christlichen Tradition wurde die Metropole zum Symbol für Dekadenz und Sünde, insbesondere durch die Figur der Hure Babylon in der Offenbarung des Johannes (Offb. 17–18).

    Diese apokalyptische Gestalt, eine Frau in Purpur und Scharlach, die auf einem scharlachroten Tier reitet, verkörpert die Verführung und den moralischen Verfall. In in Offb. 17:5 heißt es:

    „Und auf ihrer Stirn war ein Name geschrieben: Geheimnis, Babylon die Große, die Mutter der Huren und der Gräuel der Erde.“

    Im 19. und 20. Jahrhundert griffen Okkultisten dieses Bild auf und interpretierten es neu. Der britische Magier Aleister Crowley, eine der einflussreichsten Figuren des modernen Okkultismus, machte „Babalon“ – eine alternative Schreibweise – zur zentralen Figur seines esoterischen Systems Thelema. Für ihn war Babylon eine weibliche Kraft, die Sexualität, Schöpfung und Zerstörung vereint.

    In seinem Buch „Liber AL vel Legis“ („Das Buch des Gesetzes“, 1909) erscheint Babylon als ekstatische, transformative Macht, die die Grenzen des Menschlichen überschreitet. „Bei Crowley wird aus der verkommenen Dirne eine Liebesgöttin, mitunter gar eine Messiasgestalt. Der US-Raketenforscher und Crowley-Schüler Jack Parsons versuchte diese Scharlachfrau 1946 in seinem magischen Ritual Babalon Working zu evozieren“, heißt es dazu in der höchst aufschlussreichen COMPACT-Spezial-Ausgabe „Satan, Pop und Hollywood“.

    Parsons, ein Mitglied von Crowleys okkultem Ordo Templi Orientis (O.T.O.), glaubte, durch das Ritual die Inkarnation von Babalon heraufbeschwören zu können. Gemeinsam mit seiner „Scarlet Woman“ Marjorie Cameron sowie dem späteren Gründer von Scientology, L. Ron Hubbard, führte er bizarre sexualmagische Praktiken in der Mojave-Wüste in Kalifornien durch, die angeblich übernatürliche Phänomene hervorriefen. „Ich habe die Göttin angerufen, und sie ist in mir erschienen“, schrieb Parsons in seinen Notizen. In der Regel führte Hubbard Protokoll, während Parsons und Cameron miteinander intim wurden.

    Echo aus uralter Zeit

    Mit der „Hymne an Babylon“ hat derlei Hokuspokus freilich wenig zu tun – und doch geht ihre Wiederentdeckung weit über Archäologie und Altertumsforschung hinaus. Sie eröffnet uns eine längst untergegangene Welt, in der Poesie, Religion und Alltag oft miteinander verschmolzen. Die Verse werfen ebenso auch Fragen auf, die über das rein Wissenschaftliche hinausgehen.

    Warum war dieser Text so populär, dass Schüler ihn kopierten? Und welche Rituale sind in den Zeilen verewigt? Die Hymne, einst von Kinderhand in Ton geritzt, erscheint als ein Echo aus einer Zeit, in der Götter und Menschen in enger Verbindung standen. Möglicherweise birgt sie einen Schlüssel zu den Geheimnissen Babylons – man darf gespannt auf die weitere Forschung sein.

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