Nach dem weitgehenden Rückzug der USA vom ukrainischen Kriegsschauplatz wollen die europäischen Führer Russland allein in die Knie zwingen. Historische Beispiele zeigen, dass das zum Scheitern verurteilt ist. Eine Analyse von Rainer Rupp. Wir legen Ihnen in diesem Zusammenhang unsere druckfrische Juli-Ausgabe „Der Brandstifter“ ans Herz. Hier mehr erfahren.

    _ von Rainer Rupp

    Für informierte Zeitgenossen ist es keine Neuigkeit, dass die Streitkräfte der europäischen Mitgliedsstaaten der NATO im Fall eines militärischen Konfliktes gegen Russland ohne die USA keine Chance haben, zu bestehen. Das gilt jedoch nicht nur für eine direkte Konfrontation mit den Russen in der Ukraine, sondern prinzipiell für jeden militärischen Alleingang der europäischen NATO-Länder, sowohl in einer sogenannten Koalition der Willigen als auch in einer Einzeloperation.

    Nichts geht ohne Großen Bruder…

    Egal wo und unter welchen Bedingungen: Ohne die aktive Beteiligung der USA und deren massiver militärischer Unterstützung sind die Europäer nicht fähig, einen Konflikt länger als ein paar Wochen durchzustehen. Denn in allen militärisch relevanten Bereichen, angefangen beim Nachschub an Waffen, Munition und Soldaten über die militärische Aufklärung bis hin zu den auf die USA zentrierten militärischen Organisations- und Befehlsstrukturen in der NATO, geht nichts ohne den Großen Bruder aus Übersee.

    Ein Beispiel wäre etwa der Krieg auf dem Balkan und speziell gegen Jugoslawien, den die Europäer, allen voran das kurz zuvor wiedervereinte Deutschland, ab 1990 provoziert hatten. Trotz der vereinten Anstrengungen war die zusammengewürfelte EU-Koalition der Willigen – Frankreich, Großbritannien, BR Deutschland, die Niederlande, Belgien, Italien – nicht imstande, den Konflikt siegreich zu beenden, denn die USA hielten sich anfangs sehr misstrauisch zurück.

    Vor allem dem aus ihrer damaligen Sicht destabilisierenden Alleingang des neuen Deutschlands einschließlich des Vorpreschens bei der Unterstützung der Sezessionsrepubliken standen sie erst einmal ablehnend gegenüber.

    Erst mit der Präsidentschaft von Bill Clinton ab 1994, nach dem Chaos der ersten Kriegsjahre mit schweren Kämpfen in der kroatischen Teilrepublik und nach Beginn der Kämpfe in Bosnien-Herzegowina, sah Washington die Chance, seine Führungsrolle in Europa erneut zu untermauern.

    Letztere war nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 zunehmend in Frage gestellt worden. Inzwischen aber hatten sich die europäischen Kriegsfalken, die anfangs ihren Hinterhof auf dem Balkan ohne Beteiligung der USA und NATO neu ordnen wollten, als unfähig erwiesen, Restjugoslawien in die Knie zu zwingen.

    In den Schluchten des Balkan

    Das änderte sich ab Sommer 1995. Die kroatischen Streitkräfte, kommandiert von US-Generälen, führten die entscheidende Offensive „Operation Oluja“ durch, mit der die Krajina erobert und die dortige serbische Bevölkerung dort komplett vertrieben wurde.

    Ab August 1995 unterstützen US-Kampfflugzeuge den Vormarsch der muslimischen Truppen in Bosnien, was zum Zurückrollen der serbischen Fronten und schließlich zum Aufteilungsvertrag von Dayton führte. Die Sezessionisten in Zagreb und Sarajevo hatten es mit Hilfe Washingtons geschafft, sich aus Jugoslawien zu lösen und eigene Staaten zu bilden, die sich prowestlich orientierten.

    Durch eine direkte Beteiligung am Krieg und einem Sieg über Jugoslawien, so das Kalkül Washingtons damals, würden die USA alle Zweifel an der weiteren Notwendigkeit der NATO und der dominierenden US-Position in der Organisation beseitigen. Nicht zuletzt war die erneute Anerkennung der unverzichtbaren US-Rolle in Europa die Voraussetzung dafür, dass US-Konzerne bei der Aufteilung der Beute in den ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas nicht marginalisiert wurden, sondern sich dort stattdessen den Löwenanteil und entsprechenden Einfluss sichern konnten.

    NATO-Manöver Anakonda aus dem Jahr 2016 – ein Panzer beim Vorstoß über die Weichsel. Foto: US-Army

    Im Kosovo lief das Spiel ähnlich. Nach Beginn des albanischen Aufstandes im Sommer 1998 gelang es der von Slobodan Milosevic geführten Regierung in Belgrad zunächst, in der Provinz weitgehend Ruhe herzustellen. Doch am 24. Februar 1999 griff die NATO auf Seiten der albanischen Untergrundarmee UCK in die Kämpfe ein – ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg.

    Nach zweieinhalb Monaten Luftangriffen mit tausenden zivilen Toten, vor allem von der US-Airforce durchgeführt, gab Belgrad auf, um angedrohte weitere Massaker zu vermeiden. Das Kosovo wurde von Jugoslawien abgespalten, von der NATO besetzt und erklärte sich 2008 zum selbständigen Staat.

    Debakel in Afrika

    Die militärische Unfähigkeit der Europäer ist nicht nur im Fall Jugoslawien eklatant. Davon zeugt auch der Verlauf des unprovozierten, völkerrechtswidrigen und äußerst brutalen Angriffskriegs gegen das ölreiche Libyen, der von Großbritannien, Frankreich, Italien und einigen anderen „willigen“ Ländern der EU ab Frühjahr 2011 vom Zaun gebrochen worden war (die BRD beteiligte sich damals nicht).

    Nach weniger als einer Woche gingen der britischen und französischen Luftwaffe die Raketen und Bomben aus, um die libysche Luftabwehr zu unterdrücken. Britische Hilferufe an das Pentagon wurden von dessen damaligem Chef Robert Gates mit den Worten abgelehnt: „We have no dog in this fight!” („In diesem Kampf haben wir keinen Hund“ – eine Anspielung auf Hundekämpfe, bei denen die Zuschauer auf den Sieg eines der beteiligten Tiere wetten können.)

    Luftwaffe der Islamisten

    Aber Hillary Clinton, damals US-Außenministerin, überstimmte Gates, und das war der Anfang vom Ende des am weitesten entwickelten Wohlfahrtsstaates auf dem afrikanischen Kontinent. Die US-Airforce fungierte als Luftwaffe der Islamisten. Erst ihr Einsatz konnte den Dschihadisten den Weg nach Tripolis freibomben. In den Augen der Führer des Westens bestand Muammar al-Gaddafis Verbrechen offensichtlich darin, dass er den Ölreichtum des Landes für eine weltweit einzigartige soziale, medizinische und schulische Gratisversorgung der gesamten Bevölkerung ausgab.

    In diesem Zusammenhang ist auch die rein französische Militärintervention Opération Serval im afrikanischen Mali beispielhaft. Sie begann im Januar 2013, und ihr Ziel war es, den Vormarsch militanter Islamisten – die übrigens teilweise aus Libyen kamen, wo sie gerade mit US-Hilfe gesiegt hatten – im Norden des Landes zu stoppen. Diese Operation erforderte eine schnelle Verlegung von Truppen, wozu jedoch Frankreich allein nicht imstande war. Auf Nachfrage leisteten die Vereinigten Staaten die notwendige logistische Unterstützung. Das Pentagon sorgte für eine schnelle logistische Koordination, um Truppen, gepanzerte Fahrzeuge und Nachschub nach Mali zu transportieren, einem westafrikanischen Binnenstaat mit schwierigem Gelände und begrenzter Infrastruktur.

    Entscheidend war, dass die US-Airforce mithilfe von C-17-Globemaster-III-Transportflugzeugen eine Luftbrücke zwischen dem Stützpunkt Istres-Le Tubé in Südfrankreich und Bamako in Mali errichtete. Nur diese garantierte die rasche Verlegung französischer Truppen und französischen Materials in die Konfliktzone. So konnte Paris in kürzester Zeit rund 4.000 Soldaten sowie Spezialeinheiten und Luftstreitkräfte nach Mali entsenden.

    Soldaten der US-Armee. Foto: Bumble Dee / Shutterstock.com

    Die militärische Unfähigkeit der europäischen NATO-Länder, sich ohne die USA auf dem Balkan (gegen das bereits stark geschwächte Restjugoslawien) und in Mali (gegen dschihadistische Sandalettenkrieger) durchzusetzen, ist vor dem Hintergrund der großkotzigen Ankündigungen der französischen und britischen Staatschefs, Truppen gegen die Russen in die Ukraine zu schicken, von besonderem Interesse. Selbst unter Präsident Joe Biden hatte Washington immer wieder betont, keine regulären US-Militäreinheiten in die Ukraine zu entsenden. Und unter Donald Trump sieht es zunehmend danach aus, dass sich die USA gänzlich aus dem NATO-Projekt Ukraine zurückziehen.

    Vor Selbstmordkommando?

    Französische, britische und andere EU-Soldaten in die Ukraine zu schicken, käme daher einem Selbstmordkommando gleich: Der Kreml hat angekündigt, sie als Feindkräfte sofort unter Beschuss zu nehmen, egal unter welcher Fahne sie auftreten. Polen, ursprünglich ebenfalls ein Befürworter dieser Idee, hat prompt in den letzten Wochen angekündigt, sich doch nicht beteiligen zu wollen. Am Ende sind es die militärischen Realitäten, die die Hitzköpfe dann doch zum Innehalten zwingen.

    _ Rainer Rupp (*1945) war von 1977 bis 1989 für die Hauptverwaltung Aufklärung, die Auslandsspionage der DDR, tätig und galt als wichtigster Agent des Ostens in der NATO (Deckname „Topas“). 1994 wurde er wegen Landesverrats zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Seit seiner Entlassung arbeitet er als Publizist.

    Obiger Beitrag erschien in einer ausführlicheren Fassung zuerst auf RTde.

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