Im Spätmittelalter wurden die gesellschaftlichen Strukturen durch das neu entstehende Finanzkapital zerstört, das sich rund um einen Augsburger Investmenttrust organisierte. Die Reformation und die Bauernaufstände waren eine verständliche Reaktion darauf. Mehr Intrigen gibt’s in COMPACT-Geschichte «Verschwörung und Skandale». Mätressen, Morde und Machteliten! Hier mehr erfahren.

    Als der damalige Außenminister Joschka Fischer im Sommer 2000 über die «Finalität» des europäischen Prozesses sprach, der zur Abschaffung der bisherigen Nationalstaaten führen sollte, bekam er ein harsches Contra seines französischen Amtskollegen Jean-Pierre Chevènement:

    «Weil Deutschland noch immer die Nation diabolisiert, neigt es zur Flucht ins Postnationale. Da findet es sich im wehmütigen Traum einer Art von Föderation, die unterschiedliche Teile möglichst regional so zusammenhält, wie das im Heiligen Römischen Reich der Fall war. (…) Eine im Wesentlichen oligarchische, aus Netzwerken bestehende Machtstruktur.»

    Tatsächlich war dieses Reich – gegründet 919 von Heinrich I., zusammengebrochen 1806 unter dem napoleonischen Machtanspruch – ein ähnlich amorphes Gebilde wie die heutige Europäische Union. Es reichte zeitweilig von der Ostsee bis hinunter nach Sizilien, war aber keineswegs administrativ vereinheitlicht, es gab nicht einmal eine gemeinsame Hauptstadt.

    Man konnte auch nicht von einem Reich «deutscher Nation» sprechen, denn eigentlich handelte es sich dabei –ebenfalls der heutigen EU vergleichbar – um ein Vielvölkerimperium, zerrissen zwischen verschiedenen Dynastien und verschiedenen Völkern und Stämmen, die verschiedene Sprachen gesprochen haben, während im Innern die Machtverhältnisse und Frontverläufe ständig fluktuierten.

    Der gekaufte Kaiser

    Dieses Reich hat am Anfang nicht schlecht funktioniert, vielleicht geistert es deswegen immer noch im Unterbewusstsein deutscher Eurokraten herum. Vom 10. bis zum 14. Jahrhundert verzeichnen die Chronisten jedenfalls eine gewisse Fortentwicklung auch für die unteren Klassen, manche sprechen in Bezug auf diese Zeit sogar vom Goldenen Mittelalter. Aber diese Struktur kam etwa ab dem 15. Jahrhundert in die Krise, und zwar mit dem Aufkommen des Finanzkapitals.

    Die Eheleute Jakob Fugger und Sibylle Artzt in einem Porträt um 1500. Gemälde: Hans Burgkmair der Ältere

    Das Finanzkapital im Heiligen Römischen Reich zentrierte sich rund um den Konzern der Fugger. Die Fugger – ursprünglich aus Augsburg, ursprünglich Textilhändler und Textilproduzenten – schafften es, im ausgehenden 15. Jahrhundert mit Hilfe der Handelsgroßmacht Venedig und guten Beziehungen zum Vatikan zu einem Finanztrust aufzusteigen.

    Der erste Schritt war die Kolonisierung Tirols, die Okkupation der dortigen Bodenschätze, und dann ging‘s weiter Richtung Ungarn. Die dabei zusammengeraubten Edelmetalle wurden genutzt, um ein Münzmonopol zu errichten, um Währungspolitik zu machen und auf dieser Grundlage die deutschen Kaiser zu kreditieren. Letztere, vor allem die Habsburger Maximilian I. (1459–1519) und Karl V. (1519–1556), kamen in dieser Zeit ausschließlich durch die milliardenschwere Unterstützung aus dem Hause Fugger ins Amt. Die Augsburger hatten die Kurfürsten bei der Kaiserwahl bestochen und so «ihre» Favoriten ins Amt gebracht.

    Dann begann die Expansion des Reiches, zunächst über die Heiratspolitik der Habsburger Richtung Spanien. Weiterer Kreditbedarf und die Tilgung der Fugger-Schulden zwangen die Kaiser dazu, auch nach Südamerika auszugreifen. Das war der Moment, in dem Karl V. gesagt haben soll:

    «In meinem Reich geht die Sonne niemals unter.»

    In der Folge begann eines der schrecklichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte, nämlich die Ausplünderung Lateinamerikas. Verantwortlich für die Blutsäuferei waren die Spanier. Aber dahinter standen die Fugger. Denn die Spanier mussten das Geld auch für Karl V. eintreiben, damit ihr habsburgischer Verwandter die Fugger auszahlen konnte. Das heißt: Die Triebfeder dieser Expansion und Kolonisation war die Machtergreifung des Finanzkapitals im damaligen Heiligen Römischen Reich.

    Luther-Denkmal vor der Dresdner Frauenkirche.
    Foto: Norbert Aepli, CC BY-SA 2.5, Wikimedia Commons

    Religions- und Kolonialkriege

    Letzten Endes gehen auch die Glaubensspaltung und die Glaubenskriege jener Zeit auf diese Entwicklung zurück. Denn was löste die Reformation aus, was war der Impuls für Martin Luther? Es hatte schon vor ihm Reformatoren gegeben, die weniger Erfolg hatten.

    Aber was Luther die Anhänger nach 1517 in Scharen zutrieb, war die Empörung der kleinen Leute über die Ablasspraxis: Der vom Papst gesandte Dominikanermönch Johann Tetzel zog durch die Städte und verkaufte sogenannte Ablassbriefe, durch die sich die Leute von ihren Sünden angeblich für die Ewigkeit freikaufen konnten.

    Und wer hatte das organisiert? Das war die geniale Geschäftsidee der Fugger gewesen. Sie hatten das Copyright auf die Ablassbriefe, organisierten die Rundreise von Tetzel, sammelten das Geld ein und brachten es nach Rom zum Papst – natürlich gegen Beteiligung. Dieser Businessplan hat das Reich in Aufruhr versetzt und zu den Aufständen im Spätmittelalter und den Religionskriegen mit beigetragen.

    Zurück zur Ausplünderung Südamerikas, zum Abschlachten der Inkas und Azteken. Das erbeutete Gold wurde zurück nach Spanien gebracht. Dann griff aber ein neuer Rivale in das Spiel ein: die aufsteigende Seemacht England. Die Engländer überfielen die spanischen Korvetten und erbeuteten die von den Spaniern geraubten Schätze der Indianer.

    Wir sehen heute Filme wie «Fluch der Karibik» mit Johnny Depp und denken, das seien erfundene Abenteuer mit wilden Gesellen. Aber es sind im Kern wahre Geschichten! Nur dass diese Freibeuter keine Kleinkriminellen, sondern Instrumente englischer Großmachtpolitik waren. Sir Francis Drake, der Pirat Ihrer Majestät, überfiel im Auftrag der Krone und ohne Wissen des britischen Parlaments spanische Schiffe. Das Gold, das eigentlich die Fugger haben wollten, landete auf diese Weise schließlich in London.

    In diesem Prozess brach das spanische Weltreich zusammen – und das Imperium der Fugger, und es begann der Aufstieg Englands. Die neue Macht investierte das gekaperte Kapital in eine Ausdehnung des Geschäftsbereiches – neue Schiffe, neue Kolonien –, und sie kreierte ein innovatives Profitmodell, das die primitive Brutalität der Spanier in den Schatten stellte: Es wurden nicht mehr nur Bodenschätze geraubt, sondern auch Menschen, also die ihrerseits wertschöpfende Ware Arbeitskraft.

    Millionen Schwarze wurden in Afrika wie Tiere eingefangen, auf Schiffe verschleppt und nach Amerika in die Kolonien gebracht – Sklavenhandel und Sklavenarbeit zum Wohle Englands. In dieser Epoche, wo sich dieser neue Widerspruch entfaltet – einerseits die Habsburger plus die Spanier plus der Vatikan, also die katholischen Mächte, und andererseits die aufsteigende Macht England beziehungsweise Großbritannien –, finden die schrecklichsten Kriege in Europa statt: der Dreißigjährige Krieg in Deutschland, der ein Drittel der Bevölkerung auslöscht; die Kriege, die in England die anglikanisch-protestantischen Könige gegen die katholischen Schotten und Iren führen; die ewigen Feldzüge in Frankreich.

    Das alles waren nur oberflächlich betrachtet Religionskriege, dahinter steckten die rivalisierenden Kräfte des Finanzkapitals. Und diese Kräfte können sich auch in der amorphen politischen Struktur der Gegenwart frei entfalten: im Heiligen Römischen Reich Europäischer Nation.

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