Hat der Internationale Strafgerichtshof die richtige Entscheidung getroffen – oder ist er übers Ziel hinausgeschossen. Und wie ist Israels Krieg im Gaza-Streifen zu bewerten? Ausländische Medien haben unterschiedliche Ansichten. Die strategische Bedeutung der Region verdeutlicht der Historiker Rolf Steininger in seinem Werk „Die USA, Israel und der Nahe Osten“. Die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung auf der Basis umfangreicher Akten. Hier mehr erfahren.

    Die Reaktionen der internationalen Medien auf die vom Strafgerichtshof in Den Haar erlassenen Haftbefehle gegen gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, seinen ehemaligen Verteidigungsminister Joav Gallant und Hamas-Anführer Mohammed Deif fallen höchst unterschiedlich aus.

    „Internationaler Haftbefehl gegen Netanjahu und Gallant – ein Schlüsselmoment im Nahostkrieg“, titelt La Libre Belgique und merkt an, dass dies der Welt noch einmal die ganze Tragweite des Krieges in Gaza vor Augen führe. „Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag will Netanjahu festnehmen lassen“, so die Schlagzeile der in Brüssel erscheinenden Zeitung De Morgen.

    De Standaard, ein weiteres belgisches Blatt schreibt auf Seite eins:

    „Der Haftbefehl gegen Netanjahu ist eine enorme Blamage für Israel.“

    Und Le Soir, eine französischsprachige Zeitung aus Belgien, spricht von einem „weltweiten juristischen Erdbeben“, das der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) durch seine Entscheidung ausgelöst habe.

    Einer Demokratie unwürdig

    Repräsentativ für die meisten bundesdeutschen Blätter dürfte folgender Kommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sein:

    „Kein öffentliches Wort über den genozidalen Terrorangriff, gegen den Israel sich wehrt. In einem Aufwasch werden Haftbefehle gegen Massenmörder und Regierungsmitglieder eines demokratischen Rechtsstaats bekannt gegeben. Der Strafgerichtshof darf sich nicht wundern, wenn ihm bisher treue westliche Staaten die Gefolgschaft verweigern – und die Feinde von Recht und Freiheit ihm zujubeln.“

    Eine weitere Spaltung drohe, „und das ausgerechnet durch ein Gericht, dessen Statut die gemeinsamen Bande aller Völker beschwört und sich besorgt zeigt, ‚dass dieses zerbrechliche Mosaik jederzeit zerstört werden kann‘. So ist es“, konstatiert die FAZ.

    Proteste in Israel: Der Nahe Osten steht in Flammen. Foto: tanitost | Shutterstock.com

    Auch die Jerusalem Post ist erwartungsgemäß wenig erfreut über die Entscheidung des IStGH: „Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass Israel über eine unabhängige Justiz verfügt, die ihre Bürger für Missetaten zur Rechenschaft zieht. Der Internationale Strafgerichtshof beruht indes auf dem Grundsatz der Komplementarität: Das heißt: das Gericht in Den Haag respektiert die Unabhängigkeit der nationalen Rechtssysteme. Zuallererst soll die Justiz in den jeweiligen Ländern Verbrechen strafrechtlich verfolgen.“

    Und weiter: „Dass der Internationale Gerichtshof nun gegen die Führer einer Demokratie vorgeht, könnte dazu führen, dass andere Vertragsstaaten den Gerichtshof verlassen, aus Angst, dass auch sie – beispielsweise im Kampf gegen Terroristen – wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden.“

    Die dänische Zeitung Politiken hingegen hält fest:

    „Israel selbst muss sich fragen, wie es in einem demokratischen Land mit starken Gerichten und soliden staatlichen Institutionen zu solch einem Regierungschef kommen konnte, der nun wegen Kriegsverbrechen beschuldigt wird.“

    Weiter schreibt das in Kopenhagen erscheinende Blatt: „Solange sich Netanjahu nicht stellt oder der Fall auf andere Weise zum Abschluss kommt, müssen wir wirtschaftlich und diplomatisch reagieren. Die regelbasierte Weltordnung, für die wir in der Ukraine kämpfen, muss auch für Gaza gelten.“

    „Niemand steht über dem Völkerrecht“

    Auch die belgische Zeitung Le Soir begrüßt, wie zuvor erwähnt, den Beschluss des Haager Tribunals, zeigt sich aber skeptisch, ob dieser umzusetzen sei:

    „Man kann davon ausgehen, dass die palästinensischen Opfer des schrecklichen Vorgehens Israels im Gazastreifen die Bekanntgabe des Haftbefehls mit skeptischer Zufriedenheit zur Kenntnis nehmen. (…) Die Opfer ahnen, dass es noch lange nicht so weit ist und dass das Schauspiel eines vor den Richtern in Den Haag erscheinenden israelischen Premiers wahrscheinlich nie stattfinden wird.“

    Dennoch stellten die Haftbefehle „einen sehr begrüßenswerten Anfang der internationalen Justiz dar. Etwas, das (knapp) über die Symbolik hinausgeht. Es ist eine Premiere, da noch nie zuvor führende Politiker eines Staates, der als Teil des ‚Westens‘ angesehen wird, eine derartige Schmach erlitten haben.“

    Ähnlich sieht es die in Dublin erscheinende Irish Times:

    „Die Haftbefehle und Israels Weigerung, sie zu vollstrecken oder die Legitimität des Gerichtshofs anzuerkennen, werden die politische Isolation des Landes verstärken. Es ist völlig richtig, dass Netanjahu sich in Den Haag vor Gericht verantworten sollte, aber es ist unwahrscheinlich, dass dies jemals geschieht.“

    Der niederländische Telegraaf hingegen meint, dass der Beschluss des IStGH Terroristen ermuntere. Empört schreibt das Blatt: „Der Gerichtshof scheint zu ignorieren, dass Israel gegen eine barbarische Terrorgruppe kämpft, die geschworen hat, erneut Bürger zu ermorden, zu vergewaltigen und als Geiseln zu nehmen, bis Israel völlig von der Landkarte gefegt ist.“

    Weiter heißt es beim Telegraaf: „Bei der legitimen Ausführung des Rechts auf Selbstverteidigung ist Israel konfrontiert mit einem Feind, der offensichtlich Bürger als menschliche Schutzschilde nutzt. (…) Das alles interessiert den Strafgerichtshof offensichtlich nicht. Dass die Mörderbande von Hamas jubelnd auf die Haftbefehle reagiert, sagt mehr als genug.“

    In dieser Art argumentiert auch die Neue Zürcher Zeitung, wenn sie schreibt:

    „Das Gericht im fernen Den Haag maßt sich an, die militärische Lage im Gaza-Krieg so klar beurteilen zu können, dass es zwischen zulässigen und unzulässigen Opfern in der Zivilbevölkerung unterscheiden kann. In diesem Krieg versteckt sich die Hamas systematisch inmitten der Bevölkerung Gazas und nutzt menschliche Schutzschilde und zivile Einrichtungen, um aus dieser Deckung heraus zu operieren.“

    Dem entgegen steht Ansicht der in Istanbul erscheinenden Zeitung Karar:

    „Die ganze Welt weiß, dass Netanjahu in Gaza ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Jetzt ist es offiziell. Der Internationale Strafgerichtshof hat seine Pflicht getan. Jetzt sind die Vertragsstaaten des Gerichts an der Reihe. Sie müssen Netatanjahu verhaften, sollte er in diese Länder reisen.“

    Die französische Zeitung L’Humanité spricht von einem starken Signal: „Niemand steht über dem Völkerrecht. Die Entscheidung des Gerichtshofes sendet eine Botschaft nicht nur an Israels politische Führung, sondern auch an ihre Verbündeten, an all diejenigen, die Waffen liefern und die Verbrechen gutheißen: Sie werden für ihre Taten, für die Verwüstung, die den Palästinensern zugefügt wurde, zur Rechenschaft gezogen werden.“

    Verdrehung von Fakten

    „Die moralische Verdrehung ist erschütternd“, heißt es hingegen im britischen Telegraph. „Die Terrorgruppe Hamas ist für all den Tod und die Zerstörung in Gaza verantwortlich. Wir bewegen uns auf eine Welt zu, in der das Recht auf Selbstverteidigung jeglicher Bedeutung beraubt wird, in der es nur dann toleriert wird, wenn keine Zivilisten zu Schaden kommen, was natürlich unmöglich ist. Für linke Völkerrechtler würden die Opfer, die der Vormarsch der Alliierten in Europa 1944 forderte, heute sicherlich als Kriegsverbrechen gelten“, schlussfolgert die Zeitung aus London.

    Auch das Wall Street Journal ist der Ansicht, dass Den Haag die Fakten verdrehe:

    „Es war die Hamas, die am 7. Oktober mit ihren Todesschwadronen den Krieg begonnen hat. Die Hamas will dieses Massaker im Gazastreifen wiederholen. Israel verteidigt sich und zog mit dem legitimen Ziel in den Krieg, die Hamas zu zerstören. Die Haftbefehle des Internationalen Gerichtshofes wirken wie eine Entwaffnung jeder westlichen Demokratie, die auf Gräueltaten von Terroristen und Schurkenstaaten reagiert.“

    Die arabischsprachige Zeitung Al Quds Al-Araby aus London erwartet, „dass die Gerichtsentscheidung den Beginn einer umfassenden Auseinandersetzung über die Zukunft internationaler Institutionen darstellen wird – von den Vereinten Nationen, dem Sicherheitsrat bis zum Internationalen Strafgerichtshof. Letzterer wird im Mittelpunkt dieses Konflikts stehen, der darüber entscheiden wird, ob die Welt in der Lage ist, diese Institutionen zu schützen oder ob an die Stelle des Rechts rohe Gewalt treten wird.“

    Europa folgt den USA

    Die europäischen Staaten würden sich in dieser Frage kaum über die USA hinwegsetzen, sagt die französische Tageszeitung Libération voraus:

    „Das französische Außenministerium, das sich gerne rätselhaft ausdrückt, erklärte, dass Frankreich die Maßnahmen des Gerichtshofs ‚stets unterstützt‘ habe, aber dass die Haftbefehle ‚eine komplexe Rechtsfrage‘ darstellten und die Situation daher ‚viele rechtliche Vorsichtsmaßnahmen‘ erfordere. Natürlich ist das gegenteilig zu verstehen: Die rechtliche Frage ist einfach, aber sie erfordert komplexe politische Vorkehrungen. Da die USA die Legitimität der Haftbefehle schon vor dem Amtsantritt des künftigen US-Präsidenten Donald Trump ganz klar abgelehnt haben, ist schwer vorstellbar, dass Großbritannien – oder auch Frankreich – Netanjahu verhaften würden, womit sie riskierten, die Waffen für die Ukraine oder für die NATO zu verlieren.“

    Die Londoner Times findet die Haftbefehle vor allem kontraproduktiv:

    „Die Israelis sind immer noch vom 7. Oktober traumatisiert und viele werden instinktiv versuchen, ihren Premier gegen eine Institution zu verteidigen, die sie als weit entfernt und feindselig betrachten und die darauf aus zu sein scheint, ihr angegriffenes Land in Verruf zu bringen.“

    Und weiter: „Dass unschuldige Bewohner des Gazastreifens, darunter Tausende von Kindern, im letzten Jahr schwer gelitten haben, steht außer Zweifel. Doch das Forum, in dem die israelische Politik und ihre Entscheidungsträger untersucht werden müssen, ist das israelische Rechtssystem. Diese großspurige rechtliche Kriegsführung des IStGH wird lediglich für mehr Aufregung sorgen, nicht für mehr Klarheit.“

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