Heute gedenkt Japan zum 80. Mal des Atombombenabwurfs. Ganz im Unterschied zur BRD steht die Trauer um die eigenen Kriegsopfer im Zentrum des Gedenkens – und verhindert bis heute eine aggressive Militärpolitik. Auszüge aus der August-Ausgabe COMPACT. Hier mehr erfahren

    Kommt man aus Tokio nach Hiroshima, wähnt man sich in einem Kurort. Die Hauptstadt ist ein stampfender und dampfender Betonzyklop, der seine zwölf Millionen Gefangenen tagsüber mit Asphalttentakeln schier erwürgt und nachts mit flimmernden Leuchtreklamen in allen giftigen Farben des Universums in Wolkenkratzerschluchten lockt, wo die feuchte Schwüle niemals weicht.

    Erreicht man nach fünfstündiger Sturzfahrt im Shinkansen-Superexpress das südliche Hiroshima, flimmert die Luft immer noch vor Hitze, aber sie ist trocken und sauber. Eingebettet in immergrüne Hügel, die den deutschen Besucher an den Schwarzwald erinnern, leben heute 1,4 Millionen Einwohner und genießen die Brise, die bisweilen vom Hafen weht. Sechs Flüsse lockern die Wohngebiete auf und laden zum Flanieren ein.

    Im Friedenspark

    Ich war vor 20 Jahren dort und erinnere mich immer wieder an diesen eindrücklichen Tag: Am 6. August steht die Sonne um acht Uhr morgens kaum zwei Handbreit über dem Horizont, und trotzdem versengen ihre Strahlen binnen Kürze die ungeschützte Haut derer, die im Freien sind.

    Die 50.000 Menschen, die sich im Friedenspark versammelt haben, schwitzen in diesem Backofen mit asiatischer Ruhe. Vielleicht erinnern sie sich, dass die aktuellen 30 Grad weniger als ein Hundertstel der Temperaturen sind, die an der selben Stelle und zur selben Zeit 1945 geherrscht haben: Als in 350 Meter Höhe über dem Stadtzentrum die erste Atombombe in der Geschichte der Menschheit gezündet wurde.

    „Little Boy“, wie der neckische Codename der US-Armee für den Viertonnen-Massenmörder lautete, machte Hiroshima dem Erdboden gleich. 200.000 Bürger verbrannten oder verschmorten sofort oder wurden im Laufe der Zeit von der nuklearen Strahlung zerfressen.

    Atompilz von „Little Boy“ über Hiroshima (6. August 1945). Foto: George R. Caron

    In Sichtweite zur traditionellen Friedensgedenkfeier gemahnt ein einziger Ruinenstumpf an die pulsierende Metropole der Vorkriegszeit: die Industriepräfektur, die wegen ihres Kuppelskeletts an eine Kirche erinnert und deswegen heute als Atombombendom bezeichnet wird. Dort ziehen auch an diesem Samstag die endlosen Kolonnen vorbei, die das Inferno nicht vergessen haben: Businessmen und Angestellte in dunklen Anzügen und Kostümen, Schulmädchen in weißen Blusen und blauschwarzen Faltenröcken, Pfadfinder in Khakiuniformen, christliche Nonnen, buddhistische Mönche mit ihren dumpfen Trommeln.

    Trauer und auch Mahnung

    Nach der Verlesung der Namen der im Vorjahr gestorbenen Spätversehrten der Katastrophe, der sogenannten Hibakusha, werden Kränze und Blumengebinde abgelegt. Exakt um 8:15 Uhr, dem Zeitpunkt der Explosion, stoßen eine Mutter und ihr Sohn mit einem Holzklöppel mehrmals gegen die Friedensglocke. Hunderte weißer Tauben flattern auf.

    In der folgenden Dreiviertelstunde werden Grußadressen von den wichtigsten Repräsentanten des japanischen Staates verlesen. Der jeweilige Inhalt ist fast identisch: Trauer um die Toten, Mahnung an die Lebenden, Plädoyers für den Weltfrieden und für die Abschaffung aller Atomwaffen. Wie das erreicht werden soll, wo sich doch die USA als wichtigste Atommacht gegen alle Abrüstungsverpflichtungen des Sperrvertrages wehren und sich die vielen nuklearen Newcomer hinter diesem schlechten Beispiel verstecken – dazu fällt an diesem Tag allerdings kein Wort.

    Nach Sonnenuntergang werden tausende Papierlaternchen an einer Brücke in den Motoyasu-Fluss gesetzt und treiben mit der Strömung zum Meer. Das soll keine romantische Stimmung für Touristen schaffen. Jedes Flämmchen im Wasser erinnert die Bürger Hiroshimas vielmehr an ihre Eltern oder Großeltern, die an jenem 6. August 1945 als brennende Fackeln in den Fluss sprangen – in der vergeblichen Hoffnung, die atomare Glut auf ihrer Haut zu löschen.

    Dem Frieden verpflichtet

    Die Verfassung des Inselreiches ist viel stärker dem Frieden verpflichtet als die deutsche. In Artikel 9 verzichtet „das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg (…) und die Androhung oder Ausübung militärischer Gewalt“. Deswegen „werden Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten“. Mit Beginn des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion wurde diese Verpflichtung mit einem semantischen Trick umgangen: die neue Armee erhielt den Namen „Selbstverteidigungskräfte“, die von einem „Amt für Verteidigungsfragen“ kommandiert werden.

    Ministerpräsident Junichiro Koizumi (2001–2006) wollte den Artikel 9 kippen, fand aber bemerkenswerterweise keine Mehrheit. Sein Nachfolger Shinzo Abe höhlte die Verfassungsbestimmung 2015 immerhin durch einen neuen Kooperationsvertrag mit den USA aus, die in Okinawa immer noch einen ihrer weltweit größten Stützpunkte unterhalten. Aber selbst dieser Hardliner bemühte sich immer wieder um Entspannungssignale und sagte bei Gelegenheit, Japan und die Volksrepublik China seien „unzertrennlich“.

    Nach der offiziellen Zeremonie finden am 6. August in der ganzen Stadt weitere Veranstaltungen statt. Mit 8.000 Besuchern war die bedeutendste bei meinem Besuch 2005 die Großkundgebung der World Conference against A & H Bombs, veranstaltet vom Dachverband der japanischen Atombombenopfer Gensuikyo, der wiederum der Kommunistischen Partei nahesteht.

    Mit aktuell 300.000 eingeschriebenen Mitgliedern ist die KP zwar relativ mobilisierungsstark, lag aber bei den letzten Wahlen nur bei etwas mehr als sechs Prozent. 2014, als Shinzo Abe wieder einmal mit Verfassungsbruch drohte, war sie allerdings auf 14 Prozent gesprungen – und wenn tatsächlich eines Tages wieder Soldaten ins Ausland geschickt werden sollten, wäre das wieder zu erwarten.

    Pazifistische Stimmung

    Tatsächlich ist aber, trotz aller Veränderung in der staatlichen Rhetorik, das Niveau der internationalen Militäreinsätze sehr niedrig geblieben. Von 2003 bis 2006 befanden sich einige hundert japanische Soldaten im Irak – als „Aufbauhelfer“. Sie waren zwar bewaffnet, durften aber nur in Selbstverteidigung schießen – was sie nicht machen mussten. Im Südsudan, auf dem Sinai und auf den Golanhöhen waren einige Jahre lediglich Beobachtermissionen stationiert. Kein Vergleich mit den Kampfeinsätzen der Bundeswehr, die 1999 in Jugoslawien mitbombte, 20 Jahre lang unsere Freiheit angeblich „am Hindukusch verteidigte“, den Franzosen in Schwarzafrika beisprang, vor den Küsten Afrikas Piraten jagt und seit 2022 immer mehr Truppen an die Ostfront verlegt.

    Für die Kontinuität der pazifistischen Stimmung auf den Inseln dürfte eine Geschichtspolitik verantwortlich sein, die sich stark von der deutschen unterscheidet. Während in der BRD spätestens seit der Weizsäcker-Rede 1985 vor allem an die Täter aus dem eigenen Volk erinnert wird, stehen dort immer noch die eigenen Opfer im Vordergrund. Und während der Toten von Dresden nur auf lokaler Ebene gedacht wird, sind die Toten von Hiroshima und Nagasaki bis heute ein zentraler Bezugspunkt der politischen Klasse.

    Den BRD-Linken, die „keine Träne“ für ermordete und vertriebene Deutsche vergießen wollen, stehen die japanischen Kommunisten gegenüber, die die stärkste Kraft der Erinnerung an die Atombombenopfer sind. Gerade daraus leiten sie ihr Nein zur weiteren japanischen Kriegsrüstung ab – während Grüne und Linke hierzulande kein Problem damit haben, Bundeswehreinsätze gegen halluzinierte „Wiedergänger Hitlers“ (Hans Magnus Enzensberger) zu unterstützen, weil sie ein reines antifaschistisches Gewissen zu haben glauben.

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