Vor 80 Jahren ereignete sich die größte Tragödie in der Geschichte der Seefahrt: Ein sowjetisches U-Boot torpedierte ein mit Flüchtlingen überladenes Passagierschiff. Über 9.000 Menschen starben. Wir entreißen die Opfer dem Vergessen – auch in unserer Geschichtsausgabe „Verbrechen an Deutschen“ , über die Sie hier mehr erfahren.
_ von Jan von Flocken
Der Funkspruch stieß im sowjetischen Marinehauptquartier zunächst auf erhebliche Skepsis. Am Morgen des 1. Februar 1945 hatte das U-Boot S-13 aus seinem Operationsgebiet in der Ostsee gemeldet: „30. Januar – 21:08 Uhr aufgetaucht / drei Torpedos abgefeuert. Mit Bestimmtheit Dampfer etwa 20.000 Tonnen versenkt.“
Doch der U-Boot-Kommandant Alexander Marinesko galt als Trunkenbold und Aufschneider. Mehrfach hatte er Erfolgsmeldungen abgesetzt, die sich hinterher als falsch oder stark übertrieben erwiesen. Was er jetzt rapportierte, stimmte indes mit der Wahrheit überein: S-13 verursachte die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten.
Auftrag: Rettung von Flüchtlingen
Tatsächlich hat Marineskos Boot am 30. Januar 1945 abends gegen 19 Uhr, nach drei Wochen ereignislosen Patrouillierens, in der südlichen Ostsee ein großes Schiff entdeckt, das untypischerweise mit voll aufgeblendeten Positionslichtern gen Westen läuft. Es ist die „Wilhelm Gustloff“, die am Mittag des 30. Januar den Kai von Gotenhafen verlassen hat.
Das 1938 in Dienst gestellte Flaggschiff der NS-Urlauberorganisation Kraft durch Freude (KdF) soll jetzt Flüchtlinge aus den deutschen Ostprovinzen vor den Truppen von Stalins Roter Armee retten, die seit Anfang Januar 1945 über die Grenze vorgestoßen sind und dabei unter der Zivilbevölkerung Angst und Schrecken verbreiten.

Am 29. Januar 1939 registriert der Einschiffungsoffizier Waldemar Terres bis 17 Uhr in Gotenhafen 7.956 an Bord gekommene Flüchtlinge, dann hört er auf zu zählen, weil die Lage durch immer mehr nachdrängende Massen, wohl an die 2.500, völlig unübersichtlich wird. Wie viele Menschen sich an Bord befanden, wird man nie exakt ermitteln können.
Heinz Schön, „Gustloff“-Überlebender und einer der profundesten Kenner dieser Materie, kommt auf die Zahl 10.582. Man darf bei aller gebotenen Vorsicht davon ausgehen, dass sich ungefähr 10.300 bis 10.500 Menschen auf dem Schiff drängten: 8.800 Zivilisten, davon eine große Zahl Kinder, sowie etwa 1.500 Angehörige der Wehrmacht, darunter 162 Schwerverwundete, 340 Marinehelferinnen und 918 Soldaten der 2. U-Boot-Lehrdivision.
Dass sich auf einem für nur 1.900 Passagiere und Besatzungsmitglieder ausgelegten Dampfer eine solche Menge zusammenfinden konnte, liegt an der Ausnutzung auch noch der kleinsten Plätze. Man hatte sogar das große Schwimmbecken im E-Deck leerpumpen lassen, um hier 175 Marinehelferinnen unterzubringen, von denen nur zwei überleben sollten. „Auf sämtlichen Fluren, in allen Gängen und in den Kabinen drängten sich die Flüchtlinge. Es gab kein Durchkommen. Die Notdurft wurde in kleinen Ecken verrichtet, auf dem ganzen Schiff roch es nach Kot und Urin“, erinnerte sich Willi Schäfer, damals 25 Jahre alter Matrose in der 2. U-Boot-Lehrdivision.
Die Hölle bricht los
Auf der Höhe vom pommerschen Stolpmünde (heute Ustka) wird das Schiff gegen 20 Uhr vom U-Boot S-13 gesichtet. Da es mit Positionslichtern fährt, ist es ein gut auszumachendes Ziel – gleichzeitig aber ein deutliches Zeichen dafür, dass es sich nicht um ein Kriegsschiff handelt und keine feindlichen Absichten hegt. Immerhin kann die «Gustloff» wegen der wenigen Wehrmachtsoldaten an Bord als Truppentransporter gelten. Ob sie mit Flugabwehrgeschützen bewaffnet war, wie gelegentlich behauptet, ist ungeklärt. Bisher gibt es keinen gesicherten Nachweis, wann, von wem und wie viele Flakgeschütze an Deck montiert wurden.
S-13 feuert gegen 21:15 aus 700 Metern Entfernung insgesamt vier Torpedos ab, von denen drei ins Ziel finden: am Bug, unter dem E-Deck und im Maschinenraum. Sofort stoppen die Schiffsmaschinen, das Licht fällt aus. Auf der Kommandobrücke sieht Kapitän Friedrich Petersen, wie das vordere A-Deck langsam im nur zwei Grad kalten Wasser der Ostsee verschwindet. Das leergepumpte Schwimmbecken tief unter der Wasserlinie wird zuerst getroffen. Nur zwei Marinehelferinnen, die Geschwister Ursula und Rosemarie Resas, können mit Hilfe eines Offiziers, der ihnen den Weg durch das Chaos bahnt, das nackte Leben retten.
Auf den unteren Decks bricht die Hölle los. „Die Menschen laufen nicht, sondern bewegen sich wie eine Raupe nach oben, höher und höher. Meter um Meter“, beschrieb der damals 18-jährige Schön, der sich auf dem über der Wasserlinie liegenden B-Deck befindet, die Situation. Und weiter:
„Unter ihren Füßen Menschenleiber, meist Frauen und Kinder, gefallen, niedergerissen, totgetrampelt. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, bin ich mittendrin in einem Menschenknäuel. Von hinten werde ich auf die Treppe, auf die Stufen voller Lebender und Toter gestoßen. Willenlos werde ich nach oben getragen, eingeklemmt in ein tobendes, schreiendes Menschenbündel.“
Auch wenn die meisten Passagiere mit einer Schwimmweste ausgestattet sind – in der eiskalten, bewegten See haben sie kaum eine Überlebenschance. Andere Rettungsmittel wie Dutzende Kutter, Boote und Flöße, die der 1. Offizier Louis Reese bereitgestellt hat, erhalten einige der Verzweifelten am Leben.
Um 21:36 Uhr, 20 Minuten nach den tödlichen Treffern, nimmt das herbeigeeilte Torpedoboot „Löwe“ die ersten Schiffbrüchigen an Bord. Seine Scheinwerfer erfassen ein Rettungsboot, das gerade abgefiert wird, plötzlich durch Brechen des hinteren Kutterläufers durchsackt und dann senkrecht an der Schiffswand hängen bleibt. „Alle Menschen, die darin waren, stürzten mit lautem Geschrei aus dem Boot auf die Wasseroberfläche.“
Mindestens 9.100 Opfer
Der junge Marinesoldat Manfred Dittrich berichtet in seinem Buch Das letzte Torpedoboot über eine Rettungsaktion: „Uns allen bot sich ein schauriger Anblick (…). Die ganze Wasseroberfläche rings um die ‚Gustloff‘ war aufgewühlt von tausenden um das nackte Leben kämpfenden Menschen. Jeder einzelne versuchte, eines der viel zu wenigen Rettungsboote zu erklimmen (…). Die meisten waren überfüllt und kenterten. Die Menschen in diesen Booten, die sich schon fast als gerettet betrachtet hatten, mussten in die eiskalten Fluten zurück (…) und versanken unter sich überschlagenden Hilferufen in der See.“
Trotz drohender U-Boot-Gefahr gelang es der Besatzung von Dittrichs T 36 nach mehreren Stunden, 564 Männer, Frauen und Kinder vor dem sicheren Tod zu retten und nach Sassnitz auf Rügen zu transportieren. Der U-Boot-Kommandant wurde 1990 postum zum „Helden der Sowjetunion“ ernannt.
Den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ überlebten laut Statistik der Marine 1.239 Personen. Mindestens 9.100 Menschen kamen demnach in den Fluten ums Leben. Als Letzter wird der anderthalbjährige Frank-Michael Freymüller aus Gotenhafen geborgen, seine Mutter und die zehnjährige Schwester Jutta sterben in der eiskalten See. Das Passagierschiff sinkt schließlich mit schwerer Schlagseite gegen 22:15 Uhr.
Tragödien wie die der „Wilhelm Gustloff“ und anderer Schiffe vermitteln den Eindruck, die Evakuierung von Flüchtlingen über die Ostsee sei ein völliges Desaster gewesen. Doch diese Folgerung ist falsch. Tatsächlich retteten Handels- und Kriegsmarine insgesamt 2,4 Millionen Menschen. Dabei gingen 245 Schiffe mit 40.000 Passagieren verloren. Das heißt, 98,3 Prozent aller Flüchtlinge blieben am Leben – eine logistische Meisterleistung der deutschen Marine.
Sie ist das Verdienst von Konteradmiral Conrad Engelhardt, Chef des Seetransportwesens der Wehrmacht. Er setzt ab Mitte Januar 1945 mit Deckung seines Oberbefehlshabers Großadmiral Karl Dönitz und gleichsam hinter Hitlers Rücken alles ein, was an militärischem Schiffsraum zur Verfügung steht: vom Schlachtschiff „Gneisenau“ bis zu Hilfskreuzern, Kriegsfischkuttern und Marinefährprähmen.
Vorbildliche Disziplin
Auch jeder halbwegs seetüchtige zivile Pott wurde von Engelhardts Männern requiriert – vom 25.500 Bruttotonnenregister (BRT) schweren Luxuspassagierdampfer Cap Arcona bis zum Lotsenschoner Prinz Adalbert mit 137 BRT. Sie retten das menschliche Strandgut aus Königsberg, Danzig, Gotenhafen, Pillau, Memel, Kolberg.
All das erfolgt unter größter Lebensgefahr (die Alliierten besitzen die Lufthoheit über der Ostsee, ihre U-Boote lauern in der Tiefe) und unter schwierigsten Bedingungen. Die Schiffe müssen in enge Häfen einlaufen; der Einsatz vorwiegend kleinerer Sicherungsfahrzeuge wird durch unruhige See, Winterstürme und Treibstoffmangel erschwert. Die Disziplin der Flüchtlinge und die vorbildliche Organisation der Kriegsmarine tragen dazu bei, dass diese Massenflucht nicht im Chaos endet.
Das Geschehen um die Gustloff-Katastrophe bleibt lange Zeit im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Sicher auch deshalb, weil es 1959 unter dem Titel Nacht fiel über Gotenhafen unter der Regie von Frank Wisbar verfilmt wird. Heute liegt das Wrack zwölf Seemeilen vor der Ostseeküste in 48 Metern Tiefe. Die Karten des polnischen Seefahrtsamtes verzeichnen es als „Navigationshindernis Nr. 73“.
Der 1963 verstorbene Kommandant von S-13, Alexander Marinesko – er war unehrenhaft aus der Marine entlassen worden und saß wegen Diebstahls zwei Jahre im Gefängnis –, wurde 1990 von KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow postum zum „Helden der Sowjetunion“ ernannt. In Kaliningrad, dem früheren Königsberg, steht ein Denkmal zur Erinnerung an ihn. Ein Mahnmal für die Opfer der „Wilhelm Gustloff“ sucht man vergeblich.
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