Eine alte Weisheit sagt „In dubio pro reo.“ – Im Zweifel für den Angeklagten. Doch stimmt dies auch in deutschen Gerichten? Gilt dies auch im Strafrecht? Strafverteidiger Mario H. Seydel hat jüngst ein Buch vorgestellt, von dem er zu Recht behaupten darf: Es ist das einzige Handbuch für Nichtjuristen. Hier wird geschildert wie so ein Strafverfahren abläuft, was es mit dem Richterrecht auf sich hat, mit was man als Angeklagter zu rechnen hat. Jedoch, es gibt gravierende Fehler im System!

    Hier eine Leseprobe aus dem jüngst von Mario H. Seydel vorgelegten Buch „Der Strafwandler. So funktioniert Strafverteidigung“:

    „»Herr Rechtsanwalt, dafür gibt es doch gar keinen Beweis. Da ist doch nur die Anzeige von meiner Nachbarin. Das kann doch nur ein Freispruch werden.«
    So oder so ähnlich argumentieren die Mandanten, wenn sie vor einem sitzen und dem Anwalt das Recht erklären. Kein unbeleckter Mandant will glauben, dass die Realität in deutschen Gerichtssälen ganz anders aussieht.

    Die Vorstellungen der meisten Bürger ist durch amerikanische Serien geprägt; »Einspruch Euer Ehren«. Ein System, das nur bedingt mit dem unseren vergleichbar ist. In diesen Staaten gibt es auch die sogenannte balance of probabilities. Das Gericht muss alternative Handlungs- und Geschehensabläufe berücksichtigen und deren Wahrscheinlichkeit in das Urteil mit einbeziehen. Formfehler der Polizei führen zwingend zu einem Beweisverbot. Ein Urteil muss beyond reasonable doubt sein, also jenseits von vernünftigen (sich dem gesunden Menschenverstand aufdrängenden) Zweifel gefällt werden.

    Der Richter als Blackbox

    In Deutschland wird die Urteilsbildung allein der richterlichen Überzeugung überlassen (§ 261 StPO). Was dies bedeutet, ist für einen Laien nicht nachvollziehbar (für Strafverteidiger übrigens oft auch nicht).
    Gemeint ist damit: Der Richter kann urteilen, wie er will, solange er nur alle Beweismittel im Gerichtssaal wahrgenommen hat. Er kann auch gegen den gesunden Menschenverstand und gegebenenfalls gegen die allgemeine Lebenserfahrung entscheiden.

    Der Richter erscheint wie eine Blackbox, deren Entscheidungsprozesse verborgen bleiben. Er kann nur nach seinen eigenen Erfahrungen urteilen, die sich nicht mit den Ihren (oder 90% der übrigen Bevölkerung) decken müssen. Bei der Entscheidungsfindung spielen genauso seine Vorurteile, Herkunft, Bildung, Alter und Klischees eine Rolle, wie bei allen Menschen. Sie dürfen also von einem Richter nicht mehr Urteilsvermögen erwarten als von den meisten anderen erwachsenen Mitmenschen.

    Der Amtsrichter ist in der Regel eine Insel. Er beginnt nach dem Studium und dem Referendariat seinen Beruf. Eine Ausbildung in Psychologie, Kommunikation oder Kriminalistik hat er nicht erhalten. Menschen kamen während seiner gesamten Ausbildung, wenn überhaupt nur kurz im Referendariat vor.

    Von Professoren und Ausbildern ausgedachte Sachverhalte haben seine gesamte Ausbildung bestimmt. Er bewegt sich privat in seiner Gesellschaftsschicht und war meist noch nie den Unbilden der freien Wirtschaft ausgesetzt. Dieser Richter betritt irgendwann seinen Gerichtssaal und ist von diesem Zeitpunkt an der König seines kleinen Reiches. Er entscheidet, ob ein Zeuge lügt oder nicht. Er urteilt, ob die Angaben des Angeklagten nur eine Schutzbehauptung sind. Und er ist frei, über jede Logik hinweg zu entscheiden. Alles misst er an dem, was er weiß (egal, ob richtig oder falsch). Seine Erfahrungen sind die Messlatte für seine Urteile. Für schwierige Fragen holt sich der Richter einen Sachverständigen, der ihm die Verantwortung seiner Entscheidung zu dieser Frage abnimmt.

    Viele Richter meinen, dass sie nach mehrjähriger Berufstätigkeit genau sagen können, welcher Zeuge oder Angeklagte lügt und welcher die Wahrheit sagt. Untersuchungen zeigen, dass dies für Richter genauso wenig zutrifft, wie für Polizisten, Staatsanwälte, Rechtsanwälte oder Otto Normalverbraucher.
    Dieses Ergebnis ist auch nicht verwunderlich, da alles Lernen immer ein Prozess von Versuch und Irrtum sowie von positiver und negativer Rückkopplung (positivem und negativem Feedback) ist.

    Man kann also nur lernen, wenn man erkennt, ob man seine Aufgabe richtig oder falsch gemacht hat und danach sein Handeln korrigiert. Der Amtsrichter entscheidet nach seinem Dafürhalten (Bauchgefühl), wann der Zeuge oder der Angeklagte lügt. Er kann nicht erkennen, ob er mit dieser Annahme richtig lag oder nicht. Folglich kann er auch nicht lernen. Genauso wenig wie ein Schüler, der einsam im Klassenzimmer vor seinen Matheaufgaben sitzt und für sich entscheidet, dass 3 + 5=4 ist. Im Übrigen ist der Amtsrichter vorgeprägt durch das Aktenstudium. Seine Meinung steht quasi fest. Er geht, wenn er die Anklage zugelassen hat, davon aus, dass Ihre Verurteilung überwiegend wahrscheinlich ist, obwohl er nur den Sachverhalt aus der Sicht der Staatsanwaltschaft und Polizei kennt.

    In der Regel wird er Ihre Sachverhaltsdarstellung im Gerichtssaal für eine Schutzbehauptung halten, wenn sie nicht zu der Geschichte passt, die bereits in seinem Gehirn thront. Dieses vorausgeschickt, darf man von den Zweifeln, die den Entscheidungsprozess für den Angeklagten entscheiden, nicht zu viel verlangen.
    Sie betreten den Gerichtssaal und sind quasi schon verurteilt. Für Sie sprechen, wie im normalen Leben auch, ihr Aussehen, Ihre Kleidung und Ihr Benehmen. Ihre Argumente müssen schon gewichtig sein, um beim Richter einen Zweifel auszulösen.

    Damit haben Sie zu rechnen

    Oft lesen Sie in Zeitungen oder hören in den Nachrichten von Strafverfahren, die Monate oder gar Jahre dauern, Dutzende oder gar Hunderte von Verhandlungstagen dauernd. Sie hören und lesen von Zeugen und Sachverständigen, die die Tat aufklären sollen. Es wird über Juristen berichtet, die um die Wahrheit ringen. Haben Sie da einen Zweifel, dass wir in einem Rechtsstaat leben und es nahezu unmöglich ist, dass Menschen zu Unrecht angeklagt und verurteilt werden? Es gilt ja schließlich der Grundsatz: »Im Zweifel für den Angeklagten«. Tief sitzt auch das Vertrauen in unsere Polizei, die die Zuarbeit für Staatsanwaltschaft und Gerichte liefert.

    Auf den folgenden Seiten werde ich Ihnen über unser Strafrechtssystem berichten und Fakten und Umstände schildern, die meine These unterstützen:

    »Das Grundkonzept unserer Strafrechtspflege ist Willkür, die Ergebnisse von Ermittlungs- und Strafverfahren sind zufällig und nicht vorhersehbar. Es wird nicht versucht, den tatsächlichen Lebenssachverhalt aufzuklären, noch Gerechtigkeit zu produzieren. Das Strafverfahren ist lediglich ein Verwaltungsvorgang, bei dem ein angezeigter Sachverhalt verwaltungstechnisch abgearbeitet und zu einem – im Rahmen des Gesetzes – vertretbaren Abschluss gebracht wird.«

    Oder: «Vor Gericht und auf hoher See sind alle in Gottes Hand«.

    Die Juristenausbildung

    Sie wollen sich Ihr Dach neu decken lassen? Wen suchen Sie, um diese Arbeit ausführen zu lassen? Die Antwort liegt auf der Hand. Sie wählen eine Firma, die in der Handwerksrolle steht. Nach alter handwerklicher Tradition können Sie davon ausgehen, dass die Dachdecker dieser Firma eine Lehre durchlaufen haben, sich mit dem Material auskennen und wissen, wie sie welche Werkzeuge zu benutzen haben. Die nötigen Handgriffe haben die Dachdecker bereits tausende von Malen geübt, bevor sie die Arbeiten eigenverantwortlich ausführen durften. Das Ergebnis der Leistung ist überprüfbar. Die Regeln für das Dachdecken sind bekannt und selbst interessierte Laien können die Arbeit anhand dieser Regeln beurteilen.

    Ihr Blinddarm schmerzt? Keine Sorge, wir leben in einem Land, in dem Ärzte erst auf Patienten »losgelassen« werden, nachdem ihnen die theoretischen Grundlagen ihrer Arbeit beigebracht wurden und erfahrene Kollegen ihnen gezeigt haben, wie man sich praktisch – ohne allzu viel Schaden anzurichten – durch die Eingeweide des Patienten wühlt.

    In beiden Beispielen sieht man, dass in Deutschland die Berufsausübung davon abhängig gemacht wird, dass man sowohl die theoretischen wie praktischen Grundlagen des Berufes kennen muss. Insbesondere, wenn die Tätigkeit mit Gefahren verbunden ist, muss gewährleistet sein, dass der Handwerker, Arzt, Busfahrer durch eine Prüfung nachgewiesen hat, dass er seinen Beruf sowohl praktisch, wie auch theoretisch beherrscht.
    Wie sieht das nun bei den Juristen im Strafverfahren aus?
    Die Juristenausbildung ist zweistufig. Egal, welchen Beruf der Jurist später ergreift, durchlaufen alle Juristen mehr oder weniger die gleiche Ausbildung.

    Stufe 1: Universitätsstudium

    Hier werden die Grundlagen der Auslegung von Gesetzen vermittelt.
    Berufsbezogene Fähigkeiten spielen hier keine Rolle. Im Wesentlichen handelt es sich um ein Philosophiestudium. Anhand von vorgefertigten Sachverhalten soll der Student, den Normalfall weitgehend auslassend, sich an den Problemfällen der Juristerei üben. Diese Sachverhalte haben selten praktische Relevanz und helfen dem zukünftigen Strafjuristen nicht in der Alltagsarbeit.

    Beispiel:
    A will B erschießen, der, so vermutet A, sich in einem Busch versteckt hält. Tatsächlich sucht aber C im Busch nach Ostereiern. A erschießt C.
    Wie ist die Sache strafrechtlich zu würdigen?

    Ein Bahnarbeiter steht an einer Weiche und sieht einen Zug herannahen.
    Fährt der Zug weiter auf dem Gleis, wird er mit einem Schulbus kollidieren, der mit einem Motorschaden auf dem Gleis stehengeblieben ist. Im Bus sitzen 30 Schüler. Der Bahnarbeiter könnte den Zug auf ein Nebengleis lenken, indem er die Weiche umlegt. Auf dem Nebengleis bessern gerade zwei Streckenarbeiter die Schienen aus. Der Bahnarbeiter könnte 30 Kinder retten, wenn er dafür die Streckenarbeiter »opfert«. Wie ist der Sachverhalt strafrechtlich zu bewerten?

    Strafrecht spielt in der universitären Ausbildung nur eine untergeordnete Rolle. Neben dem Strafrecht werden das Zivilrecht sowie das Verwaltungs- und Verfassungsrecht vermittelt. Diese Rechtsgebiete untergliedern sich wieder in weitere Teilgebiete, wie das Familienrecht, das Arbeitsrecht, das Handelsrecht, das Wertpapierrecht, das Völkerrecht, das Baurecht, das Polizei- und Ordnungsrecht usw.

    Diese Fächer werden, ohne ein bestimmtes Berufsbild im Kopf, gelehrt und gelernt. Das Problem wird zum Selbstzweck. Hauptaufgabe ist es, das Problem, das sich irgendwo im Text »versteckt«, zu finden und regelkonform zu lösen. Die praktische Relevanz dieser Ausbildung tendiert für den Juristen, der sich später mit dem Alltagsgeschäft in irgendeinem deutschen Strafgericht beschäftigen muss, gegen Null.

    Das Universitätsstudium wird, wenn man später als Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt arbeiten will, mit einem Staatsexamen abgeschlossen, der ersten juristischen Staatsprüfung. Für die Abnahme dieser Prüfung ist jedoch nicht die Universität, sondern eine spezielle Behörde, das Justizprüfungsamt, zuständig. Die Prüfung besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Prüfungsteil.

    Stufe 2: Referendariat

    Im Referendariat bekommen die zukünftigen Berufsjuristen einen Einblick in die praktische Arbeit der unterschiedlichen Berufsfelder der Juristen. Für einen Zeitraum von je vier Monaten nimmt der Referendar an der Arbeit der Juristen in Gerichten, Behörden und Rechtsanwaltskanzleien teil. Er beschäftigt sich damit, zivilrechtliche Urteile zu formulieren, oder bearbeitet Akten in der Verwaltung, lernt es, Anklagen zu fertigen oder bei einem Rechtsanwalt Klagen zu schreiben. Der Ausbildungserfolg dieser Referendarstationen ist höchst zweifelhaft. Es bleibt dem Zufall überlassen, ob und gegebenenfalls wie der Referendar ausgebildet wird. Ein didaktisches Konzept fehlt hier ebenso, wie in der universitären Juristenausbildung.
    Die Prüfung, die diesen Ausbildungsabschnitt abschließt, zweite juristische Staatsprüfung genannt, kann problemlos bestanden werden, ohne die Referendarstationen durchlaufen zu haben. Auch hier sind wieder ein schriftlicher und ein mündlicher Prüfungsteil zu absolvieren. Der schriftliche Teil besteht aus vorgegebenen Sachverhalten, die vom Prüfling juristisch zu beurteilen sind.

    Eine praktische Prüfung, wie z. B. das Leiten einer Verhandlung oder die Vernehmung eines Beschuldigten bzw. Zeugen wird nicht gefordert.

    Der Jurist wird bis zum Schluss seiner Ausbildung auf die Auswertung und Beurteilung von Texten konditioniert. Er sucht deshalb stets nach »Papier«, das er einordnen und bewerten kann. Im Strafverfahren ist das die Ermittlungsakte.

    Nebenbei möchte ich noch erwähnen, dass die Ausbildung der Juristen nicht nur nicht auf einen konkreten Beruf ausgerichtet ist, sondern das Ergebnis in beiden Teilen dem Zufall überlassen wird. Das zeigt sich daran, dass die Prüfungsergebnisse, im Vergleich zu anderen akademischen Ausbildungen, die schlechtesten sind. In der Regel verteilen sich die Noten nach der Gaußschen Normalverteilung. Die meisten Prüflinge bewegen sich mit ihren Noten im Dreier-Bereich. Zu beiden Seiten der 3 fällt die Kurve ab. Die Ergebnisse der juristischen Staatsprüfungen zeigen ein Maximum im Bereich 3- bis 4, wobei es nahezu keine Einser und nur sehr wenige Zweier gibt. Die Juristen haben deshalb 7 Notenstufen eingeführt.
    Die Note 3 ist in die Teilnoten »vollbefriedigend« und »befriedigend « geteilt. Es hat sich praktisch über Jahrhunderte nichts an der Juristenausbildung in Deutschland verändert.

    Einstellungsvoraussetzungen für Richter und Staatsanwälte

    Das nahezu einzige Einstellungskriterium ist das Examensergebnis, also die Frage, inwieweit der Bewerber in der Lage ist, vorgefertigte Texte juristisch zu beurteilen.
    Die Tradition anderer Rechtssysteme, Richter aus der Anwaltschaft zu wählen, damit bewährte Juristen Entscheidungen fällen, die von einer gewissen Lebenserfahrung getragen werden, gibt es in Deutschland nicht.“

    Das Buch ist im Kai Homilius Verlag erschienen und kann man hier bestellen.

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