Gedanken zum Karsamstag: Über Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes» sind viele Missverständnisse im Umlauf. Was wollte der Geschichtsdenker nach dem Ersten Weltkrieg mit diesem Buch zum Ausdruck bringen – und was kann es uns heute noch sagen? Wie vielseitig und reichhaltig unser Beitrag zum Abendland ist, zeigt der Prachtband «Die Schönheit unserer deutschen Kultur» auf eindrucksvolle Weise. Hier mehr erfahren.
_ von Benedikt Kaiser
Oswald Spengler (1880–1936) gilt als Prophet des Niedergangs, als Vorläufer nationalsozialistischer Weltanschauung, als Verkünder des Verfalls. Doch so einfach ist das nicht. Den Niedergang bejammerte er keineswegs, die Nazis verspottete er sogar (unter anderem wegen ihres Rassenwahns) und den Verfall sah er als unvermeidlichen Bestandteil einer Abfolge von Kulturzuständen, eines «Zyklus».
Viele Missverständnisse ranken sich um sein Epochenwerk. Der erste Band von Der Untergang des Abendlandes wurde 1917 abgeschlossen und erschien ein Jahr später (der zweite Band folgte erst 1922). Er machte seinen Autor über Nacht berühmt. Spengler schrieb dieses Buch im Weltkrieg. Mit dem deutschen Sieg rechnete er fest. Doch als das Werk auf den Markt kam, taumelte das Reich: Seine Heere hatten kapituliert, sein Kaiser hatte abgedankt, es drohten Revolution und Bürgerkrieg.
Man suchte Gründe für die Katastrophe. Man suchte sie im Hinterland («Dolchstoß»!), man suchte sie beim Feind, man suchte sie in der Philosophie. Und hier fanden viele das Diktum vom «Untergang des Abendlandes» passend, weil sie selbst so empfanden: Hier ging eine Epoche unter. Das war mehr als nur eine Kriegsniederlage. Hier litt eine ganze Kultur, ein ganzer Kulturraum. Die Menschen schwankten zwischen Trauma und Apokalypse.
Spengler bediente diese Stimmung. Der «Untergang» war bei ihm ein unvermeidbarer Prozess. Er stellte «Kultur» und «Zivilisation» gegenüber: Letztere sei immer das «Schicksal» ersterer. Das heißt: Zivilisationen sind das Reifestadium der Kulturen: Man hat hier die Spitze erreicht. Doch nach einer Spitze, nach einem Gipfel – da geht es bergab.
Sein Werk «Der Untergang des Abendlandes» wich von der vorherrschenden Auffassung «linearer», direkter, «fortschrittlicher» Geschichtsentwicklung ab. Seine Vorstellung war «zyklisch». Der Geschichtsphilosoph ging davon aus, dass der Lebensweg der von ihm beschriebenen acht großen Kulturräume circa alle eintausend Jahre lang in festen Reifegraden verlaufen war – vergleichbar Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Nach dem langen Aufstieg einer Kultur folgt der Verfall, und das gelte natürlich auch für das Abendland. Was bedacht werden muss: Spenglers Untergangsprophetie war keine feststehende Doktrin. Es war ein Vorschlag zur Weltdeutung, in dem die Kulturen – und nicht etwa die Produktivkräfte und Klassen wie bei Karl Marx – zu den Trägern des Lebens gemacht wurden, zu den Motoren der Menschheitsgeschichte. Vieles ist befremdlich oder spekulativ, der Autor möchte «Seelen» ergründen, Sinngebungen prüfen.
Anderes ist nachvollziehbar – auch heute noch: Am Ende jeder Kultur stehen die Weltstädte. Einst Babylon oder Alexandria – heute Berlin oder New York. Hier leben die Massenmenschen genusssüchtig, abgestumpft. Die Bedeutung des Geistes wurde durch das Geld aufgehoben. Hier dominieren Finanzkapitalisten, Börsenspekulation gedeiht. Auf der letzten Stufe, so fasst Frank Lisson die Quintessenz zusammen, sei «das Geld endgültig zur Herrschaft gelangt, der Geist hat stark an Bedeutung verloren, und das Ideal der Meinungsfreiheit sei zur Farce geworden, da die Massenmedien, zum Mittel der Parteiendiktatur verkommen, der Menge vorformulieren, was sie wollen soll». Wer erkennt da nicht Aspekte der Gegenwart wieder?

Aufgeben ist keine Option
Aber war Spengler deshalb reiner Pessimist? Wollte er «fatalistisch» akzeptieren, was da kommt? Sagte er, der Mensch könne nichts ausrichten? All das wird ihm vorgeworfen. All das ist: falsch. Zum einen meinte er mit «Untergang» einer Kultur nicht den Untergang im Sinne einer Schiffskatastrophe wie bei der Titanic, sondern «Vollendung» und Übergang zu Neuem. Zum anderen war er, der Optimismus als «Feigheit» bezeichnete, deshalb noch lange kein Pessimist.
«Pessimismus», so Spengler, heiße, keine Aufgaben mehr zu sehen. Er hingegen schrieb 1921 – also zwischen Erst- und Zweitband des Untergangs –, dass es noch so viele Aufgaben zu meistern gebe, dass er Angst bekomme, Menschen und Zeit würden nicht ausreichen, um diese zu bewältigen. Der Autor machte die Kehre: Nicht trauern, nicht nostalgisch werden, sondern ganz gegenwärtig an der Gestaltung der neuen Welt teilhaben: «Wenn unter dem Eindruck dieses Buchs sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche.»
Oswald Spengler schrieb nicht nur dieses Mammutwerk, sondern er verfasste auch Reden, Aufsätze und weitere Bücher. Der Philosoph war kein Defätist, der sich in sein Studierzimmer zurückzog, um alles Weitere dem Schicksal zu überlassen. Er mahnte seine Leser, den Kampf anzunehmen und sich zu bilden. Das Standhalten auf dem sprichwörtlichen verlorenen Posten – bei Spengler ist es nicht sinnlos. Da Leben Kampf bedeute, müsse der Mensch, der noch lebt, der noch leben will, kämpfen. So startet die Mission des «Dennoch die Schwerter halten!», die der Dichter Gottfried Benn wenige Jahre danach aufgreifen sollte.
Die Zyklen bei Spengler
«Alle Kulturen durchlaufen nach Spengler einen Frühling (in der antiken Kultur die Zeit zwischen Homer und Hesiod, in der abendländischen die germanische Frühzeit und das Hochmittelalter), einen Sommer (Vorsokratiker, Pythagoräer – Reformation, cartesianisches Zeitalter), einen Herbst (Sophisten, Plato, Aristoteles – Aufklärung, Goethe, Hegel) und einen Winter (Hellenismus, Stoizismus – Darwin, Marx, Nietzsche). Dabei bilden sie während der jeweils parallelen Epochen in Kunst, Wissenschaft und Politik verwandte, gleichwohl kulturspezifische Formen, Inhalte und Abläufe aus (zum Beispiel Dorik «gleichzeitig» mit Gotik, griechische Geometrie mit moderner Infinitesimalmathematik, Stoizismus mit Sozialismus). Nach dem «Klimakterium» der jeweiligen Kultur folgt jedoch unvermeidbar das Zeitalter des kulturlosen Fellachentums, der «Plebejermoral» und des Nihilismus: «Sie predigen das Evangelium der Menschlichkeit, aber es ist die Menschlichkeit des intelligenten Stadtmenschen (…), der die Kultur satt hat, dessen reine, nämlich seelenlose Vernunft nach einer Erlösung von ihr und ihrer gebietenden Form sucht. (…) Die Heraufkunft des Nihilismus (…) ist keiner der großen Kulturen fremd. Sie gehört mit innerster Notwendigkeit zum Ausgang dieser unzähligen Organismen.» (Ulrich March im Sezession-Sonderheft Spengler, Mai 2005)
Spengler war überzeugt, dass auch die Deutschen noch Aufgaben hätten. Eine sei es, die soziale Frage von Marx zu befreien, wie er 1919 in Preußentum und Sozialismus schrieb. Einhundert Jahre später ist dieser Gedanke plötzlich wieder brandaktuell. Eine andere Aufgabe sei es, in einer Zeit der Beliebigkeit und des Individualismus ein authentisches Pflichtgefühl zu verinnerlichen, angesichts zahlreicher Irrungen und Wirrungen standzuhalten. Für die Jugend, so Spengler 1924, sei es «heilige Pflicht (…), sich für Politik zu erziehen». Wie schwer erscheint diese Aufgabe im heutigen Zeitalter von Dauerpartys, Social Media, Netflix und anderer Möglichkeiten endloser Zerstreuung…
Der Philosoph kannte weder Playstation noch Großraumdiscos. Aber er wusste um die Gefahr des abgestumpften Geistes. Gegen diesen brachte er den Drang des «faustischen» Menschen in Stellung, der immer weiter nach Wissen und Vollendung strebt, der Leben und Erleben will. «Lieber ein kurzes Leben voller Taten und Ruhm als ein langes ohne Inhalt», sollte er 1931 in Der Mensch und die Technik verkünden. Die Zeit lasse sich nicht anhalten, zurückdrehen schon gar nicht. Daher gelte es, die Herausforderung anzunehmen und den Weg mutig weiterzugehen: Aufgeben? Keine Option!
Der angebliche Endzeitpessimist kann also auch heute noch Hoffnung spenden: Nach der Prognose im Untergang des Abendlandes beginnt um das Jahr 2200 ein neuer Zyklus, in dem die westliche Zivilisation abgelöst wird: Die Welt werde dann vom russischen Kulturkreis angeführt…
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