Die Vergiftung des Doppelagenten Skripal und das seitherige Kesseltreiben gegen Russland wirkt wie eine billige Wiederholung einer Inszenierung vor 12 Jahren.
_ von Jürgen Elsässer
Ein Mordanschlag auf einen ehemaligen russischen Agenten in Großbritannien, der Putin angelastet wird, gegenseitige Ausweisung von Diplomaten, Eiszeit zwischen Ost und West: Was gegenwärtig passiert, ist 2006 schon einmal passiert. Mach‘s nochmal, Uncle Sam – möchte man rufen.
In der Nacht von 1. auf 2. November 2006 wurde der ehemalige KGB- und FSB-Agent Alexander Litwinenko in London mit radioaktivem Polonium vergiftet. Er war 2003 zum britischen Geheimdienst MI6 übergelaufen. Nach qualvollen Tagen verstarb er im Krankenhaus.
Spur zu Beresowski
Zu den Verdächtigen gehörten mehrere Personen: Dimitri Kowtun und dessen Geschäftspartner Andrej Lugowoj, mit denen Litwinenko am Nachmittag an der Bar des Millenium-Hotels am Grosvenor Square zusammensaß. Lugowoj wurde in der Presse meist als ehemaliger KGB-Mann bezeichnet, was den Verdacht gegen den Kreml erhärten sollte. Tatsächlich arbeitete er Anfang der neunziger Jahre als Personenschützer für die damalige Staatsspitze unter Präsident Boris Jelzin, unter anderem für Premier Jegor Gaidar, einen der Protagonisten der räuberischen Privatisierung. 1996 quittierte Lugowoj aber den Staatsdienst und wurde Chef des Sicherheitsapparats des vom größten Oligarchen und mächtigsten Putin-Gegner Boris Beresowski betriebenen Fernsehsenders ORT. Beresowskis Stern begann nach Putins Einzug in den Kreml (2000) zu sinken. Die Justiz warf dem Milliardär vor, Gelder der von ihm mehrere Jahre lang kontrollierten staatlichen Fluggesellschaft Aeroflot hinterzogen zu haben. Der ehemalige Aeroflot-Vizedirektor Nikolai Gluschkow kam in Untersuchungshaft. Im April 2001 versuchte Lugowoj, diesen Gluschkow gewaltsam zu befreien. Die Aktion scheiterte, Lugowoj wurde zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßung seiner Strafe zog er zusammen mit Kowtun eine Wach- und Sicherheitsfirma am Stadtrand von Moskau auf. In Lugowojs Londoner Hotelzimmer war die Poloniumkonzentration so hoch, daß sich das Gift in größeren Mengen dort befunden haben muß. Einige Tage vor dem 1. November war Lugowoj schon einmal in London gewesen, und zwar im Sheraton Park Lane Hotel, direkt hinter dem Büro, das der nach London ausgewanderte Beresowski in der Down Street unterhält. – Gegen Kowtun streute das „Neue Deutschland“ 2006 in der Dienstagausgabe den Verdacht, er müsse Verbindungen zum BND gehabt haben. Anders habe der 1991 aus der Sowjetarmee desertierte Offizier in Deutschland nicht so schnell geschäftlich tätig werden und eine unbeschränkte Aufenthaltsgenehmigung bekommen können.
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Spur zu Cheney
Der zweite wichtige Termin Litwinenkos am Tag seiner Vergiftung fand im Sushi-Restaurant Itsu am Piccadilly 167 statt. Hier konferierte er mit Mario Scaramella. Litwinenko verdächtigte auf dem Totenbett den Italiener, ihn im Auftrag des KGB vergiftet zu haben. Das ist absurd, da Scaramella gegen den russischen Geheimdienst gearbeitet hat: Als wissenschaftlicher Berater diente er einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß, den die Regierung von Silvio Berlusconi vor den Neuwahlen im April 2006 eingesetzt hatte. »Scaramella fiel durch die nicht bewiesene Behauptung auf, der derzeitige Ministerpräsident Romano Prodi habe mit dem KGB in Verbindung gestanden«, meldete die FAZ nach dem Litwinenko-Mord. Und weiter: »In Italien wird derzeit gegen Scaramella wegen Geheimnisverrat und Waffenhandel ermittelt. Im Falle eines illegalen Uranhandels hatte sich Scaramella zuvor selbst gestellt.« Der Mann hatte offensichtlich Zugang zu radioaktiven Substanzen. Scaramella will Litwinenko in der Sushi-Bar eine Todesliste einer KGB-Seilschaft übergeben haben, auf der auch ihrer beider Name stand. Die hat er angeblich von dem russischen Exgeheimdienstler Jewgenij Limarew bekommen, der dies jedoch in der Tageszeitung La Repubblica dementierte. Und Limarew packte noch mehr aus: Demnach soll Scaramella über sein dubioses »Präventionsprogramm gegen Umweltkriminalität« enge Beziehungen zum Pentagon-Geheimdienst haben. Scaramella habe sich gebrüstet, er könne sich auf »Dick Cheneys Team im Weißen Haus« verlassen.
Putin ist wie immer schuld
Die Beschuldigten wurden von Russland nicht ausgeliefert. Der britische Abschlussbericht zu dem Kriminalfall wurde nach fast zehn Jahren, am 21. Januar 2016, offiziell vorgestellt. Er kam zu dem Ergebnis, dass der FSB den Mord in Auftrag gegeben habe und die Operation „wahrscheinlich“ von Präsident Putin gebilligt wurde. Russland kritisierte den Bericht als politisch motiviert und die Beweise als nicht überprüfbar, da von London unter Verschluss gehalten.
„England erinnert sich mit Schaudern an den Giftmord an Alexander Litwinenko“, schreibt der „Stern“ aktuell zum Giftanschlag auf Skripal. „Alles schon da gewesen, vor elfeinhalb Jahren.“ Das ist nicht falsch, sondern verkehrt: Die Schuldigen sind wohl dieselben, aber sie sitzen nicht in Moskau.
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