Die heutige Geschichtsschreibung verteufelt die Wikinger. Dabei verdanken wir ihnen wunderbare Sagen – und eine große Entdeckung. Ein Ort in Schleswig-Holstein war lange ihr wichtigster Stützpunkt. Mehr über die rauen Gesellen lesen Sie in COMPACT-Geschichte «Die Germanen». Wie unsere Vorfahren wirklich waren. Hier mehr erfahren.

    _ von Marion Schmeer

    Jeder Geschichtsinteressierte, der sich mit den Wikingern beschäftigt, wird als erstes auf den Überfall auf das Kloster Lindisfarne an der schottischen Ostküste am 8. Juni 793 stoßen. Er hat das christliche Abendland derart erschüttert, dass das Deutschlandradio noch über 1200 Jahre später dem Jahrestag dieser Attacke einen Bericht mit dem Titel «Noch nie hat sich solcher Terror ereignet» widmete. Auch andere Mainstreammedien bezeichnen die Wikinger als «Terroristen», «betrunkene Plünderer» oder «die Hells Angels des Mittelalters».

    Nach ihrer Moral galt menschliche Rücksicht ausschließlich dem eigenen Stamm.

    Doch waren sie das wirklich? Zunächst muss man sich klar machen, dass der Wertekodex der Wikinger ein anderer war als der des Christentums. Keiner der Krieger hatte in jenen Zeiten das Bewusstsein, sittliche Normen zu überschreiten, wenn er zu einem Raubzug aufbrach. Nach ihrer Moral galt menschliche Rücksicht ausschließlich dem eigenen Stamm, der eigenen Sippe oder auch der eigenen Bootsgenossenschaft. Die Werte der Nordmänner waren Tapferkeit, Zusammenhalt der Sippe, Treue gegenüber dem Jarl (Fürst) oder dem Seekönig. Ihre Moralauffassung verlangte Auge um Auge, Zahn um Zahn. Niemand wäre auf die Idee gekommen, bei einem Schlag auf die rechte Wange auch die linke hinzuhalten, wie es das Christentum predigt.

    Die fliegenden Drachenschiffe

    Wer nachdenkt, muss sich außerdem die Frage stellen: Wie sind die wilden Kerle aus ihrem Herkunftsland Norwegen überhaupt nach Lindisfarne gekommen? Damit ist man bereits bei der ersten herausragenden Eigenschaft dieses geheimnisumwitterten Volkes: Die Wikinger waren berühmte Schiffsbauer, deren Langbooten mit Drachenköpfen die damaligen Kontinentalmächte nichts entgegensetzen konnten. Die kühne Konstruktion wurde im achten Jahrhundert entwickelt, bot Raum für bis zu 200 Krieger und war bis zu 50 km/h schnell.

    Die Wikinger verbauten die Planken immer in Richtung der natürlichen Baumfasern. Daher waren sie extrem belastbar und konnten kaum brechen. Das Langschiff hatte einen besonders geringen Tiefgang und konnte deshalb neben dem Meer auch Flüsse befahren. 1997 fanden Archäologen in Roskilde in Dänemark bei Ausgrabungen ein 37 Meter langes Wikingerschiff, das 180 Männer aufnehmen konnte.

    Eines der berühmten Drachenschiffe, mit denen die Wikinger einst über die Weltmeere segelten. Foto: ANMM

    In ihrer Heimat Norwegen waren die späteren Eroberer zunächst Bauern, dann in erster Linie Händler. Sie bauten ein Handelsnetz auf, das 1.500 Kilometer umspannte. Nordmänner gründeten Dublin in Irland, bereisten die Normandie, und der Wikingerstamm der Rus fuhr im Osten bis nach Asien. Von ihnen leitet sich der heutige Name Russland ab.

    Leif Eriksson entdeckte Amerika – und das 500 Jahre vor Christoph Columbus!

    Auch im deutschen Raum hielten sie sich auf und gründeten Haithabu im heutigen Schleswig-Holstein – eine Handelsstadt mit Kontakten bis in den arabischen Raum. Bei Ausgrabungen fand man Verkaufstheken von bis zu 40 Metern Länge. Die Exportmärkte lagen für mittelalterliche Vorstellungen auf der ganzen Welt: in London, Nowgorod, Bagdad, Kiew und Byzanz. In Haithabu gab es Rheinwein und Chinaseide, Friesentuch und arabische Münzen – ebenso wie Sklaven, deren Wert pro Kopf dem eines Pferdes entsprach.

    Man verkaufte sie als Bedienstete für Jarls oder Ruderer für Langschiffe. 1050 verschwand Haithabu vom Erdboden, als der Norwegerkönig Harald Hadrada im Streit mit den Dänen die von diesen besetzte Stadt niederbrannte. Die überlebenden Einwohner ließen sich nördlich der Schlei im heutigen Schleswig nieder. Andere wichen nach Island aus. Dort durfte ein freier Mann so viel Land nehmen, wie er zu Fuß an einem Tag umrunden konnte. Auf diese Weise wurde in wenigen Jahrzehnten die ganze Insel von dem Nachbarvolk besiedelt.

    Leif, der Glückliche

    Anlandung Leif Erikssons an der nordamerikanischen Küste. Illustration eines Buches über die Geschichte der USA aus dem Jahr 1919. Foto: Henrietta Elizabeth Marshall, CC0, Wikimedia Commons

    970 wurde auf Island ein Mann geboren, der nicht nur die Geschichte der Wikinger, sondern die der gesamten Menschheit entscheidend prägen sollte: Leif Eriksson, genannt Leif der Glückliche, Sohn Eriks des Roten.

    Von ihm ist in den isländischen Sagen ein Zitat überliefert, das mit dem Vorurteil der angeblich blutrünstigen Heiden ordentlich aufräumt: «Ich lernte die Bräuche meines Volkes. Ich lernte Tugenden wie Weisheit, Mut und Gerechtigkeit zu achten und Krieger, Dichter und Künstler zu ehren. Die Kunst durchzieht unser ganzes Leben, sie bereichert alles, von den gewöhnlichen Dingen bis zu den Gütern, die wir am meisten schätzen. Meine Familie und mein Clan erfüllen mich seit jeher mit Stolz. Wie jeder Wikinger wollte ich in vielen Dingen perfekt sein: in Kriegskunst, Landwirtschaft, Schiffsbau und Seefahrt. Und wie jeder Wikinger wollte ich das höchste Gut erlangen: einen guten Ruf, denn der macht die, die ihn gewinnen, unsterblich. Ich hoffte, dass unsere Dichter, die Skalden, unsere Geschichte von Generation zu Generation weitergeben.»

    Hier wird klar: Die Wikinger legten genauso viel Wert auf das Erzählen von Geschichten und Vortragen von Gedichten wie auf die Kriegskunst. Und obwohl sie wie alle Germanen die Runenschrift kannten, gaben sie ihre Traditionen zunächst nur mündlich weiter – in den sogenannten Sagas («das, was erzählt wurde»). Die Texte enthalten ebenso historische Begebenheiten wie Mythen und Legenden. Die vielen tausend handgeschriebenen Seiten der alten Manuskripte sind das wichtigste Erbe der Wikinger – denn zum Glück begannen sie nach Erikssons Tod im Jahre 1020, ihre gesprochenen Überlieferungen aufzuschreiben.

    Die Eroberung Englands

    Im Jahre 1066 stießen die Normannen von Nordfrankreich aus mit ihren Schiffen über den Ärmelkanal zur englische Küste vor. Ihr Anführer war Wilhelm, Sohn eines französisch-normannischen Herzogs mit dem bezeichnenden Namen «Robert der Teufel». Er behauptete, anlässlich eines England-Besuchs 1051 habe ihm der kinderlose König Edward die Thronfolge auf der Insel versprochen. Durch intensive Lobbyarbeit bewog er sogar Papst Alexander II., seinen künftigen Feldzug abzusegnen.

    Bei Hastings trafen die Heere aufeinander. «Die Schlacht wurde nicht allein durch Wilhelms persönliche Tapferkeit gewonnen. Große Erfahrung war erforderlich, um die aufeinanderfolgenden Angriffswellen zu koordinieren und die Angelsachsen schließlich mit einem vorgetäuschten Rückzugsmanöver in die Falle zu locken», resümiert der britische Militärhistoriker Jeremy Black.

    Die Sagas berichten unter anderem von Erikssons Entdeckerfahrten. Er hat nämlich nicht nur Grönland entdeckt – das er «Grünland» nannte, da es zu seiner Zeit noch keine Eiswüste war –, sondern auch die Neue Welt, das heutige Amerika. Und das 500 Jahre vor Christoph Columbus!

    Die geografische Zuordnung der einzelnen Gebiete, die der Entdecker als Kind seiner Zeit Helluland (Klippenland), Markland (Waldland) und Vinland (Weinland) nannte, ist zwar in der Wissenschaft umstritten, aber die Anwesenheit der Wikinger im heutigen Neufundland ist durch archäologische Grabungen belegt: Man fand dort etwa die Reste einer Wikingersiedlung, die 1978 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurden.

    In den Sagas gibt es eine schöne Episode zur Namensgebung Vinland: In der Crew befand sich ein deutscher Germane namens Tyrkir. Er hatte schon Erik dem Roten gedient und den jungen Leif unterwiesen. Er war kleiner als die nordischen Hünen und hatte Sommersprossen. Einmal wurde er nach dem Landgang vermisst, und Eriksson machte sich mit zwölf Mann auf die Suche. Als sie ihn fanden, wankte und torkelte Tyrkir und wirkte betrunken. Auf Nachfrage sagte er lallend – und auf Deutsch: «Ich habe Weinstöcke gefunden!». Dann wiederholte er dasselbe auf Norwegisch.

    «Wikinger – das ist eigentlich eine Tätigkeitsbeschreibung und kein ethnisches Kennzeichen.» Historiker Gareth Williams

    Der Entdeckerfahrt Leifs des Glücklichen im Sommer 995 folgten noch vier weitere: die seiner beiden Brüder Thorvald und Thorstein, die seiner Schwester Freydis und vor allem die des Isländers Thorfinn Karlsefni, der eine Siedlung in Vinland aufbaute. Aber den Wikingern erging es ganz ähnlich wie den späteren Siedlern aus Europa: Es kam zu Zusammenstößen mit den amerikanischen Ureinwohnern, den Indianern.

    Die Volksabschaffer

    Wie konnte ein kulturell so hochstehendes Volk schließlich untergehen? Wie in der heutigen Zeit begann der Niedergang durch Vermischung. Der französische König, der ewigen Überfälle durch die Wikinger müde, die schließlich sogar Paris belagert hatten, bot ihnen 911 das Gebiet der heutigen Normandie als Lehen an – der Name Normandie kommt von Normannen (Nordmänner).

    Seine Bedingung war, dass sie zum Christentum übertraten. Ihr damaliger Anführer Rollo nahm an und wurde Herzog. Bereits sein Enkel musste zum Erlernen der Wikinger-Traditionen nach Bayeux geschickt werden, wo sich die skandinavische Lebensweise am längsten hielt. Die Wikinger übernahmen nach und nach die Gepflogenheiten der Einheimischen und gingen im Volk der Franken auf. Ihre assimilierten Nachfahren eroberten 150 Jahre später England (siehe Infobox oben).

    Eine holde Schildmaid aus der kanadisch-irischen Serie «Vikings», die die Seefahrer des Nordens heute wieder populär gemacht hat. Foto: History Channel

    Gareth Williams, Kurator im Britischen Museum London, bestritt anlässlich der Wikinger-Ausstellung im Jahr 2014, dass es dieses Volk überhaupt gegeben habe: «Wikinger – das ist eigentlich eine Tätigkeitsbeschreibung und kein ethnisches Kennzeichen. Der Ausdruck heißt wörtlich Pirat oder Brandschatzer, und er wurde benutzt für alle Skandinavier.

    Das schafft mitunter den falschen Eindruck, dass es ein einzelnes Volk mit dem Namen Wikinger gegeben habe.» (Deutschlandfunk Kultur, 6. März 2014). Diese Aussage ist schlichtweg falsch und folgt der allgemeinen Tendenz, den Volksbegriff aufzulösen und ethnische Wurzeln zu kappen. Der Name Wikinger leitet sich ab von dem norwegischen Wort «vik», «kleine Bucht», und bezeichnete die Siedlungsplätze dieses nordgermanischen Volkes.

    Unsere Ahnen, unsere Helden, unser Stolz: In COMPACT-Geschichte «Die Germanen» zeichnen wir die Geschichte unserer Vorfahren nach – von den Kimbern und Teutonen über den Freiheitskampf des Arminius und die Völkerwanderung bis zu Sachsenkriegen und Wikingern. So glanzvoll und wahrhaftig wurden unsere Ahnen noch nie dargestellt. Hier bestellen.

     

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